Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 935/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_935/2012

Urteil vom 16. September 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
S.________, handelnd durch
Rechtsanwalt Sebastian Lorentz,
und dieser vertreten durch
Rechtsanwalt Thomas Wyss,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 13. September 2012.

Sachverhalt:

A. 
S.________ meldete sich im Oktober 2002 bei der Invalidenversicherung an und
beantragte Umschulung und/ oder eine Rente. Im Anmeldeformular wies er darauf
hin, er sei vom Sozialamt dazu genötigt worden, da ihm und seiner Ehefrau sonst
keine Sozialunterstützung ausbezahlt werde. Mit Verfügung vom 25. August 2003
wies die IV-Stelle des Kantons Zürich das Leistungsbegehren ab, wegen
Verweigerung der Mitwirkung aufgrund der Akten. Im Januar 2004 ersuchte
S.________ erneut um eine Rente. Mit Verfügung vom 29. Juli 2004 verneinte die
IV-Stelle einen Rentenanspruch. Nachdem am 23. Mai 2006 ein weiteres
Leistungsbegehren abgewiesen worden war, wegen Verweigerung der Mitwirkung
wiederum aufgrund der Akten, meldete sich der Versicherte im September 2008
erneut zum Bezug einer Rente an. Nach Abklärungen (u.a. Gutachten Dr. med.
U.________, FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 10. Januar 2010) und
durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom
22. Dezember 2010 einen Rentenanspruch.

B. 
Die Beschwerde des S.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 13. September 2012 ab.

C. 
S.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der Entscheid vom 13. September 2012 sei aufzuheben und ihm
(revisionsweise) rückwirkend eine ganze Rente zuzusprechen; eventualiter sei
ihm eine ganze Rente zuzusprechen, unter Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale
Sozialversicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Wurde eine Rente wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades verweigert, wird
eine neue Anmeldung nur geprüft, wenn die gesuchstellende Person glaubhaft
macht, dass sich der Grad der Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen
Weise geändert hat (Art. 87 Abs. 3 und 4 [seit 1. Januar 2012: Abs. 2 und 3]
IVV). Tritt die IV-Stelle auf die Neuanmeldung ein, hat sie abzuklären, ob eine
solche (glaubhaft gemachte) Veränderung tatsächlich eingetreten ist.
Verneinendenfalls weist sie das Rentengesuch ab (BGE 117 V 198 E. 3a S. 198).
Die Frage, ob eine erhebliche Tatsachenänderung im Sinne von aArt. 87 Abs. 3
IVV eingetreten ist, beurteilt sich durch Vergleich der Verhältnisse im
Zeitpunkt der Neuanmeldung mit denjenigen bei Erlass der letzten, auf einer
materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer
Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Ermittlung des Invaliditätsgrades
beruhenden Verfügung (BGE 130 V 71 E. 3.2.3 S. 75 ff.; vgl. auch BGE 133 V 108;
Urteil 9C_236/2011 vom 8. Juli 2011 E. 2.1).

2. 
Nach Auffassung der Vorinstanz ist zeitliche Vergleichsbasis die Verfügung vom
29. Juli 2004, der eine rechtskonforme Sachverhaltsabklärung zugrunde gelegen
habe. Der damaligen Verzicht der IV-Stelle auf eine psychiatrische Abklärung
des Gesundheitszustandes sei vertretbar gewesen. In Würdigung der Akten ist sie
zum Ergebnis gelangt, der rechtserhebliche Sachverhalt sei seither bis zum
Erlass der angefochtenen Verfügung vom 22. Dezember 2010 unverändert geblieben.
Die IV-Stelle habe daher einen Rentenanspruch zu Recht erneut verneint.

Der Beschwerdeführer rügt, die vorinstanzliche Annahme, die Verfügung vom 29.
Juli 2004 stütze sich auf eine rechtskonforme Sachverhaltsabklärung, sei
offensichtlich unrichtig (Art. 97 Abs. 1 BGG). Trotz gewichtiger Indizien, dass
er unter psychiatrischen Einschränkungen mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit leide, seien keine diesbezüglichen Abklärungen vorgenommen
worden. In der Entdeckung der Diagnose einer kombinierten
Persönlichkeitsstörung sei eine (prozessualer) Revisionsgrund im Sinne von Art.
53 Abs. 1 ATSG zu sehen. Dass die Vorinstanz den Anspruch auf eine
Invalidenrente nicht geprüft habe, verletze Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).

3. 
Die IV-Stelle hatte keine Veranlassung, den Versicherten vor Erlass der
Verfügung vom 29. Juli 2004 psychiatrisch abzuklären. Zwar gab er in der
Anmeldung vom 18. Januar 2004 an, auf Grund seiner Kindheit extrem
milieugeschädigt zu sein, Angstzustände und Depressionen sowie ehemals Drogen
konsumiert zu haben. Gemäss Arztbericht des Gesundheitszentrums vom 9. Juli
2004 wurden die wesentlichen psychischen Funktionen jedoch als
"uneingeschränkt" taxiert (einzig zur Belastbarkeit waren keine Angaben
möglich). Nachdem keine anderslautende ärztliche Anhaltspunkte vorlagen, der
Versicherte auch nicht in entsprechender Behandlung stand - trotz
ausdrücklicher Aufforderung, anzugeben, ob er noch bei anderen Ärzten als im
Gesundheitszentrum in Behandlung sei resp. gewesen sei, erfolgte keine
Mitteilung -, kann der Verwaltung in Übereinstimmung mit der Vorinstanz nicht
zum Vorwurf gemacht werden, sie hätte den Sachverhalt im Zeitpunkt der
Vergleichsverfügung unvollständig abgeklärt.

4. 
Die Vorinstanz hat erwogen, da sowohl Dr. K.________ als auch Dr. U.________
von einem seit dem Jahr XXX bzw. seit der Jugend bestehenden Zustand ausgehen
würden, sei anzunehmen, dass sich der rechtserhebliche medizinische Sachverhalt
seit der letzten materiell begründeten Rentenabweisung mit Verfügung vom 29.
Juli 2004 nicht geändert habe. Diese Feststellung entbehrt einer
rechtsgenüglichen Grundlage. Eine Diagnose allein sagt wenig über das Ausmass
der Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aus, weshalb sie - entgegen der Ansicht
des Beschwerdeführers - keinen (prozessualen) Revisionsgrund bildet. Wohl gibt
es einen "roten Faden", der sich durch die Biografie des Beschwerdeführers
zieht. Die Feststellung einer Aggravation im Gutachten von Dr. U.________ vom
10. Januar 2010 und die vom Beschwerdeführer gezeigte Kooperation mit der
IV-Stelle sind jedoch keine hinreichenden Nachweise dafür, dass sich seit dem
Jahr 2004 nichts Rechtserhebliches in gesundheitlicher resp. erwerblicher
Hinsicht verändert hat. Fachärztliche Untersuchungen oder anderweitig -
erhärtete - objektive Anhaltspunkte, die sich unmittelbar auf den
Vergleichszeitpunkt (29. Juli 2004) beziehen, fehlen komplett. Die
vorinstanzliche Gleichsetzung von "damals" und "heute" kommt unter diesen
Umständen nicht über den Beweisgrad des Möglichen hinaus, was für eine
bundesrechtskonforme Sachverhaltswürdigung nicht genügt. In der mangelnden
Untermauerung der Vergangenheit liegt auch die Schwäche der Einschätzungen von
Dr. K.________ vom 20. Februar 2008 (behandelnder Arzt) und von Dr. U.________
vom 10. Januar 2010, weshalb die erwerblichen Auswirkungen nicht unbesehen auf
die frühere Zeit rückbezogen werden können. Auf eine erneute Begutachtung kann
verzichtet werden, zumal sich bei einer solchen die gleiche (inkomplette)
Sachlage präsentieren würde. Schliesslich liegt auf der Hand, dass auf die
medizinische Selbsteinschätzung des Beschwerdeführers nicht abgestellt werden
kann.

5. 
Hat die Vorinstanz zu Unrecht eine erhebliche Tatsachenänderung verneint, folgt
die Frage nach der Invaliditätsbemessung. Es steht fest, dass der
Beschwerdeführer im hier fraglichen Verfügungszeitpunkt klar vermindert
arbeitsfähig ist, in welcher Hinsicht die Einschätzungen von Dr. K.________
(100%ige Arbeitsunfähigkeit) und Dr. U.________ (40%ige Arbeitsunfähigkeit auf
dem "1. ausgeglichenen Arbeitsmarkt", womit unzweifelhaft eine unselbstständige
Erwerbstätigkeit verstanden wird) grundsätzlich übereinstimmen. Die Vorinstanz
hat die Abweichung im Ausmass nicht gewürdigt, was an dieser Stelle zu ergänzen
ist (Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 136 V 362 E. 4.1 S. 366) : Eine psychiatrische
Exploration kann von der Natur der Sache her nicht ermessensfrei erfolgen. Sie
eröffnet dem begutachtenden Psychiater daher praktisch immer einen gewissen
Spielraum, innerhalb dessen verschiedene medizinisch-psychiatrische
Interpretationen möglich, zulässig und zu respektieren sind, sofern der Experte
lege artis vorgegangen ist, was hier der Fall ist (insbesondere setzt sich Dr.
U.________ eingehend mit der abweichenden Meinung von Dr. K.________
auseinander). Daher und unter Beachtung der Divergenz von medizinischem
Behandlungs- und Abklärungsauftrag kann es nicht angehen, eine medizinische
Administrativexpertise einzig in Frage zu stellen, wenn der behandelnde Arzt zu
einer unterschiedlichen Einschätzungen gelangt oder an der vorgängig
geäusserten abweichenden Auffassungen festhält (Urteil 9C_15/2013 vom 22. Mai
2013 E. 5.1 mit weiterem Hinweis). Im Übrigen hat auch der regionale ärztliche
Dienst der IV-Stelle (RAD) das Gutachten von Dr. U.________ - indem er auch auf
die "Replik" von Dr. K.________ vom 3. August 2010 einging - nachvollziehbar
als verwertbar beurteilt. Soweit Dr. U.________ den Beschwerdeführer in einer
quasi-selbstständigen Tätigkeit ("Marktfahrer, Hilfsarbeiter mit grosser
Autonomie") als nicht relevant eingeschränkt einschätzt, kann indessen darauf
nicht abgestellt werden. Abgesehen davon, dass es sich dabei um nicht weiter
konkretisierte Arbeitsgelegenheiten handelt, steht nicht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit fest, dass dem Beschwerdeführer auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt genügend solche Anstellungsmöglichkeiten offen stünden.

6. 
Nach dem Gesagten (vgl. E. 4) erweist sich der ordentliche Einkommensvergleich
als ungeeignet. Bei einer medizinisch ausgewiesenen Restarbeitsfähigkeit von 60
% ergibt der Prozentvergleich eine 40%ige Einbusse. Damit wird eine
rentenbegründende Invalidität in gleicher Höhe erreicht. Dies gibt ab 1. März
2009 (vgl. Art. 29 IVG) Anspruch auf eine Viertelsrente.

7. 
Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird verzichtet. Dem Beschwerdeführer steht
im Rahmen des teilweisen Obsiegens eine reduzierte Parteientschädigung zu.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 13. September 2012 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 22. Dezember 2010 werden
aufgehoben. Der Beschwerdeführer hat ab 1. März 2009 Anspruch auf eine
Viertelsrente. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen, soweit es nicht
gegenstandslos geworden ist. Rechtsanwalt Thomas Wyss wird als unentgeltlicher
Anwalt des Beschwerdeführers bestellt.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.- zu entschädigen.

5. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'800.- ausgerichtet.

6. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

7. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. September 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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