Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 955/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_955/2012

Urteil vom 13. Februar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
C.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Affentranger,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
25. September 2012.

Sachverhalt:

A.
C.________ (geboren 1951) ist gelernte Verkäuferin und arbeitete zuletzt
vollzeitlich als kaufmännische Angestellte in der Geschäftsleitung der Firma
ihres Ehemannes (X.________ AG). Ihre damalige Ärztin, Frau Dr. med. K.________
attestierte der Versicherten ab 28. Januar 2008 zunächst volle, später
teilweise Arbeitsunfähigkeit. Im Auftrag der CSS Versicherung
(Krankentaggeldversicherung der X.________ AG) erstellte Dr. med. F.________,
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, ein
versicherungspsychiatrisches Gutachten (vom 26. September 2008). Die Expertise
gelangte zum Ergebnis, dass C.________ zu mindestens 80 % arbeitsfähig sei.
Daraufhin stellte die CSS Versicherung die Auszahlung ihrer Krankentaggelder
ein.
Am 8. Oktober 2008 meldete sich C.________ erstmals bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Im Rahmen der
Sachverhaltsabklärung zog die IV-Stelle des Kantons Aargau die Akten der CSS
Versicherung bei, worunter sich das Gutachten des Dr. med. F.________ vom 26.
September 2008 befand. Mit Verfügung vom 27. Januar 2009 lehnte die IV-Stelle
das Leistungsgesuch unter der Begründung ab, es seien keine gesundheitlichen
Beeinträchtigungen festgestellt worden, welche die Arbeitsfähigkeit dauerhaft
einschränkten.
Am 12. Juli 2010 meldete sich die Versicherte abermals bei der IV-Stelle zum
Rentenbezug an. Gestützt auf die beigezogenen medizinischen Gutachten und
Berichte, worunter sich ein neues versicherungspsychiatrisches
Verlaufsgutachten des Dr. med. F.________ vom 17. Mai 2010 befand, trat die
IV-Stelle auf die Neuanmeldung ein und sprach der Versicherten mit Verfügung
vom 11. April 2011 eine ganze Invalidenrente ab Januar 2011 zu.
Bereits mit Scheiben vom 9. Juli 2010 hatte C.________ bei der IV-Stelle
beantragt, deren Verfügung vom 27. Januar 2009 sei in Revision, eventuell
Wiedererwägung, zu ziehen und es sei ihr rückwirkend ab 1. April 2009 eine
ganze Invalidenrente auszurichten. Zur Begründung verwies sie auf das
Verlaufsgutachten des Dr. med. F.________ vom 17. Mai 2010. Mit Verfügung vom
11. April 2011 wies die IV-Stelle das Gesuch ab.

B.
Die hiegegen von C.________ beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau
eingereichte Beschwerde blieb gemäss Entscheid vom 25. September 2012
erfolglos.

C.
Die Versicherte lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
führen und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie Revision der
Verfügung vom 27. Januar 2009 die Zusprechung einer ganzen Rente rückwirkend ab
1. April 2009, eventualiter die Rückweisung der Sache zur weiteren Abklärung an
die IV-Stelle, beantragen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe in willkürlicher Weise
Bundesrecht verletzt, indem sie den Sachverhalt nicht hinreichend abgeklärt,
die Beweiswürdigung krass fehlerhaft vorgenommen und die Verfügung der
Beschwerdegegnerin trotz neuer Tatsachen und Beweismittel gemäss Art. 53 Abs. 1
ATSG nicht in Revision gezogen habe. Des Weiteren macht sie einen Verstoss
gegen den Untersuchungsgrundsatz und die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61
lit. c ATSG geltend.

2.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist (Art. 97 Abs.
1 BGG) oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht. Bei den
vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit
der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über
eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Die konkrete Beweiswürdigung
stellt ebenfalls eine Tatfrage dar.

Mit Blick auf die so umschriebene Kognition ist aufgrund der Vorbringen in der
Beschwerde zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung
der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen Bundesrecht
verletzt, einschliesslich einer offensichtlich unrichtigen oder sonst wie unter
Verletzung von Bundesrecht erfolgten Tatsachenfeststellung. Dabei ist die
Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art.
61 lit. c ATSG eine Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und E. 4 S. 397 ff.).

3.
3.1 Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen in
Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der
Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder
Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Der Begriff
"neue Tatsachen oder Beweismittel" ist bei der (prozessualen) Revision eines
Verwaltungsentscheides nach Art. 53 Abs. 1 ATSG gleich auszulegen wie bei der
Revision eines kantonalen Gerichtsentscheides gemäss Art. 61 lit. i ATSG oder
bei der Revision eines Bundesgerichtsurteils gemäss Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG
(vgl. SVR 2010 IV Nr. 55 S. 169, 9C_764/2009 E. 3.1 mit Hinweisen; Urteile
8C_152/2012 vom 3. August 2012 E. 5.1 und 8C_422/2011 vom 5. Juni 2012 E. 4).
Neu sind demnach Tatsachen, die sich vor Erlass der formell rechtskräftigen
Verfügung oder des Einspracheentscheides verwirklicht haben, jedoch dem
Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren. Die
neuen Tatsachen müssen erheblich sein, d.h. sie müssen geeignet sein, die
tatbeständliche Grundlage des zur Revision beantragten Entscheids zu verändern
und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer andern Entscheidung zu
führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die Revision
begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen zu
dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des
Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind (vgl. BGE 134 III 669 E. 2.1 S. 670;
127 V 353 E. 5b S. 358; SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/2011 E. 7.1; erwähnte
Urteile SVR 2010 IV Nr. 55 E. 3.2; 8C_152/2012 E. 5.1; 8C_422/2011 E. 4; Urteil
8F_9/2010 vom 10. März 2011 E. 3.1; je mit Hinweisen).

3.2 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung hat im Revisionsverfahren der
Gesuchsteller die erhebliche neue Tatsache nachzuweisen (BGE 127 V 353 E. 5b S.
358; RKUV 1994 Nr. U 190 S. 140, U 52/93 E. 3a in fine mit Hinweisen). Gelingt
es ihm nicht, den Revisionsgrund mit dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit zu belegen, ist das Revisionsgesuch abzuweisen. Die
IV-Stelle und später das kantonale Gericht sind insbesondere nicht dazu
verpflichtet, im Sinne von Art. 43 bzw. 61 lit. c ATSG den kompletten
Sachverhalt neu festzustellen und aktiv nach neuen Tatsachen und Beweismitteln
zu suchen. Der Vorwurf der Beschwerdeführerin, der Sachverhalt hätte von der
Vorinstanz gründlicher untersucht werden müssen, da die vorgebrachten neuen
Tatsachen durch das Gericht als zu wenig erwiesen erachtet wurden, geht daher
fehl.

3.3 In der Frage der prozessualen Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) prüft das
Bundesgericht die korrekte Anwendung von Bundesrecht. In Auseinandersetzung mit
dieser Rechtsfrage ist es frei und in keiner Weise an die Einschätzungen der
Vorinstanz gebunden.
3.3.1 Betrifft der Revisionsgrund eine materielle Anspruchsvoraussetzung, deren
Beurteilung massgeblich auf Schätzung oder Beweiswürdigung beruht, auf
Elementen also, die notwendigerweise Ermessenszüge aufweisen, so ist eine
vorgebrachte neue Tatsache als solche in der Regel nicht erheblich. Ein
(prozessrechtlicher) Revisionsgrund fällt demnach überhaupt nur in Betracht,
wenn bereits im ursprünglichen Verfahren der untersuchende Arzt und die
entscheidende Behörde das Ermessen wegen eines neu erhobenen Befundes zwingend
anders hätten ausüben und infolgedessen zu einem anderen Ergebnis hätten
gelangen müssen. An diesem prozessualrevisionsrechtlich verlangten Erfordernis
fehlt es, wenn sich das Neue im Wesentlichen in (differenzial-)diagnostischen
Überlegungen erschöpft, also auf der Ebene der medizinischen Beurteilung
anzusiedeln ist.
3.3.2 Die Beschwerdeführerin bringt vor, die IV-Stelle habe sich im Zeitpunkt
der Verfügung am 27. Januar 2009 auf ein unrichtiges Krankheitsbild abgestützt
und sei daher zu einer falschen Bemessung des Invaliditätsgrades gelangt. Zudem
stelle das medizinische Gutachten des Dr. med. F.________ vom 17. Mai 2010
zusammen mit der Expertise des behandelnden Psychiaters Dr. med. B.________
klar, dass in der Zeit vom 1. April 2009 bis 31. Dezember 2010 eine
Arbeitsunfähigkeit von mindestens 70 % vorgelegen habe.
3.3.3 Eine formell rechtskräftige Verfügung kann gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG nur
in Revision gezogen werden, wenn sie im Zeitpunkt ihres Erlasses fehlerhaft
war. Es ist daher nicht relevant, wie sich gewisse Umstände seit
Verfügungserlass entwickelt haben. Es interessieren zum Schluss nur die
Gegebenheiten, wie sie am 27. Januar 2009, dem Tag der rechtskräftigen
Verfügung, bestanden haben.
3.3.4 Die Versicherte stützt ihr Gesuch um Revision der ursprünglichen
Verfügung (Art. 53 Abs. 1 ATSG) auf neu erstellte Arztgutachten (vgl. E. 3.2
hievor). Neue medizinische Expertisen, die im Verfahren, das zur früheren
Verfügung geführt hat, keine gravierende und unvertretbare Fehldiagnose
feststellen, erfüllen das Kriterium der Erheblichkeit nicht (vgl. E. 3.3.1
hievor). Aufgrund der Symptome lassen sich Krankheiten oft nicht klar
voneinander abgrenzen. Es wäre nicht sinnvoll, wenn jede im Nachhinein
korrigierte Diagnose eine Revision begründen könnte, zumal der erhobene
Krankheitsbefund nicht grundlegend für das Mass der Arbeits(un)fähigkeit und
damit die Beurteilung des Invaliditätsgrades ist. Die geltend gemachte
fehlerhafte Diagnose in den früheren ärztlichen Gutachten stellt daher keine
revisionserhebliche neue Tatsache dar.
Im Übrigen beruhen medizinische Gutachten meist auf ärztlichem Ermessen.
Insbesondere bei der Festsetzung der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) verfügt
der Gutachter über einen beachtlichen Ermessensspielraum. Die Einschätzung der
Arbeits(un)fähigkeit basiert massgeblich auf Schätzung oder Würdigung der
erfragten und entdeckten Symptome. Die Tatsache, dass Dr. med. F.________ im
neuesten Gutachten der Versicherten für den Zeitpunkt der ersten Verfügung eine
höhere Arbeitsunfähigkeit attestiert, als in seiner ursprünglichen Expertise,
ist revisionsrechtlich irrelevant. Die prozessuale Revision der Verfügung vom
27. Januar 2009 ist somit weder aufgrund einer allfälligen fehlerhaften
Diagnose, noch wegen einer anderen Einschätzung der Arbeits(un)fähigkeit im
Vergleich zum früheren Gutachten des Dr. med. F.________ möglich.
3.3.5 Vor diesem Hintergrund ist der vorinstanzliche Entscheid rechtens. Die
Beschwerdeführerin vermag es nicht, revisionsrechtlich erhebliche neue
Tatsachen vorzubringen. Des Weiteren wurden keine unhaltbaren Schlüsse gezogen,
erhebliche Tatsachen und Beweise übersehen oder solche willkürlich ausser Acht
gelassen. Die eventualiter beantragte Rückweisung der Sache an die IV-Stelle
ist unbegründet und geht mit Blick auf den Charakter des Revisionsverfahrens
fehl.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Februar 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer