Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 970/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_970/2012

Urteil vom 23. April 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Borella,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

W.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Laube,
Beschwerdegegnerin,

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Ausstand; Sachverständiger),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 26. September 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 11. August 2011 sprach die IV-Stelle des Kantons Zürich
W.________ eine ganze Invalidenrente für die Zeit vom 1. Oktober 2010 bis 30.
Juni 2011 zu. Gleichzeitig wies sie darauf hin, der Anspruch ab 1. Juli 2011
sei Gegenstand weiterer Abklärungen. Mit Schreiben vom 5. April 2012 teilte die
IV-Stelle der Versicherten mit, dass die notwendige polydisziplinäre
medizinische Untersuchung durch das medizinische Zentrum Z.________
durchgeführt werde, und gab die Namen der Experten bekannt. Da sich W.________
damit nicht einverstanden erklärte, insbesondere den Chefarzt der
Gutachtenstelle (Dr. med. E.________) als befangen ablehnte, erliess die
IV-Stelle am 10. Mai 2012 eine Zwischenverfügung, mit welcher sie an der
Begutachtung durch das medizinische Zentrum Z.________ festhielt.

B.
Dagegen liess W.________ Beschwerde erheben, welche das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 26. September
2012 in dem Sinne teilweise guthiess, als es feststellte, dass Dr. med.
E.________ im Hinblick auf die in Aussicht genommene Begutachtung im
medizinischen Zentrum Z.________ als befangen zu gelten habe und ihm die
Mitwirkung an der Begutachtung versagt sei.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), der Entscheid vom 26. September 2012
sei aufzuheben.
W.________ stellt den Antrag, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten,
eventualiter sei sie abzuweisen. Das kantonale Sozialversicherungsgericht
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Der vorinstanzliche Entscheid, soweit angefochten, erklärt den im Rahmen der
polydisziplinären Abklärung für die allgemeinmedizinische und internistische
Begutachtung vorgesehenen Chefarzt des medizinischen Zentrums Z.________, Dr.
med. E.________, als befangen und versagt ihm die Mitwirkung an der Massnahme.
Dabei handelt es sich um einen selbständig eröffneten Zwischenentscheid nach
Art. 92 BGG (BGE 138 V 271 E. 2.2.1 S. 277; SVR 2010 IV Nr. 66 S. 199, 9C_304/
2010 E. 2.1; Urteile 4A_255/2011 vom 4. Juli 2011 E. 1.2 und 8C_214/2010 vom 7.
Juli 2010 E. 1). Die Frage, ob der vorinstanzliche Entscheid bei
Nichtanfechtung einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art.
93 Abs. 1 lit. a BGG) stellt sich somit nicht. Die diesbezüglichen Vorbringen
des Beschwerde führenden Bundesamtes und die Entgegnungen der
Beschwerdegegnerin sind somit nur insoweit von Bedeutung, als sie Bezug haben
zur Ausstandsfrage unter dem Gesichtspunkt der Befangenheit.

2.
Im angefochtenen Entscheid werden die massgeblichen Rechtsgrundlagen zu den
formellen Ausstandsgründen medizinischer Sachverständiger (Art. 36 Abs. 1 ATSG
und Art. 10 VwVG sowie BGE 132 V 93 E. 6.5 und 7.1 S. 108 ff.) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass die Anforderungen an
die Unbefangenheit eines medizinischen Sachverständigen sich aus dem Anspruch
auf ein faires Verfahren gemäss Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
ableiten und sich nicht aus der Garantie eines unabhängigen und unparteiischen
Gerichts nach Art. 30 Abs. 1 BV ergeben (Urteil 6B_299/2007 vom 11. Oktober
2007 E. 5.1.1).

3.
Die Vorinstanz hat Dr. med. E.________ im Hinblick auf die von der IV-Stelle
mit Schreiben vom 5. April 2012 mitgeteilte Begutachtung durch das medizinische
Zentrum Z.________ wegen Anscheins der Befangenheit in den Ausstand geschickt.
Solange das Strafverfahren gegen diesen Arzt nicht rechtskräftig abgeschlossen
sei, stünden die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, wie sie im Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 8. Mai 2012 und in den Medien
thematisiert worden seien, nach wie vor im Raum. Es könne daher bei Dr. med.
E.________ auch zum heutigen Zeitpunkt vorläufig nicht von einer unbedingten
Vertrauenswürdigkeit ausgegangen werden und insofern sei ein triftiger Grund
zur Ablehnung zu bejahen. In der Begründung ist die Vorinstanz derjenigen des
Luzerner Verwaltungsgerichts, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, im
Entscheid vom 8. Mai 2012 gefolgt, in dem es ebenfalls um ein Ausstandsbegehren
gegen Dr. med. E.________ ging. Das BSV stützt seine Bestreitungen seinerseits
auf den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25.
September 2012, welches in gegenteiligem Sinne entschieden und eine
Befangenheit dieses Arztes aufgrund derselben strafrechtlichen Aktenlage
verneint hat.

4.
4.1 Die Vorinstanz hat die Strafakten nicht beigezogen, sondern die
Befangenheitsrüge einzig aufgrund des von der Beschwerdegegnerin eingereichten
Entscheids des Luzerner Verwaltungsgerichts vom 8. Mai 2012 und mehrerer
Medienberichte betreffend den erstinstanzlichen Freispruch von Dr. med.
E.________ durch das Bezirksgericht Zürich am xxx geprüft. Das erweckt
Bedenken, wenn strafrechtliche Vorwürfe bzw. der Sachverhalt, worauf diese
gründen, Beurteilungsgrundlage sein sollen. Von einem Beizug der Strafakten
kann indessen abgesehen werden.
Gemäss dem Entscheid des Luzerner Verwaltungsgerichts vom 8. Mai 2012 war Dr.
med. E.________ wegen Urkundenfälschung (Art. 251 StGB) im Zusammenhang mit
einer 2007 erfolgten Begutachtung angeklagt worden. Es sei ihm vorgeworfen
worden, er habe im Hauptgutachten unter "Zusammenfassung und Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit" festgehalten, die Schlussfolgerungen seien gemeinsam mit den
beteiligten Spezialärzten erarbeitet worden. Diese hätten sich ausdrücklich
damit einverstanden erklärt. Danach sei Frau X. unter Berücksichtigung aller
Gegebenheiten und Befunde weder aus internistischer, neurologischer noch
psychischer Sicht in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt. Damit habe der
Beschuldigte wissentlich und willentlich festgehalten, dass eine Einigung
zwischen ihm und dem neurologischen Subgutachter über die Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit zustande gekommen sei, was nicht der Wahrheit entsprochen
habe. Dadurch habe er zumindest den Auftrag gebenden Unfallversicherer über
dessen tatsächlich erhobene ("wahren") Befunde und sein Schlussfazit betreffend
Arbeitsfähigkeit der untersuchten Person getäuscht oder dies mit seinem
Vorgehen jedenfalls billigend in Kauf genommen. Das Bezirksgericht sprach Dr.
med. E.________ nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" von Schuld und Strafe
frei, auferlegte ihm indessen wegen Verletzung der gutachterlichen
Sorgfaltspflicht die Verfahrenskosten. E. 3.3.2 des Entscheids des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. September 2012 zufolge sah das
erstinstanzliche Strafgericht die ärztliche Sorgfaltspflicht insofern als
verletzt an, als Dr. med. E.________ trotz der Unklarheiten und teilweisen
Widersprüche im neurologischen Teilgutachten eine Gesamtbeurteilung vornahm,
ohne beim betreffenden Experten nachzufragen.

4.2 Die Beschwerdegegnerin weist in ihrer Vernehmlassung darauf hin, dass Dr.
med. E.________ in zweiter Instanz vom Vorwurf der Falschbeurkundung
freigesprochen worden ist. Gemäss Tages-Anzeiger vom yyy hat der vorsitzende
Richter in der mündlichen Urteilsbegründung an der Verhandlung vom Vortag u.a.
ausgeführt, der Angeklagte habe wahrheitswidrig behauptet, alle Teilgutachter
hätten sich «ausdrücklich» mit den Schlussfolgerungen einverstanden erklärt.
Diese Unwahrheit sei aber rechtlich nicht erheblich. Ausschlaggebend für das
Ergebnis des Hauptgutachtens sei, dass der Neurologe selber eingeräumt habe, es
seien «keine pathologischen Befunde vorhanden, welche die Beschwerden der
Versicherten und die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit erklären könnten».
Deshalb sei auch «keine Konsenskonferenz mit dem Neurologen nötig gewesen».
Dazu komme, dass der Neurologe die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit
ausdrücklich dem Angeklagten überlassen habe. Tatsächlich habe der Facharzt in
seinem Teilgutachten geschrieben: «Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit hat im
Gesamtzusammenhang zu geschehen und wird vom Hauptgutachter bestimmt.»
Der zweitinstanzliche Freispruch erfolgte nach Erlass des angefochtenen
Entscheids und hat somit, da nicht von diesem veranlasst, unbeachtet zu bleiben
(vgl. Art. 99 Abs. 1 und Art. 123 Abs. 2 lit. a in fine BGG; Urteile 9C_506/
2012 vom 27. September 2012 E. 1 und 9C_334/2010 vom 23. November 2010 E. 2.1,
nicht publ. in: BGE 137 V 395, aber in: SVR 2011 IV Nr. 5 S. 20).
4.3
4.3.1 Das Luzerner Verwaltungsgericht begründete in seinem Entscheid vom 8. Mai
2012 den Anschein der Befangenheit damit, die Möglichkeit, dass Dr. med.
E.________ die Darstellung eines Subgutachters in einem wesentlichen Punkt
verfälscht und sich auf diese Weise, mithin in Ausübung seiner gutachterlichen
Tätigkeit strafbar gemacht haben könnte, bestehe nach wie vor. Dabei beziehe
sich der anklageweise erhobene Vorwurf auf seine Tätigkeit als Hauptgutachter,
dem die interdisziplinäre Gesamtschau obliege, welcher im Rahmen der
leistungsspezifischen Beurteilung ganz besonderes Gewicht zukomme. Kaum ein
Versicherter würde sich unter solchen Umständen freiwillig durch diesen Arzt
begutachten lassen; und kein Rechtsanwender sollte sich bedenkenlos auf dessen
Einschätzung abstützen, solange die hängigen Vorwürfe nicht abschliessend
geklärt im Raum stünden. Dieses Unbehagen wird nach Auffassung der Vorinstanz
im vorliegenden Fall durch den Umstand genährt, dass das Bezirksgericht eine
Verletzung der Sorgfaltspflicht festgestellt und Dr. med. E.________ deswegen
trotz des Freispruchs die Kosten überbunden habe.
4.3.2 Vorweg kann es nicht auf das subjektive Empfinden der Person ankommen,
die Befangenheit des oder der Sachverständigen behauptet (BGE 132 V 93 E. 7.1
S. 109 f.; Urteil 8C_781/2010 vom 15. März 2011 E. 3; vgl. auch BGE 137 II 431
E. 5.2 S. 453). Ebenso wenig kann der Ausgang des Strafverfahrens für die Frage
der Voreingenommenheit von Bedeutung sein. Ausstandsrechtlich für die
Beurteilung der Sache entscheidend ist hingegen das Folgende: Das Dr. med.
E.________ strafrechtlich zur Last gelegte Verhalten betrifft eine
Begutachtung, die 2007 stattgefunden hatte, somit fast fünf Jahre zurückliegt
und überdies eine andere versicherte Person betraf. Vorliegend ist der
Beschwerdegegnerin die Notwendigkeit einer Begutachtung mit Schreiben vom 5.
April 2012 mitgeteilt worden. Selbst wenn Dr. med. E.________ einmal Jahre
zuvor, entgegen seinen Angaben im Hauptgutachten, seine Gesamtbeurteilung ohne
vorherige Rücksprache und ausdrückliches Einverständnis mit einem
Teilgutachter, der keine pathologischen Befunde erhoben hatte, vorgenommen
haben sollte, vermöchte dies nicht rund fünf Jahre später noch objektiv den
Anschein von Befangenheit - im Falle der Beschwerdegegnerin als Experte zu
amten - zu wecken. Für diese Annahme bedarf es vielmehr weiterer, die konkrete
Begutachtung betreffende Umstände. Solche werden indessen im angefochtenen
Entscheid nicht genannt.
Die Beschwerdegegnerin bringt Gründe vor, die ihres Erachtens losgelöst vom
Strafverfahren auf Befangenheit des Dr. med. E.________ schliessen lassen.
Dabei handelt es sich indessen grösstenteils um neue Vorbringen, ohne dass sie
dartut, inwiefern sie erst durch den vorinstanzlichen Entscheid
rechtswesentlich geworden sind (Art. 99 Abs. 1 BGG; SVR 2011 EL Nr. 6 S. 17,
9C_972/2009 E. 4.2; Urteil 5A_79/2008 vom 6. August 2008 E. 2.5). Im Übrigen
weist sie selber richtig darauf hin, dass in diesem Verfahren lediglich
formelle Ausstandsgründe zu prüfen sind (vorne E. 1). Die angeblichen
infrastrukturellen, die Transparenz beeinträchtigenden Mängel des medizinischen
Zentrums Z.________ sowie dass insbesondere unter den gegebenen Umständen (u.a.
zahlreiche offene Betreibungen gegen Dr. med. E.________) nicht von einer
genügend zufälligen Auftragsvergabe gesprochen werden könne (vgl. BGE 138 V 271
E. 1.1 S. 274), haben ausser Acht zu bleiben. Sie können allenfalls als
qualitätsbezogene Rahmenbedingungen der Begutachtung gegen den Beweiswert der
Expertise vorgebracht werden.

4.4 Nach dem Gesagten verletzt der vorinstanzliche Entscheid Bundesrecht. Die
Beschwerde ist begründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 26. September 2012 wird aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle des Kantons Zürich und dem
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. April 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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