Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 958/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 1/2}
9C_958/2012, 9C_959/2012

Urteil vom 20. Dezember 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Verfahrensbeteiligte
Novartis Pharma Schweiz AG,
vertreten durch die Rechtsanwälte PD Dr. Markus Schott und/oder Philippe Fuchs
und/oder Manuel Annasohn,
Beschwerdeführerin,

gegen

Bundesamt für Gesundheit,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Krankenversicherung (aufschiebende Wirkung),

Beschwerden gegen die Verfügungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.
November 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verordnungsänderung vom 1. Juli 2009, in Kraft seit 1. Oktober 2009 (AS
2009 4245), hatte der Bundesrat entschieden, dass das Bundesamt für Gesundheit
(BAG) sämtliche Arzneimittel, die in der Spezialitätenliste (SL) aufgeführt
sind, alle drei Jahre darauf hin überprüft, ob sie die Aufnahmebedingungen noch
erfüllen (Art. 65d Abs. 1 der Verordnung über die Krankenversicherung [KVV]).
Gestützt auf diese Bestimmung leitete das BAG mit Schreiben vom 26. März 2012
an alle betroffenen Pharmaunternehmen die dreijährliche Überprüfung der
Aufnahmebedingungen im Jahr 2012 ein. In Anwendung des durch
Verordnungsänderung vom 21. März 2012 in Art. 65d aufgenommenen, am 1. Mai 2012
in Kraft getretenen Abs. 1bis (AS 2012 1767) beurteilte das BAG die
Wirtschaftlichkeit in der Folge ausschliesslich auf der Grundlage eines
Vergleiches mit der Preisgestaltung im Ausland (APV); ein Therapeutischer
Quervergleich (TQV) wurde nicht durchgeführt. Dieses Prozedere führte das BAG
dazu, mit Verfügungen vom 26. September 2012 folgende Senkungen der SL-Preise
per 1. November 2012 anzuordnen:
- 9C_958/2012 D.: -20,8 %;
- 9C_959/2012 E.: -15,5 %;
Wie schon im Rundschreiben vom 26. März 2012 angekündigt (Ziff. 15), entzog das
BAG mit im Wesentlichen gleich lautender Begründung (Ziff. 1.9) einer
allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung (Verfügungen vom 26. September
2012).

B.
Die Novartis Pharma Schweiz AG wandte sich je beschwerdeweise hiegegen an das
Bundesverwaltungsgericht, wobei sie in prozessualer Hinsicht die
Wiederherstellung der entzogenen aufschiebenden Wirkung beantragte. Mit
Zwischenverfügungen vom 16. November 2012 wies das Bundesverwaltungsgericht den
Antrag um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde ab.

C.
Die Novartis Pharma Schweiz AG lässt mit separaten, jeweils gleichlautenden
Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, die beiden
vorinstanzlichen Zwischenverfügungen seien aufzuheben und es sei in den
entsprechenden Hauptverfahren die aufschiebende Wirkung der Beschwerde wieder
herzustellen.
Das BAG schliesst auf Abweisung der Beschwerde.

D.
Mit Verfügungen vom 22. November 2012 hat der Instruktionsrichter dem BAG die
Vollstreckung der Verfügung vom 26. September 2012 vorläufig untersagt.

Erwägungen:

1.
1.1 Die angefochtenen Verfügungen sind Zwischenverfügungen (Art. 93 BGG) auf
dem Gebiet vorsorglicher Massnahmen (Art. 98 BGG).
Der nicht wieder gutzumachende Nachteil (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) ist ohne
weiteres zu bejahen. Denn weder das Bundesverwaltungsgericht noch der
Beschwerdegegner stellen - zu Recht - in Abrede, dass die Beschwerdeführerin
Einnahmenausfälle erleidet, wenn sie mit Wirkung ab 1. November 2012 und
während der gesamten Dauer des Hauptverfahrens verpflichtet wird, die zwei
Medikamente zu den verfügten tieferen Preisen zu fakturieren. Darin ist ein
wirtschaftlicher Nachteil zu erblicken, für den die Beschwerdeführerin selbst
bei Obsiegen im Hauptverfahren nicht ohne weiteres entschädigt würde (Urteil K
71/78 vom 4. April 1979 E. 2c mit Hinweis, RSKV 1979 380 S. 203). Da im Weitern
die Rügen einer Verletzung verfassungsmässiger Rechte in den Beschwerden
genügend substanziiert sind (Art. 106 Abs. 2 BGG), ist auf die Beschwerden
einzutreten.

1.2 Die beiden Beschwerden, bei denen es um die gleichen Sach- und Rechtsfragen
geht, sind zu vereinigen und in einem Urteil zu erledigen (Art. 24 BZP in Verb.
mit Art. 71 BGG; vgl. BGE 113 Ia 390 E. 1 S. 394).

2.
Nach dem gemäss Art. 37 VGG im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht
anwendbaren Art. 55 VwVG hat die Beschwerde aufschiebende Wirkung (Abs. 1). Hat
die Verfügung nicht eine Geldleistung zum Gegenstand, so kann die Vorinstanz
darin einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung entziehen; die
selbe Befugnis steht der Beschwerdeinstanz, ihrem Vorsitzenden oder dem
Instruktionsrichter nach Einreichung der Beschwerde zu (Abs. 2).

2.1 Nach ständiger Rechtsprechung hat die Verfügung eine Geldleistung im Sinne
von Art. 55 Abs. 2 VwVG zum Gegenstand, wenn sie den Verfügungsadressaten zu
einer solchen Leistung verpflichtet. Eine Verfügung über eine Geldleistung
liegt dagegen nicht vor, wenn sie die Betroffenen daran hindert, Leistungen zu
erlangen, auf die sie Anspruch erheben. Ein Anwendungsfall von Art. 55 Abs. 2
VwVG ist daher beispielsweise nicht gegeben, wenn eine Behörde Preiserhöhungen
auf Waren oder Dienstleistungen untersagt. Nicht anders verhält es sich, wenn
eine Verfügung in Frage steht, mit welcher Arzneimittel vorbehältlich einer von
der verfügenden Behörde festgesetzten Preissenkung aus der SL gestrichen werden
(erwähntes Urteil K 71/78 E. 2b mit Hinweis). An dieser Rechtsprechung ist
festzuhalten. Doch ist bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass die
Wirkungen einer Verfügung, welche den Leistungserbringer zur Preisreduktion
verpflichtet, den Wirkungen eines Verwaltungsaktes, welcher den Adressaten zur
Zahlung verhält, im wirtschaftlichen Ergebnis sehr nahe kommen.

2.2 Bei der Regelung der aufschiebenden Wirkung in der Verwaltungsrechtspflege
hat der Gesetzgeber zwei einander widerstrebende Interessenlagen zu würdigen:
Einerseits ist dem Bürger, sei es natürliche oder juristische Person, an der
aufschiebenden Wirkung, d.h. daran gelegen, dass eine ihn belastende Verfügung
nicht vollstreckt wird, bevor sie rechtskräftig geworden ist. Dem steht das
Interesse des Gemeinwesens entgegen, dass die als dringlich erachtete
Vollstreckung einer Verfügung während eines Beschwerdeverfahrens nicht
gehindert oder dadurch vereitelt wird, mit andern Worten, dass einer Beschwerde
die aufschiebende Wirkung entzogen werden kann (BGE 110 V 40 E. 5a S. 44 mit
Hinweisen). Im Rahmen des Art. 55 VwVG ist der Entzug des Suspensiveffekts die
Ausnahme. Er muss, resultierend aus einer Interessenabwägung, auf klaren und
überzeugenden Motiven beruhen (Urteil 1C_88/2009 vom 31. August 2009 E. 3.1 mit
Hinweisen).

3.
3.1 Das Bundesverwaltungsgericht hat in den angefochtenen Zwischenverfügungen
für die Bestätigung des verfügten Entzuges der aufschiebenden Wirkung im
Wesentlichen das öffentliche Interesse an der Kosteneindämmung im
Gesundheitswesen bzw. an sofort wirksamen Preissenkungen angeführt. In den vom
22. November 2012 datierenden, eine andere Firma betreffenden
Zwischenverfügungen wird ferner auch das Interesse der versicherten Patienten
(die auf das konkret in Frage stehende Medikament angewiesen sind) an einer
sofortigen Preissenkung erwähnt, wogegen in den im vorliegenden Verfahren
strittigen Verfügungen vom 16. November 2012 von den finanziellen Nachteilen
"für die Versicherten" bloss im Zusammenhang mit der seitens der
Beschwerdeführerin vorgeschlagenen Rückabwicklung durch Überweisung des
Differenzbetrages an die Stiftung Gemeinsame Einrichtung die Rede ist.

3.2 Beide Begründungsstränge sind indessen eindeutig zu wenig konkret und
überzeugend, um den vorzeitigen und definitiven Eingriff in die Rechtsstellung
der Beschwerdeführerin zu rechtfertigen.
3.2.1 Dass ein öffentliches Interesse an möglichst preisgünstigen Medikamenten
besteht, ist unbestritten, begründet als solches aber noch nicht gleichzeitig
ein öffentliches Interesse am sofortigen Vollzug der gesenkten Preise.
Angesichts des im Verhältnis zu den Gesamtkosten kaum quantifizierbaren
Spareffektes, welcher durch eine sofortige Anwendung der ab 1. November 2012
verfügten Preise erzielt werden könnte, fehlt es an der Dringlichkeit, welche
ein Wesenselement des vorläufigen Rechtsschutzes bildet. In diesem Zusammenhang
tragen die angefochtenen Zwischenverfügungen dem Rechtsumstand keine Rechnung,
dass die verfügten Medikamentenpreissenkungen gestützt auf den per 1. Mai 2012
in Kraft gesetzten Art. 65d Abs. 1bis KVV ausschliesslich auf einem Vergleich
mit der Preisgestaltung im Ausland beruhen, unter Ausschluss eines
Therapeutischen Quervergleichs. Dabei macht die Frage nach der
Rechtsbeständigkeit dieser Verordnungsregelung gerade wesentlich das Thema des
Hauptverfahrens aus. Wenn auch diesbezüglich nicht von eindeutigen
Prozessaussichten gesprochen werden kann, so gebietet ein solcher
Systemwechsel, welcher erst noch Gegenstand gerichtlicher Inzidenzkontrolle
bilden wird, Zurückhaltung hinsichtlich dessen sofortigen Vollzuges.

3.2.2 Auf diesem Hintergrund erscheinen die vorinstanzlich angerufenen
öffentlichen Interessen, was die kostenmässigen Auswirkungen einer sofortigen
Durchsetzung der Preissenkung anbelangt, eindeutig zu unbestimmt, um die nicht
wieder gutzumachende Schmälerung der wirtschaftlichen Interessen der
Beschwerdeführerin hinzunehmen. Wie von keiner Seite in Frage gestellt wird,
ist es für die Beschwerdeführerin ausgeschlossen, bei den Käufern bzw.
Kostenträgern die Preisdifferenzen nachzufordern, falls sie im Hauptverfahren
(ganz oder teilweise) obsiegen sollte. In einer solchen Situation die
aufschiebende Wirkung zu verweigern, verletzt das oberste Ziel einer jeglichen
Massnahme des vorläufigen Rechtsschutzes: bedrohte Rechtspositionen bis zum
materiellen Entscheid zu sichern und das Ergebnis des Hauptverfahrens nicht
vorwegzunehmen.
3.2.3 Demgegenüber vereitelt die Gewährung der aufschiebenden Wirkung das mit
den verfügten Preissenkungen verfolgte Ziel keineswegs. Die Beschwerdeführerin
ist gegenüber dem Beschwerdegegner verpflichtet, über die ab 1. November 2012
getätigten Medikamentenverkäufe dokumentiert abzurechnen (vgl. Art. 35b Abs. 4
lit. b KLV). Sollte die am Recht stehende Leistungserbringerin im
Hauptverfahren unterliegen, ist sie in sinngemässer Anwendung von Art. 67 Abs.
2ter KVV zu verpflichten, die seit 1. November 2012 diesfalls zu hohen
Verkaufserlöse im Umfang der Differenz zu den verfügten Preisen an die Stiftung
Gemeinsame Einrichtung (Art. 18 ff. KVG) zu überweisen. Damit kann das
öffentliche Interesse an einem wirtschaftlichen KVG-Vollzug ohne Abstriche
beachtet werden, indem die zu hohen Kostenvergütungen dem globalen
Finanzhaushalt der obligatorischen Krankenpflegeversicherung wieder zufliessen.
Die einzelnen obligatorisch versicherten Personen ihrerseits sind in Anbetracht
der gesetzlichen Regelungen über die Kostenbeteiligung (Art. 64 KVG, Art. 103
ff. KVV) vom Aufschub der verfügten Preissenkungen nur marginal betroffen,
weshalb dieser Aspekt im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht
ausschlaggebend sein kann. Im übrigen lässt sich mit einer beförderlichen
materiellen Beurteilung im Hauptverfahren der Gefahr wirksam begegnen, dass das
dreijährige Überprüfungssystem aus den Angeln gehoben würde.

3.3 Soweit sich Beschwerdegegner und Vorinstanz auf ältere Entscheide des Eidg.
Versicherungsgerichts berufen (in SVR 1997 KV Nr. 93 publizierte E. 4b von BGE
122 V 412 und SVR 2001 KV Nr. 12 E. 2), ist dem entgegen zu halten, dass in den
ersten Jahren nach dem Inkrafttreten des KVG (1. Januar 1996) ganz andere
Verhältnisse bestanden, als sie im Medikamentenbereich heutzutage vorherrschen.
Davon abgesehen hat das Bundesgericht im letzten beurteilten Fall einer
Medikamentenpreissenkung die aufschiebende Wirkung für das letztinstanzliche
Verfahren gewährt (Verfügung vom 6. Februar 2007, erwähnt in SVR 2007 KV Nr.
13).

4.
Bei diesem Verfahrensausgang hat die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 BGG). Gerichtskosten sind bei
diesem Verfahrensausgang nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerden werden gutgeheissen und die angefochtenen Entscheide des
Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2012 aufgehoben. Die beiden
vorinstanzlichen Beschwerden gegen die Verfügungen vom 26. September 2012 haben
aufschiebende Wirkung.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das BAG hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr. 4000.- zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesverwaltungsgericht schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 20. Dezember 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer