Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 8/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_8/2012

Urteil vom 12. März 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Sonja Gabi,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid
des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 1. November 2011.

Sachverhalt:

A.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich lehnte mit Verfügung vom 25. Mai 2011 das
Gesuch des 1963 geborenen S.________ um Rentenleistungen ab; der
Invaliditätsgrad betrage nicht leistungsbegründende 21 Prozent.

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich sprach auf die dagegen
erhobene Beschwerde hin dem Versicherten mit Wirkung ab November 2009 eine
Viertelsrente (aufgrund eines Invaliditätsgrades von 42 Prozent) zu. Das
Gericht ging davon aus, einstweilen sei nicht - wie administrativgutachtlich
attestiert - von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in angepassten
Tätigkeiten auszugehen, sondern - gestützt auf spitalärztliche Berichte - von
einem ab März 2008 bestehenden Leistungsvermögen von 50 Prozent. Da dem
Versicherten indes eine Behandlung der hierfür verantwortlichen Beschwerden
zumutbar sei, obliege es der IV-Stelle, ihn auf seine Schadenminderungspflicht
hinzuweisen und aufzufordern, sich einer adäquaten Therapie zu unterziehen
(Entscheid vom 1. November 2011).

C.
S.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
sinngemässen Rechtsbegehren, es sei ihm mit Wirkung ab November 2009 eine halbe
Invalidenrente zuzusprechen. Zudem ersucht er um unentgeltliche Verbeiständung.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer beansprucht eine halbe Invalidenrente anstelle der ihm
vorinstanzlich zugesprochenen Viertelsrente (zur Auslegung der Rechtsbegehren
nach Treu und Glauben, insbesondere im Lichte der dazu gegebenen Begründung SVR
2004 IV Nr. 25 S. 75, I 138/02 E. 3.2.1; Urteile 9C_251/2009 vom 15. Mai 2009
E. 1.3 und 4P.266/2006 vom 13. Dezember 2006 E. 1.3).

1.2 In diesem Rahmen (Art. 107 Abs. 1 BGG) ist aufgrund der Rügen in der
Beschwerdeschrift zu prüfen, ob die Vorinstanz das Valideneinkommen
(hypothetisches Gehalt ohne Gesundheitsschaden) im Hinblick auf den
Einkommensvergleich zur Bemessung der Invalidität (Art. 16 ATSG) auf
zutreffender Grundlage festgesetzt hat.
Das kantonale Gericht führte hierzu aus, der Beschwerdeführer habe als
Vorarbeiter im Gemüseanbau nicht unerheblich schwankende Einkommen erzielt.
Daher sei das Valideneinkommen aufgrund der in den letzten fünf Jahren vor
Eintritt des Gesundheitsschadens durchschnittlich erzielten Jahreseinkommen
(1996 bis 2000) zu bemessen (angefochtener Entscheid E. 6.6). Der
Beschwerdeführer macht dagegen geltend, die Vorinstanz sei zu Unrecht von der
Grundregel abgewichen, wonach das letzte tatsächlich erzielte AHV-pflichtige
Jahreseinkommen massgebend sei. Denn sein Einkommen habe seit 1991 keinen
schwankenden Verlauf genommen, sondern sei in dieser Zeit kontinuierlich
angestiegen. Zu beachten sei auch, dass er zunächst als Saisonnier nur während
neun Monaten im Jahr in der Schweiz gearbeitet habe; erst 1999, nach Erhalt
einer Aufenthaltsbewilligung, habe er beim gleichen Arbeitgeber eine
Ganzjahres-Festanstellung erlangt.

1.3 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben
werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
Soweit es bei der Invaliditätsbemessung um die Frage geht, welche Löhne an
einer bestimmten Stelle bezahlt werden oder erreicht werden können, handelt es
sich um Feststellungen tatsächlicher Natur, die letztinstanzlicher Korrektur
nur unter den erwähnten Voraussetzungen zugänglich sind. Vom Bundesgericht frei
überprüfbare Rechtsfrage ist hingegen, welche hypothetischen Erwerbseinkommen
im Rahmen des Einkommensvergleichs nach Art. 16 ATSG miteinander in Beziehung
zu setzen sind (SVR 2009 IV Nr. 6 S. 11, 9C_189/2008 E. 4.1; vgl. BGE 132 V 393
E. 3.3 S. 399).

2.
2.1
2.1.1 Für die Bemessung des Valideneinkommens ist entscheidend, was die
versicherte Person im massgebenden Zeitpunkt des Rentenbeginns (BGE 129 V 222)
nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunde
tatsächlich verdienen würde. Die Ermittlung des Valideneinkommens muss so
konkret wie möglich erfolgen. Da die bisherige Tätigkeit erfahrungsgemäss
fortgesetzt worden wäre, ist in der Regel vom letzten Lohn auszugehen, der vor
Eintritt der Gesundheitsschädigung erzielt wurde. Dieses Gehalt ist wenn nötig
der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung anzupassen (BGE 135 V 58 E.
3.1 S. 59).
2.1.2 Angesichts der in Art. 25 Abs. 1 IVV vorgesehenen Gleichstellung der
invalidenversicherungsrechtlich massgebenden hypothetischen Vergleichseinkommen
mit den nach AHV-Recht beitragspflichtigen Erwerbseinkommen kann das
Valideneinkommen aufgrund der Einträge im Individuellen Konto der AHV bestimmt
werden. Dies gilt einmal für Selbständigerwerbende (SVR 2010 IV Nr. 26 S. 79,
8C_9/2009 E. 3.3; SVR 2009 IV Nr. 28 S. 79, 8C_576/2008 E. 6.2 und 6.3), aber
auch für (vormals) Unselbständigerwerbende (SVR 2008 IV Nr. 28 S. 89, I 433/06
E. 4.1.1).

2.2 Der Beschwerdeführer war bis zum Eintritt einer längerdauernden
Arbeitsunfähigkeit im August 2001 im bisherigen Beruf tätig (vgl. Fragebogen
für den Arbeitgeber, Angaben vom 27. November 2001). Gemäss dem Auszug aus dem
Individuellen Konto erzielte er in den fünf vorangehenden Jahren Einkommen von
Fr. 56'085.- (2000), 44'459.- (1999), 40'268.- (1998), 36'987.- (1997) und
33'775.- (1996).
2.2.1 Bei einem unsteten Einkommensverlauf stellt der letzte Lohn eine bloss
zufällige Grösse dar; eine Momentaufnahme taugt hier für sich allein nicht als
Ausgangspunkt zur Fortzeichnung der hypothetischen Lohnentwicklung im
Gesundheitsfall. Nach der Rechtsprechung ist somit der während einer längeren
Zeitspanne vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit erzielte Durchschnittsverdienst
massgebend, sofern die Einkommen der vorangegangenen Jahre stark und
verhältnismässig kurzfristig schwankten (SVR 2010 IV Nr. 26 S. 79, 8C_9/2009 E.
3.3 mit Hinweis); nicht gemeint sind regelmässige saisonale Schwankungen des
Arbeitsanfalls. Wenn indes unterschiedlich hohe Einkommen in ihrer Abfolge über
längere Zeit hinweg eine klare Tendenz verraten, so sind frühere Werte nicht in
die Bemessungsgrundlage einzubeziehen, sondern höchstens als Indizien für den
überwiegend wahrscheinlichen Verlauf der hypothetischen Einkommensentwicklung
bedeutsam.
2.2.2 Nichts deutet darauf hin, dass der zwischen 1996 und 2000 verzeichnete
Lohnanstieg im hypothetischen Gesundheitsfall nicht nachhaltig gewesen wäre und
sich das Einkommen des Beschwerdeführers ab dem für den Einkommensvergleich
massgebenden Jahr 2009 wieder innerhalb der Lohnspanne früherer Jahre
(zuzüglich Nominallohnsteigerung) bewegt hätte. Die Angaben des Arbeitgebers
zeigen, dass sich die Einkommenssituation des Beschwerdeführers - offenbar mit
der Ablösung der vormaligen Saisonnierbewilligung - im Verlaufe des Jahres 1999
stabilisiert hat. Im Auszug aus dem Individuellen Konto ist für das Jahr 1999
denn auch erstmals ein ganzjähriges Beschäftigungsverhältnis ausgewiesen,
während hinsichtlich der Vorjahre stets nur Beiträge für die Monate Februar/
März bis November erfasst wurden. Aus den Angaben im Fragebogen für den
Arbeitgeber geht hervor, dass der monatliche Verdienst (Stand November 2001)
Fr. 4000.- (Fr. 52'000.- p.a.) betragen würde, wenn der Beschwerdeführer die
bisherige Arbeit eines Vorarbeiters ohne gesundheitliche Einschränkungen
weiterhin hätte ausüben können. Der höhere effektive Jahresverdienst von Fr.
56'085.- (2000) ergibt sich aus der Entschädigung für Überstunden. Das Entgelt
hierfür ist in das Valideneinkommen einzurechnen, weil die saisonal anfallenden
Überstunden im Betrachtungszeitraum regelmässig geleistet wurden (SVR 2002 IV
Nr. 21 S. 63, I 357/01 E. 3b).

2.3 Die Einwendungen des Beschwerdeführers sind mithin begründet. Angesichts
der stetigen Lohnsteigerungen in den Jahren 1996 bis 2000 liefert eine
Durchschnittsrechnung keine geeignete Grundlage zur Bemessung des
hypothetischen Lohns ohne Gesundheitsschaden. Das Valideneinkommen ist anhand
des letzten nicht wesentlich von den Folgen des Gesundheitsschadens
überlagerten effektiven Einkommens im Jahr 2000 zu bemessen. Ausgehend vom
damaligen Jahresgehalt von Fr. 56'085.- beläuft es sich für das Jahr 2009
nominallohnindexiert auf Fr. 59'670.- (Entwicklung im Sektor Gartenbau: 1,7 %
[2001], 2,3 % [2002], 1,4 % [2003], 0,9 % [2004], seit 2005 kein weiterer
Zuwachs; Die Volkswirtschaft, Tab. B10.2). Im Vergleich mit dem vorinstanzlich
angenommenen Invalideneinkommen von Fr. 26'089.- ergibt sich insoweit ein
Invaliditätsgrad von 56 Prozent. Die Beschwerde ist begründet.

3.
Andere Parameter der Invaliditätsbemessung sind nicht umstritten. Es besteht
kein Anlass für eine Weiterung des Prüfungsprogramms (vgl. BGE 110 V 48 E. 4a
S. 53; Urteil 9C_193/2009 vom 20. August 2009 E. 1.4). Der Beschwerdeführer hat
nach dem Gesagten mit Wirkung ab November 2009 Anspruch auf eine halbe
Invalidenrente.

4.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem obsiegenden,
anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer steht eine Parteientschädigung zu (Art.
68 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Ziff. 1 des Entscheids des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 1. November 2011 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 25. Mai 2011 werden aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer mit Wirkung ab November 2009
Anspruch auf eine halbe Invalidenrente hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. März 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Traub