Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 937/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_937/2012

Urteil vom 22. April 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
D.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Rolli,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 2.
Oktober 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1967 geborene D.________ leidet an einer cerebralen Bewegungsstörung,
insbesondere der linken Körperseite, mit spastischer Teilparese des linken
Armes und des linken Beines, einem Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 390
GgV-Anhang. Die Invalidenversicherung erbrachte medizinische Massnahmen, gab
Hilfsmittel ab und übernahm die erstmalige berufliche Ausbildung in Form einer
internen kaufmännischen Grundschulung im Ausbildungszentrum X.________. Von
1986 bis 1989 absolvierte D.________ bei der Bank Y.________ eine kaufmännische
Lehre mit begleitender Berufsmittelschule. Nach dem Lehrabschluss war er bei
der Bank Y.________ als Sachbearbeiter tätig. Am 4. Juli 2006 meldete sich
D.________ unter Hinweis auf das Geburtsgebrechen bei der Invalidenversicherung
zum Rentenbezug an. Nach Abklärungen in medizinischer und erwerblicher
Hinsicht, namentlich durch ihre Abteilung Berufliche Eingliederung, gelangte
die IV-Stelle Bern zum Schluss, dass der Versicherte ab 1. Juli 2005 bei einem
Invaliditätsgrad von 60 % Anspruch auf eine Dreiviertelsrente der
Invalidenversicherung habe. Die entsprechende Verfügung, welcher ein
hypothetisches Einkommen ohne Invalidität (Valideneinkommen) von Fr. 82'000.-
und ein Invalideneinkommen von Fr. 32'500.- zugrunde lagen, erging am 17.
August 2007. Im Zuge einer im März 2011 von Amtes wegen eingeleiteten
Rentenrevision zog die IV-Stelle erwerbliche Unterlagen bei und holte einen
Bericht des Internisten Dr. med. F.________ vom 16. April 2011 ein. Mit
Verfügung vom 12. Juli 2011 setzte die IV-Stelle die bisher ausgerichtete
Dreiviertelsrente ab 1. September 2011 auf eine halbe Invalidenrente herab,
nachdem sie in einem Einkommensvergleich gestützt auf ein Valideneinkommen von
Fr. 87'537.- und ein Invalideneinkommen von Fr. 38'174.- einen Invaliditätsgrad
von noch 56 % ermittelt hatte.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher D.________ die
Weitergewährung der Dreiviertelsrente hatte beantragen lassen, wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab und änderte die angefochtene Verfügung
vom 12. Juli 2011 von Amtes wegen dahin ab, dass es die Dreiviertelsrente
rückwirkend ab 1. Dezember 2007 auf eine halbe Invalidenrente herabsetzte
(Entscheid vom 2. Oktober 2012).

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt D.________
beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm ab 1.
September 2011 eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Umfang des
Invalidenrentenanspruchs (Art. 28 Abs. 2 IVG), die Bestimmung des
Invaliditätsgrades nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG), den
Begriff des Soziallohnes (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301), die Revision der
Invalidenrente (Art. 17 Abs. 1 ATSG), die dabei in zeitlicher Hinsicht zu
vergleichenden Sachverhalte (BGE 130 V 343 E. 3.5.2 S. 351) sowie die bei der
Revision zu beachtenden und die ausser Acht zu lassenden
Einkommensverbesserungen (Art. 31 Abs. 1 und 2 IVG in der bis 31. Dezember 2011
gültig gewesenen Fassung) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, und es ist unbestritten geblieben, dass im
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers im massgeblichen Zeitraum zwischen
August 2007 und Juli 2011 keine wesentliche Änderung mit Auswirkungen auf die
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit eingetreten ist. Auszugehen sei weiterhin von
hälftiger Arbeitsunfähigkeit. Ebenso verneinte das kantonale Gericht das
Vorliegen eines Mehrverdienstes, weshalb es die Revisionsvoraussetzungen im
Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG als nicht gegeben erachtete. Hingegen hielt es
die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung als erfüllt: Die IV-Stelle habe der
Rentenverfügung vom 17. August 2007 ein Invalideneinkommen von Fr. 32'500.-
zugrunde gelegt, wogegen sie für das Valideneinkommen nicht auf den von der
Bank Y.________ genannten Betrag von Fr. 65'000.-, sondern auf Fr. 82'000.-,
entsprechend den Angaben des Schweizerischen Bankpersonalverbandes, abgestellt
habe. Da der Beschwerdeführer die nämlichen Aufgaben erledigte wie andere
Sachbearbeiter, wenn auch nur in einem Pensum von 50 %, sei nicht zu
beanstanden, dass die IV-Stelle den von der Bank Y.________ genannten Betrag
von Fr. 65'000.- als zu tief erachtet und das Valideneinkommen entsprechend den
Angaben des Bankpersonalverbandes auf Fr. 82'000.- festgesetzt habe. In der
Folge hätte die IV-Stelle bemerken müssen, dass das von der Bank Y.________ für
eine 50%ige Tätigkeit angegebene Einkommen von Fr. 32'500.- nicht mit dem
Valideneinkommen in Einklang zu bringen und die auf diesen Zahlen beruhende
Invaliditätsbemessung zweifellos unrichtig sei. Im Übrigen habe die Bank
Y.________ einen Lohn von tatsächlich Fr. 3'048.- im Monat (Fr. 39'624.- im
Jahr) ausgerichtet. In diesem Betrag sei kein Soziallohn mehr enthalten
gewesen. Somit sei die Verfügung vom 17. August 2007 zweifellos unrichtig
gewesen. Mittels eines korrekten Einkommensvergleichs hätte sich ein
Invaliditätsgrad von nur 50 % und damit ein Anspruch auf eine halbe Rente
ergeben. Weil die Berichtigung der Verfügung sodann von erheblicher Bedeutung
ist, seien die Wiedererwägungsvoraussetzungen erfüllt und die
Revisionsverfügung sei mit dieser substituierten Begründung zu schützen. Da der
Versicherte hätte feststellen müssen, dass der ihm von der Bank Y.________
ausbezahlte Lohn nicht dem hypothetischen Invalideneinkommen entsprach, sondern
wesentlich höher lag, hätte er die Verwaltung über diesen Umstand in Kenntnis
setzen müssen. Indem er dies unterliess, habe er die Meldepflicht schuldhaft
verletzt. Daher sei die Dreiviertelsrente rückwirkend auf eine halbe Rente
herabzusetzen. Die Rente sei nach Kenntnisnahme des Novemberlohnes durch den
Beschwerdeführer ab 1. Dezember 2007 zu reduzieren. Über die Rückforderung der
unrechtmässig bezogenen Renten werde die IV-Stelle zu verfügen haben.

4.
4.1 Die IV-Stelle kann nach Art. 53 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 ATSG und
Art. 1 Abs. 1 IVG auf formell rechtskräftige Verfügungen oder
Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und
wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Unter diesen
Voraussetzungen kann die Verwaltung eine Rentenverfügung auch dann abändern,
wenn die Revisionsvoraussetzungen des Art. 17 ATSG nicht erfüllt sind. Die
Wiedererwägung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung
einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des
Sachverhalts. Das Erfordernis der zweifellosen Unrichtigkeit ist in der Regel
erfüllt, wenn eine Leistungszusprechung aufgrund falsch oder unzutreffend
verstandener Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht
oder unrichtig angewandt wurden. Anders verhält es sich, wenn der
Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen liegt,
deren Beurteilung notwendigerweise Ermessenszüge aufweist. Erscheint die
Beurteilung einzelner Schritte bei der Feststellung solcher
Anspruchsvoraussetzungen (Invaliditätsbemessung, Arbeitsunfähigkeitsschätzung,
Beweiswürdigung, Zumutbarkeitsfragen) vor dem Hintergrund der Sach- und
Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung
dargeboten hat, als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit
aus. Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran
möglich ist, dass die Verfügung unrichtig war. Es ist nur ein einziger Schluss
- derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar (SVR 2010 IV Nr. 5 S.
10, 8C_1012/2008; Urteile 8C_647/2011 vom 4. Januar 2012 und 9C_339/2010 vom
30. November 2010 E. 3).
Das Gericht kann die revisionsweise aufgehobene Rente mit der substituierten
Begründung, die ursprüngliche Rentenzusprechung sei zweifellos unrichtig und
die Berichtigung von erheblicher Bedeutung, bestätigen (BGE 125 V 368 E. 2 S.
369; Urteil 9C_11/2008 vom 29. April 2008).

4.2 Anlass zur wiedererwägungsweisen Bestätigung der von der IV-Stelle am 12.
Juli 2011 revisionsweise verfügten Herabsetzung der Invalidenrente durch die
Vorinstanz bildeten die materiellen Anspruchsvoraussetzungen und dabei -
zufolge stabiler Gesundheitsverhältnisse - die erwerblichen Gesichtspunkte.
Dabei stand der Lohn, den der Beschwerdeführer bei der Bank Y.________
tatsächlich erzielt und hypothetisch ohne Gesundheitsschaden zu verdienen in
der Lage wäre, in Frage. Die ausführlichen und einlässlichen Erwägungen des
Verwaltungsgerichts belegen keine offensichtliche Unrichtigkeit der von der
Verwaltung zu Unrecht, ohne dass ein Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1
ATSG vorgelegen hätte, revisionsweise abgeänderten Rentenverfügung vom 17.
August 2007. Vielmehr lassen die Ausführungen der Vorinstanz den Schluss zu,
dass der von der IV-Stelle seinerzeit vorgenommene Einkommensvergleich
hinsichtlich der herangezogenen Vergleichseinkommen nicht vollumfänglich
überzeugt und eine andere Lösung in Betracht gezogen werden könnte. Von einer
zweifellosen Unrichtigkeit der Zusprechung einer Dreiviertelsrente rückwirkend
ab 1. Juli 2005 gemäss Verfügung vom 17. August 2007 kann hingegen nicht die
Rede sein, da die Beurteilung der IV-Stelle vertretbar erscheint. Die vom
kantonalen Gericht angenommene Unrichtigkeit drängt sich jedenfalls nicht als
einziger möglicher und zulässiger Schluss auf. Gebricht es an den
Voraussetzungen für eine Wiedererwägung, entfällt die Möglichkeit, die von der
Verwaltung ohne Vorliegen eines gesetzlichen Revisionsgrundes revisionsweise
vorgenommene Reduktion der Invalidenrente mittels substituierter Begründung zu
bestätigen.
Mit Bezug auf den Zeitraum ab 1. September 2011 ist die Gewährung einer halben
Invalidenrente gemäss vorinstanzlichem Entscheid unangefochten geblieben.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem obsiegenden
Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs.
1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 2. Oktober 2012 wird aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Bern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. April 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Widmer