Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 932/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_932/2012

Urteil vom 17. April 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterin Glanzmann,
nebenamtlicher Bundesrichter Weber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Kübler,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 7. September 2012.

Sachverhalt:

A.
A.a B.________, geboren 1957, arbeitete seit 1991 als Hausangestellte im
Altersheim X.________. Am 10. Dezember 1997 meldete sie sich unter Angabe eines
Bandscheibenleidens bei der IV-Stelle des Kantons Zürich zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung an. Nach Abklärung der medizinischen und
wirtschaftlichen Verhältnisse sprach diese B.________ mit Verfügung vom 14.
Juli 1998 ab 1. Januar 1998 eine ganze Rente zu (Invaliditätsgrad von 100 %).
Mit Schreiben vom 9. Dezember 1999 und 14. Januar 2004 bestätigte sie den
bisherigen Rentenanspruch bei einem unveränderten Invaliditätsgrad.
A.b Im Rahmen eines am 17. Juni 2008 eingeleiteten Revisionsverfahrens holte
die IV-Stelle Berichte der Inneren Medizin der Klinik Y.________, (vom 18. Juli
2008) und der Klinik für Rheumatologie und Rehabilitation, Spital Z.________,
(vom 13. November 2008) sowie ein polydisziplinäres Gutachten des ABI
(Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH), vom 19. August 2009 ein. Dieses
attestierte B.________ in einer körperlich leichten und intermittierend
mittelschweren Tätigkeit eine Arbeits- und Leistungsfähigkeit von 100 %.
Gestützt darauf kündigte die IV-Stelle B.________ mit Vorbescheid vom 8. Januar
2010 auf den 1. Juni 2010 die Herabsetzung der ganzen auf eine Viertelsrente an
(Invaliditätsgrad von 40 %). Am 26. April 2010 verfügte sie auf den genannten
Zeitpunkt die Ausrichtung einer "ganzen IV-Rente bei einem Invaliditätsgrad
unter 70 Prozent".

B.
B.________ erhob am 26. Mai 2010 Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich. Sie beantragte, es sei ihr weiterhin eine auf einem
Invaliditätsgrad von mindestens 75 % basierende Rente auszurichten. Die
IV-Stelle beantragte, es sei festzustellen, dass die Rentenzusprache zu Unrecht
erfolgt sei. Die Rente sei aufzuheben. Eventualiter sei die Beschwerde
abzuweisen. Mit Beschluss vom 26. September 2011 gab das Gericht B.________ die
Gelegenheit, sich zur Frage einer reformatio in peius zu äussern. Nachdem die
Versicherte am 16. April 2012 zur Frage der Schlechterstellung Stellung
genommen und am Rechtsmittel festgehalten hatte, wies das
Sozialversicherungsgericht die Beschwerde mit Entscheid vom 7. September 2012
ab. Zudem änderte es die Verfügung vom 26. April 2010 dahingehend ab, dass
B.________ ab 1. Juni 2010 keinen Anspruch mehr auf eine Invalidenrente habe.

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der kantonale Entscheid und die Verfügung seien aufzuheben. Es
sei ihr über den 31. Mai 2010 hinaus eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
Eventualiter sei ihr ab 1. Juni 2010 eine Viertelsrente zuzusprechen.
Subeventualiter sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie den
medizinischen Sachverhalt rechtsgenügend abkläre. Ferner lässt sie
unentgeltliche Rechtspflege beantragen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Nach dem Dispositiv des vorinstanzlichen Entscheides hat das Gericht die
Verfügung vom 26. April 2010 dahingehend abgeändert, dass ab 1. Juni 2010 jeder
Anspruch auf eine Invalidenrente entfallen soll. Damit ist die
Beschwerdelegitimation der Versicherten gegeben und auf ihre Beschwerde
einzutreten.

2.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen die formellen Gültigkeitserfordernisse
auch des vorinstanzlichen Verfahrens. Hat die Vorinstanz übersehen, dass es an
einer Prozessvoraussetzung fehlte, und hat sie materiell entschieden, hat das
Bundesgericht dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu berücksichtigen
und den angefochtenen Entscheid aufzuheben (BGE 136 V 7 E. 2 S. 9; 135 V 124 E.
3.1 S. 127; Urteil 9C_143/2012 vom 22. März 2012 E. 1). Dass das Bundesgericht
gemäss Art. 107 Abs. 1 BGG nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen
darf, steht in einem solchen Falle der Aufhebung des angefochtenen Entscheides
aus formellen Gründen - auch ohne entsprechenden Antrag - nicht entgegen, da
die genannte Bestimmung nur die materielle Seite des Rechtsstreits betrifft
(Ulrich Meyer/Johanna Dormann, Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2.
Aufl. 2011, N. 1 zu Art. 107 BGG; vgl. BGE 96 I 189 E. 1 S. 191 und RKUV 1991
Nr. U 124 S. 157 E. 1 zu Art. 114 Abs. 1 des auf Ende 2006 aufgehobenen OG
sowie 9C_414/2007 vom 25. Juli 2008 E. 1; vgl. dazu auch das Urteil 9C_918/2009
vom 24. Dezember 2009 E. 4; zur Voraussetzung des Rechtsschutzinteresses als
Eintretensvoraussetzung das Urteil 9C_78/2010 vom 22. November 2011 E. 2).

3.
Aufgrund von Art. 43 Abs. 1 IVG haben Witwen, Witwer und Waisen, welche sowohl
die Anspruchsvoraussetzungen für eine Hinterlassenenrente der Alters- und
Hinterlassenenversicherung als auch für eine Rente der Invalidenversicherung
erfüllen, Anspruch auf eine ganze Invalidenrente. Es wird aber nur die höhere
der beiden Renten ausgerichtet.

3.1 Die Beschwerdeführerin ist seit 2003 verwitwet. In Umsetzung der genannten
Regelung wurde ihr darum auch nach der verfügungsweisen Herabsetzung des
Invaliditätsgrades auf 40 % die ganze Rente ausgerichtet. Dies schien ihr
entgangen zu sein, denn sie führte am 4. März 2011 im Gesuch um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege gegenüber der Vorinstanz aus, ihr sei die Rente ab
Juli 2010 auf eine Viertelsrente gekürzt worden. Faktisch war aber der Betrag
der Invalidenrente auf unveränderter Höhe geblieben (ab 1. Juni 2010 Fr.
1'710.- [zum Vergleich: Fr. 1'583.- gemäss Verfügung vom 19. September 2003]).
Auch gegenwärtig scheint sie dies nicht erkannt zu haben, wenn sie eventualiter
die Ausrichtung einer Viertelsrente beantragt, was konkret aufgrund von Art. 43
Abs. 1 IVG nicht möglich ist.
Wie eben dargelegt, ergab sich infolge der Verwitwung für die
Beschwerdeführerin trotz der Herabsetzung des Invaliditätsgrades auf 40 % keine
betragliche Veränderung der Invalidenrente, auch wenn im "Verfügungsteil 2" von
der Beschwerdegegnerin noch eine Rentenreduktion angegeben worden war. Dies
erklärt sich damit, dass die Regelung von Art. 43 Abs. 1 IVG offensichtlich
erst später im Rahmen der konkreten Rentenfestlegung von der
Sozialversicherungsanstalt Zürich (SVA) als zuständiger Ausgleichskasse
umgesetzt worden ist. Im Ergebnis war die Beschwerdeführerin somit durch die
angefochtene Verfügung gar nicht beschwert und fehlte es deshalb an einem
Rechtsschutzinteresse. Ein Rechtsschutzinteresse ist jedoch Voraussetzung für
das Eintreten der Vorinstanz auf die Beschwerde (vgl. Hans-Jakob Mosimann, § 9
N. 12 in Christian Zünd/Brigitte Pfiffner Rauber [Hrsg.] Gesetz über das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Kommentar, 2., vollständig
überarbeitete Aufl., S. 56). Da die Beschwerdeführerin keine
Ergänzungsleistungen bezieht, ergibt sich auch daraus kein aktuelles
Rechtsschutzinteresse auf Festlegung des konkreten Invaliditätsgrades durch das
Gericht (Urteil 9C_822/2011 vom 3. Februar 2012 E. 3.2.3). Die blosse
Möglichkeit, dass die Versicherte in einem späteren Zeitpunkt allenfalls
Bezügerin von Ergänzungsleistungen werden könnte, begründet kein solches
Interesse an der Anfechtung der Verfügung vom 26. April 2010. Sie macht derlei
auch nicht geltend.

3.2 Wie aus den Akten hervor geht, war die Pensionskasse der Stadt Zürich ins
Vorbescheidverfahren der Invalidenversicherung einbezogen und die Verfügung vom
26. April 2010 ist auch ihr eröffnet worden. Damit ist die
Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung für sie grundsätzlich
verbindlich (BGE 133 V 67 E. 4.3.2 S. 69 mit Hinweisen). Aus
berufsvorsorgerechtlicher Sicht fehlte es indes an einem schutzwürdigen
Interesse zur Anfechtung der Verfügung, da nach der Rechtsprechung der im
IV-Verfahren ermittelte Invaliditätsgrad auch dann keine Bindungswirkung für
die berufliche Vorsorge entfaltet, wenn er nicht genau ("präzis") bestimmt
werden muss, weil eine grobe Schätzung für die Festsetzung des Umfangs des
Anspruchs oder die Verneinung eines Anspruchs genügt. Diese
Bindungswirkungsfrage stellt sich u.a. im Zusammenhang mit
Ehepaar-Invalidenrenten (Urteil 9C_858/2010 vom 17. Mai 2011 E. 2.3.2 mit
weiteren Hinweisen). Aufgrund des Bezugs einer ganzen Rente durch den Ehemann
gab dort bereits ein Invaliditätsgrad von 40 % weiterhin Anspruch auf
Ausrichtung einer ganzen Rente (Urteil 9C_822/2011 vom 3. Februar 2012 E.
3.2.2).

3.3 Die Vorinstanz hätte somit wegen eines allgemein fehlenden
Rechtsschutzinteresses nicht auf das Rechtsmittel eintreten dürfen.

4.
Da vorliegend auf die Beschwerde nicht hätte eingetreten werden dürfen, ist
Dispositiv-Ziffer 1 des kantonalen Entscheides aufzuheben. Demzufolge bleibt
die Verfügung vom 26. April 2010 massgebend, mit der der Beschwerdeführerin bei
einem Invaliditätsgrad von 40 % eine ganze Invalidenrente zugesprochen worden
ist.

5.
In Anwendung von Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG wird auf die Erhebung von
Gerichtskosten verzichtet. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin
eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheides des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 7. September 2012
aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. April 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Schmutz