Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 990/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   

9C_990/2012

Urteil vom 10. Juni 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Borella,
Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

D.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kreso Glavas, Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 8. November 2012.

Sachverhalt:

A.

A.a. D.________ (geboren 1957), gelernter Schlosser, erwarb im Jahre 1999 das
Wirtepatent und führte bis zu einem Auffahrunfall im 2003 selbstständig
erwerbend ein Restaurant. Am 3. August 2004 meldete er sich unter Hinweis auf
die Folgen des bei der Kollision erlittenen Schleudertraumas der
Halswirbelsäule (HWS) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons St. Gallen holte diverse Arztberichte ein und gab bei der
ärztlichen Abklärungsstelle X.________ ein polydisziplinäres Gutachten in
Auftrag, welches am 24. Januar 2007 erstellt wurde. Daraus ging hervor, dass
beim Versicherten seit spätestens Februar 2005 polydisziplinär eine
Arbeitsunfähigkeit von rund 50% bestanden habe. Mit Verfügungen vom 29. und 30.
November 2007 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf berufliche Massnahmen
sowie eine Rente und lehnte das Leistungsbegehren des Versicherten ab. Die
hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 17. August 2009 gut, hob die Verfügungen vom 29. und
30. November 2007 auf und wies die Sache zur ergänzenden Abklärung an die
IV-Stelle zurück. Das Gericht ging gestützt auf das Gutachten der ärztlichen
Abklärungsstelle X.________ von einer Arbeitsfähigkeit von 50% aus und
errechnete mittels der Durchschnittslöhne gemäss der Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung 2006 des Bundesamtes für Statistik (LSE) einen
Invaliditätsgrad von 54% bzw. 55%. Gegen diesen Entscheid erhob die IV-Stelle
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Mit
Urteil vom 30. Oktober 2009 (9C_703/2009) trat das Bundesgericht auf die
Beschwerde nicht ein.

A.b. Nach weiteren Abklärungen hielt der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) in
seiner Stellungnahme vom 8. Juni 2010 fest, dass aus medizinischer Sicht nach
wie vor eine Arbeitsunfähigkeit von 50% adaptiert bestehe. Mit Verfügung vom
28. September 2010 lehnte die IV-Stelle das Rentengesuch erneut ab. Gemäss
Urteil 9C_703/2009 des Bundesgerichts vom 30. Oktober 2009 sei die IV-Stelle
nicht an die Erwägungen des kantonalen Entscheids vom 17. August 2009 gebunden.
Aus rechtlichen Gründen gehe sie bei D.________ von einer vollen
Arbeitsfähigkeit für behinderungsangepasste Tätigkeiten aus.

B.
Hiegegen erhob D.________ Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen. Dieses hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 8. November 2012 gut, hob
die Verfügung vom 28. September 2010 auf und sprach dem Versicherten mit
Wirkung ab 1. August 2004 eine halbe Invalidenrente zu.

C.
Die IV-Stelle beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten die Aufhebung des kantonalen Entscheids; zudem sei ihrer
Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Während D.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, verzichtet
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet
das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Immerhin prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42
Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die
rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1
S. 254; Urteil 8C_784/2008 vom 11. September 2009 E. 1.1 mit Hinweisen, nicht
publ. in: BGE 135 V 412, aber in: SVR 2010 UV Nr. 2 S. 7). Es legt seinem
Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105
Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG) und wenn
die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG).

1.1. Im Rahmen der Invaliditätsbemessung - insbesondere bei der Ermittlung von
Gesundheitsschaden, Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeitsprofil - sind zwecks
Abgrenzung der (für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlichen)
Tatsachenfeststellungen vom (letztinstanzlich frei überprüfbaren)
Rechtsanwendungsakt der Vorinstanz weiterhin die kognitionsrechtlichen
Grundsätze heranzuziehen, wie sie in BGE 132 V 393 E. 3 S. 397 ff. für die ab
1. Juli bis 31. Dezember 2006 gültig gewesene Fassung von Art. 132 des
aufgehobenen OG entwickelt wurden (vgl. Urteil 8C_652/2008 vom 8. Mai 2009 E.
4, nicht publ. in: BGE 135 V 297).

1.2. Ob eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder ein vergleichbarer
pathogenetisch (ätiologisch) unklarer syndromaler Zustandvorliegt und
bejahendenfalls, ob eine psychische Komorbidität oder weitere
Morbiditätskriterien gegeben sind, welche die Schmerzbewältigung behindern
(vgl. dazu im Einzelnen BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 50 mit Hinweisen; 130 V 352 und
396), betrifft eine vom Bundesgericht nur eingeschränkt überprüfbare
Tatsachenfeststellung. Soweit die Beurteilung der Zumutbarkeit von
Arbeitsleistungen auf die allgemeine Lebenserfahrung gestützt wird, geht es um
eine frei überprüfbare Rechtsfrage; dazu gehören auch Folgerungen, die sich auf
die medizinische Empirie stützen, z.B. die Vermutung, dass eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung oder ein sonstiger vergleichbarer pathogenetisch
unklarer syndromaler Zustand mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar ist
(BGE 132 V 70 f. E. 4.2.1; BGE 131 V 50 E.1.2; BGE 130 V 354 und 396).
Rechtsfrage ist auch, ob ein ärztlicherseits diagnostiziertes Leiden den
Rechtsbegriff der invalidisierenden Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG
erfüllt (Urteile 9C_308/2010 vom 30. November 2010 E. 4.1 und 8C_513/2009 vom
2. September 2009 E. 4.3). Dabei schliesst die Prüfung die Frage ein, inwiefern
die ärztliche Einschätzung der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit
invaliditätsfremde Gesichtspunkte (insbesondere psychosoziale und
soziokulturelle Belastungsfaktoren) mitberücksichtigt (BGE 130 V 352 E. 2.2.5;
Urteile 8C_144/2010 vom 4. August 2010 E. 3.2 und 9C_511/2009 vom 30. November
2009 E. 4.3.1). Rechtsverletzungen sind die unvollständige (gerichtliche)
Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen sowie die Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift (Art. 43
Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG; BGE 130 V 64 E. 5.2.5 S. 68 f.). Die konkrete
Beweiswürdigung betrifft Tatfragen (Urteil 8C_763/2008 vom 19. Juni 2009 E. 1,
nicht publ. in: BGE 135 V 306, aber in: SVR 2009 IV Nr. 52 S. 161; Urteile
8C_945/2009 vom 23. September 2010 E. 1.2 und 8C_908/2009 vom 17. Dezember 2009
E. 1.2).

2.
Die Vorinstanz hat den Invaliditätsgrad nach der Einkommensvergleichsmethode
gemäss Art. 16 ATSG bemessen. Dabei ist sie - unter Hinweis auf ihren früheren
Entscheid vom 17. August 2009 und demnach gestützt auf das Gutachten der
ärztlichen Abklärungsstelle X.________ vom 24. Januar 2007 (insbesondere die
rheumatologische Untersuchung und Beurteilung durch Dr. med. B.________,
Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie FMH, vom 10. Februar 2005) - bei
der Ermittlung des Invalideneinkommens von einer Verminderung der
Arbeitsfähigkeit um 50% ausgegangen. Die Beschwerdeführerin hatte in ihrer
Verfügung vom 28. September 2010 hingegen ein uneingeschränktes erwerbliches
Leistungsvermögen angenommen.

3.
Die IV-Stelle bringt vor, das kantonale Gericht habe übersehen, dass beim
Versicherten mangels relevanter organischer Befunde in somatischer Hinsicht
eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bei auf Schmerzen beruhender Diagnose
(chronisches rechtsbetontes zervikozephales Schmerzsyndrom) in einer
Verweisungstätigkeit nicht dargetan sei; damit habe es laut Beschwerde den
rechtserheblichen Sachverhalt unvollständig erhoben oder qualifiziert unrichtig
gewürdigt. Das Versicherungsgericht habe bundesrechtswidrig darauf verzichtet,
gemäss BGE 136 V 279 die Frage nach der invalidisierenden Wirkung (Art. 4
i.V.m. Art. 8 ATSG) der diagnostisch im Vordergrund stehenden Verletzung der
HWS (Schleudertrauma) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle zu prüfen.
Was die im Gutachten der ärztlichen Abklärungsstelle X.________aus
psychiatrischer Sicht festgestellte Arbeitsunfähigkeit von 35% anbelangt, so
habe sich die Vorinstanz nicht zur Rechtsfrage geäussert, ob die von Dr. med.
S.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH am 30. November
2006 gestellte Diagnose "depressive Störung verbunden mit einem chronischen
Schmerzsyndrom nach einem Unfall mit HWS-Distorsionstrauma" eine erhebliche
psychische Komorbidität, d.h. einen vom psychogenen Schmerzsyndrom losgelösten
invaliditätsrechtlich relevanten psychischen Gesundheitsschaden darstellt. Die
IV-Stelle vertritt den Standpunkt, dass in casu nicht von einem
invalidisierenden psychischen Gesundheitsschaden gesprochen werden könne.

4.
Nach der Rechtsprechung, auf welche die Verwaltung zur Begründung ihrer
rentenverweigernden Verfügung vom 28. September 2010 verwiesen hatte, begründet
eine fachärztlich (psychiatrisch) diagnostizierte anhaltende somatoforme
Schmerzstörung als solche noch keine Invalidität. Vielmehr besteht eine
Vermutung, dass die somatoforme Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer
zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die
Schmerzbewältigung intensiv und konstant behindern, können den Wiedereinstieg
in den Arbeitsprozess unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann
nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt.
Ein nicht zumutbarer beruflichen Wiedereinstieg fällt nur in Betracht, wenn die
festgestellte somatoforme Schmerzstörung nach Einschätzung des Arztes eine
derartige Schwere aufweist, dass für die versicherte Person die Verwertung
ihrer verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bei objektiver
Betrachtung - und unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit,
die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind (vgl. AHI 2002 S. 150 E.
2b; Urteile A. vom 24. Mai 2002 [I 518/01] E. 3b/bb und R. vom 2. Dezember 2002
[I 53/02] E. 2.2), - sozial-praktisch nicht mehr hinnehmbar oder dies für die
Gesellschaft gar untragbar ist (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 E. 2b mit
Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 E. 4c in fine; hinsichtlich somatoformer
Störungen siehe insb. Urteile des Eidgenössischen Versicherungsgerichts R. vom
2. Dezember 2002 [I 53/02], E. 2.2, Y. vom 5. Juni 2001 [I 266/00] E. 1c, S.
vom 2. März 2001 [I 650/99] E. 2c und B. vom 8. Februar 2001 [I 529/00], E. 3c
sowie A. vom 19. Oktober 2000 [I 410/00], E. 2b).
Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand
verschiedener Kriterien. Im Vordergrund steht die Feststellung einer
mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere,
Intensität, Ausprägung und Dauer. Massgebend sein können auch weitere Faktoren,
so: chronische körperliche Begleiterkrankungen; ein mehrjähriger,
chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder progredienter
Symptomatik ohne längerdauernde Rückbildung; ein sozialer Rückzug in allen
Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr beeinflussbarer
innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden
Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn; "Flucht in die Krankheit"); das
Scheitern einer konsequent durchgeführten ambulanten oder stationären
Behandlung (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) trotz
kooperativer Haltung der versicherten Person. Je mehr dieser Kriterien
zutreffen und je ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto
eher sind - ausnahmsweise - die Voraussetzungen für eine zumutbare
Willensanstrengung zu verneinen (BGE 137 V 64 E. 4.1 S. 67 f. mit Hinweisen).
Diese im Bereich der somatoformen Schmerzstörungen entwickelten Grundsätze
werden rechtsprechungsgemäss (BGE 136 V 279) auch für die Klärung der Frage
angewendet, ob eine spezifische und unfalladäquate HWS-Verletzung
(Schleudertrauma) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle invalidisierend
wirkt (BGE 136 V 279).

5.
Der Beschwerdeführerin ist beizupflichten, dass die Vorinstanz in Bezug auf den
Grad der Arbeitsunfähigkeit aus somatischen Gründen keine für das Bundesgericht
verbindlichen Feststellungen (E. 1 hievor) getroffen hat, sodass das
Bundesgericht den unvollständig festgestellten Sachverhalt in diesem Punkt
ergänzt (Art. 105 Abs. 2 BGG).

5.1. Laut konsiliarischem Untersuchungsbericht des Dr. med. B.________ vom 10.
Februar 2005 zuhanden des Hausarztes Dr. med. H.________ lässt sich eine
quantitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit infolge eines körperlichen
Leidens in der Tat nicht begründen. Die bei der klinischen Untersuchung und
anhand der konventionellen Röntgenaufnahmen objektivierbaren Befunde waren
grösstenteils unauffällig und wenig ausgeprägt. Weder sind schwere degenerative
Änderungen ausgewiesen, noch liegen Instabilitäten oder eine ausgeprägte
Fehlstatik vor. Die Expertise der ärztlichen Abklärungsstelle X.________,
namentlich das Orthopädische Konsiliargutachten vom 22. November 2006 / 24.
Januar 2007 des Dr. med. A.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie FMH,
erwähnt ebenfalls keine beträchtlichen organischen Befunde, die eine erhebliche
Einschränkung erklären würden.

5.2.

5.2.1. Die ärztlichen Stellungnahmen zum psychischen Gesundheitszustand und zu
dem aus medizinischer Sicht (objektiv) vorhandenen Leistungspotenzial bilden
unabdingbare Grundlage für die Beurteilung der Rechtsfrage, ob und
gegebenenfalls inwieweit einer versicherten Person unter Aufbringung allen
guten Willens die Überwindung ihrer Schmerzen und die Verwertung ihrer
verbleibenden Arbeitskraft zumutbar ist (vgl. E. 1.2 hievor). Die Verwaltung -
und im Streitfall das Gericht - darf sich dabei weder über die (den
beweisrechtlichen Anforderungen genügenden) medizinischen
Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen
und Schlussfolgerungen zur (Rest-) Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten
sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen.
Letzteres gilt namentlich dann, wenn die begutachtende Fachperson allein
aufgrund der Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung eine
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert. Die rechtsanwendenden Behörden
haben diesfalls mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob die ärztliche
Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auch invaliditätsfremde Gesichtspunkte
(insbesondere psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren) mit
berücksichtigt, welche vom sozialversicherungsrechtlichen Standpunkt aus
unbeachtlich sind (vgl. BGE 127 V 294 E. 5a S. 299; AHI 2000 S. 153 E. 3), und
ob die von den Ärzten anerkannte (Teil-) Arbeitsunfähigkeit auch im Lichte der
für eine Unüberwindbarkeit der Schmerzsymptomatik massgebenden rechtlichen
Kriterien (E. 4 hievor) standhält.

5.2.2. Aus psychiatrischer Sicht wurde im Teilgutachten der ärztlichen
Abklärungsstelle X.________ vom 30. November 2006 eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung diagnostiziert. Obwohl die von Dr. med. S.________ attestierte
Arbeitsunfähigkeit von 35% im Wesentlichen der diagnostizierten somatoformen
Schmerzstörung zuzuschreiben ist, hat das kantonale Gericht die entsprechende
Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352, wonach eine diagnostizierte anhaltende
somatoforme Schmerzstörung allein in der Regel keine lang dauernde, zu einer
Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu bewirken vermag
(vgl. E. 4 hievor), entgegen BGE 136 V 279 nicht sinngemäss angewendet. Ebenso
wenig hat es die im erwähnten Urteil umschriebenen Voraussetzungen, unter
welchen ein Abweichen von diesem Grundsatz ausnahmsweise in Betracht fällt,
richtig auf den vorliegenden Fall umgesetzt.

5.2.3. Aus der Darlegung des Befundes und dessen Beurteilung im psychiatrischen
Teilgutachten der ärztlichen Abklärungsstelle X.________ vom 30. November 2006
geht hervor, dass die depressive Symptomatik in einem engen Zusammenhang mit
der Schmerzproblematik steht. Dies spricht gegen das Vorliegen einer
eigenständigen psychischen Komorbidität. Die Frage kann hier jedoch offen
bleiben, da es aufgrund der Feststellungen im psychiatrischen Teilgutachten an
der notwendigen Schwere, Intensität und Ausprägung der diagnostizierten
depressiven Störung ( BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354) fehlt. Die IV-Stelle
bringt richtig vor, dass keine hinreichend ausgeprägte Psychopathologie
vorliegt, spricht doch das Fehlen einer antidepressiven Medikation gegen eine
intensive Depression (Urteil 9C_936/2011 vom 21. März 2012 E. 4.2.1). Leichte
bis mittelschwere psychische Störungen depressiver Natur sind im Prinzip
therapeutisch angehbar (Urteil 9C_736/2011 vom 7. Februar 2012 E. 4.2.2.1 mit
Hinweisen). Der Versicherte hat sich laut den Angaben im Gutachten der
ärztlichen Abklärungsstelle X.________ lediglich während rund dreier Monate in
psychiatrischer Therapie befunden. Von einer konsequent durchgeführten
psychotherapeutischen Behandlung kann daher keine Rede sein, weshalb die
therapeutischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft sind. Die vorliegenden
Depressionen sowie die Lust- und Freudlosigkeit, verbunden mit pessimistischen
Gedanken, sind gemäss den Feststellungen des Dr. med. S.________ im
psychiatrischen Teilgutachten vorwiegend von Problemen finanzieller Natur,
Arbeitslosigkeit und familiären Belastungssituationen (Krankheit der Ehefrau)
mitbestimmt und aufrechterhalten. Dabei handelt es sich um ausgeprägte
psychosoziale Faktoren, die nach BGE 127 V 294 E. 4 S. 299 nicht im Rahmen von
Art. 4 Abs. 1 IVG als zu Erwerbsunfähigkeit führende
Gesundheitsbeeinträchtigungen versichert sind. Wird das Beschwerdebild, wie
hier, augenfällig durch solche psychosoziale Umstände bestimmt und unterhalten,
kann nicht von einem invalidisierenden psychischen Gesundheitsschaden
gesprochen werden. Da auch die übrigen rechtsprechungsgemäss massgeblichen
Kriterien (E. 4 hievor) weder gehäuft noch ausgeprägt erfüllt sind, ist
entsprechend den Vorbringen der Beschwerdeführerin in einer leidensangepassten
Erwerbstätigkeit auch mit Rücksicht auf den psychischen Gesundheitszustand von
voller Arbeitsfähigkeit auszugehen.

5.3. Damit entfällt ein Rentenanspruch des Beschwerdegegners. Der angefochtene
Entscheid verletzt Bundesrecht; die Beschwerde ist begründet.

6.
Die Gerichtskosten sind dem Verfahrensausgang entsprechend dem unterliegenden
Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 8. November 2012 wird aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. Juni 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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