Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 878/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_878/2012

Urteil vom 26. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

L.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Vonesch,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (unentgeltlicher Rechtsbeistand
im Verwaltungsverfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 12. September 2012.

Sachverhalt:

A.
L.________ bezog ab 1. Juni 1989 eine ganze Rente der Invalidenversicherung
samt Zusatzrente für die Ehefrau und seit ... einer Kinderrente. Der Anspruch
wurde mehrmals bestätigt. Im Rahmen eines weiteren im November 2009
eingeleiteten Revisionsverfahrens wurde er vom 25. bis 27. Mai und am 1. Juni
2010 in der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) untersucht und begutachtet
(Expertise vom 28. Juli 2010).
Am 14. Juli 2011 betraute L.________ Rechtsanwalt Daniel Vonesch mit der
Wahrung seiner Interessen im IV-Verfahren. Dieser ersuchte mit Schreiben vom
20. Januar 2012 um unentgeltliche Rechtspflege. Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren wies die IV-Stelle Luzern mit Verfügung vom 16. März 2012
das Begehren ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde des L.________ hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 12.
September 2012 gut. Es hob die Verfügung vom 16. März 2012 auf, bewilligte das
Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ab dem Abklärungsverfahren
(Dispositiv-Ziffer 1) und verpflichtete die IV-Stelle zur Bezahlung einer
Parteientschädigung (Dispositiv-Ziffer 2).

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle Luzern, Dispositiv-Ziffer 1 und 2 des Entscheids vom 12. September
2012 seien aufzuheben und dem Rechtsmittel sei die aufschiebende Wirkung zu
erteilen.

Erwägungen:

1.
Im angefochtenen Entscheid werden die allgemein gültigen Voraussetzungen für
den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung nach Art. 29 Abs. 3 BV sowie
deren Konkretisierung in Bezug auf das vorliegend einzig umstrittene
Erfordernis der Notwendigkeit bzw. sachlichen Gebotenheit der Vertretung im
Verwaltungsverfahren vor der IV-Stelle (Art. 37 Abs. 4 ATSG in Verbindung mit
Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen
(vgl. etwa BGE 132 V 200 E. 4.1 S. 200 f. und SVR 2009 IV Nr. 3 S. 4, I 415/06
E. 4.2).

2.
Die Vorinstanz hat erwogen, aufgrund der existenziellen Bedeutung der
Invalidenrente für den Versicherten und seine Familie und da die revisionsweise
Aufhebung eines seit 1989 bestehenden Rentenanspruchs in Frage stehe, müsse von
einem besonders starken Eingriff in dessen Rechtsstellung ausgegangen werden.
Eine Verbeiständung sei daher grundsätzlich geboten. Sodann sei ein
Revisionsverfahren per se komplexer als eine erstmalige Prüfung von
Leistungsansprüchen. Im konkreten Fall sei auch nicht von einem einfachen
Revisionsfall auszugehen. Es stellten sich Fragen in medizinischer und
erwerblicher Hinsicht; auch eine berufliche Eingliederung stehe im Raum. Zudem
habe das Verfahren durch das MEDAS-Gutachten vom 28. Juli 2010 ein Ausmass
erreicht, das dem Versicherten von seiner Komplexität her sowohl in rechtlicher
als auch tatsächlicher Hinsicht kaum mehr eine effiziente Geltendmachung seiner
Standpunkte ohne anwaltliche Unterstützung erlaube. Es komme dazu, dass die
Abklärungsstelle eine 90%ige, die behandelnden Ärzte der Psychiatrie X.________
dagegen aufgrund einer depressiven Episode eine reduzierte Arbeitsfähigkeit
attestierten. Der rechtserhebliche Sachverhalt sei somit umstritten. Weiter sei
davon auszugehen, dass die Ungewissheit über die Weiterausrichtung der Rente zu
einer starken psychischen Belastung geführt habe. In der Folge habe sich der
Versicherte in psychiatrische Behandlung begeben. Unter diesen Umständen sei er
kaum in der Lage, seine Rechte selber wahrzunehmen und sich am
Abklärungsverfahren entsprechend zu beteiligen. Daran ändere nichts, dass er
Präsident und Trainer eines Sportklubs sei. Schliesslich sei eine
Verbeiständung in wirksamer und adäquater Weise auch nicht durch eine andere
Fach- oder Vertrauensperson zu erbringen. Eine anwaltliche Vertretung ab dem
Abklärungsverfahren sei somit geboten. Da der Rechtsstandpunkt des Versicherten
nicht von vornherein als aussichtslos bezeichnet werden könne und die
Bedürftigkeit aufgrund der Akten ausgewiesen sei, sei die unentgeltliche
Rechtsverbeiständung zu bewilligen.

3.
Die Beschwerde führende IV-Stelle stellt ihren Bestreitungen den Grundsatz
voran, dass nach der gesetzlichen Konzeption die sachliche Notwendigkeit einer
anwaltlichen Vertretung im Sozialversicherungsverfahren sich nach einem
strengen Massstab beurteilt (Urteile 8C_717/2012 vom 8. November 2012 E. 3.5,
8C_370/2010 vom 7. Februar 2011 E. 7.1, 9C_315/2009 vom 18. September 2009 E.
2.1 und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 631/06 vom 16. Oktober 2006 E.
3), insbesondere wenn sich das Verfahren noch im Stadium vor Erlass des
Vorbescheids befindet (Urteil 9C_951/2008 vom 20. März 2009 E. 2.1; vgl. auch
Urteile 8C_650/2011 vom 15. Februar 2012 E. 4.2.1 und 9C_161/2011 vom 3. Mai
2011 E. 3.3). Daraus vermag sie indessen mit ihren weiteren Vorbringen nichts
zu ihren Gunsten abzuleiten.

3.1 Im Zeitpunkt der Mandatierung am 14. Juli 2011 bzw. bei Stellung des
Gesuchs um unentgeltliche Rechtsverbeiständung am 20. Januar 2012 war zwar noch
kein Vorbescheid ergangen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Gutachter
der MEDAS eine Arbeitsfähigkeit von 90 % in leidensangepassten Tätigkeiten
attestierten, was eine Herabsetzung oder sogar Aufhebung der ganzen Rente nicht
mehr nur als möglich erscheinen liess. Die Beschwerdeführerin macht nicht
geltend, sie ziehe aufgrund der in psychiatrischer Hinsicht abweichenden
Beurteilung der behandelnden Ärzte der Psychiatrie X.________ weitere
medizinische Abklärungen in Erwägung. Immerhin waren bei der Gesuchstellung im
Januar 2012 bereits eineinhalb Jahre seit dem MEDAS-Gutachten vom 28. Juli 2010
vergangen. Unter diesen Umständen kann daher - auch wenn noch kein Vorbescheid
erging - nicht gesagt werden, die Frage einer drohenden Rentenaufhebung stehe
noch gar nicht im Raum, wie die Beschwerdeführerin vorbringt.

3.2 Sodann besteht, jedenfalls für das Verfahren vor den IV-Stellen, keine
Regel des Inhalts, dass bei der Annahme eines schwerwiegenden Eingriffs in die
Rechtsstellung der gesuchstellenden Person Zurückhaltung geboten ist, wenn
ausschliesslich finanzielle Interessen in Frage stehen. Aus den bei Marc
Häusler/Reto Ferrari-Visca, Der Anspruch auf einen unentgeltlichen
Rechtsbeistand im Verwaltungsverfahren, in: Jusletter vom 24. Oktober 2011 Rz.
30, erwähnten bundesgerichtlichen Urteilen (u.a. 1P.40/2000 vom 3. April 2000
E. 2d/bb) lässt sich nichts in diesem Sinne ableiten. Es kann an dieser Stelle
auf BGE 107 Ia 7 E. 4 S. 9 verwiesen werden.

3.3 Unter dem Gesichtspunkt der Komplexität der sich stellenden Fragen ist zu
berücksichtigen, dass sich im Revisionsverfahren - im vorliegenden Fall neben
der Frage des Beweiswertes des Administrativgutachtens - immer auch die Frage
der (Wieder-)Eingliederung stellt, bei langjährigen Bezügern einer ganzen Rente
zudem, ob eine medizinisch-theoretisch wiedererlangte Arbeitsfähigkeit auf dem
Wege der Selbsteingliederung auf dem in Betracht fallenden Arbeitsmarkt
verwertbar ist (SVR 2012 IV Nr. 25 S. 104, 9C_363/2011 E. 3.1; 2011 IV Nr. 73
S. 220, 9C_228/2010 E. 3.3; 2011 IV Nr. 30 S. 86, 9C_163/2009 E. 4.2.2; Urteile
8C_612/2012 vom 28. September 2012 E. 4.1, 9C_726/2011 vom 1. Februar 2012 E.
5.1 und 9C_998/2010 vom 8. März 2011 E. 3.3).

3.4 Der Verweis auf das Urteil 8C_370/2010 vom 7. Februar 2011 E. 7.1 ist
unbehelflich. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, inwiefern der damals
beurteilte mit dem hier zur Diskussion stehenden Sachverhalt vergleichbar ist.

3.5 Die Beschwerdeführerin nennt Umstände, aus denen sich ergeben soll, dass
der Versicherte über erhebliche kognitive und gesundheitliche Ressourcen
verfügt, die ihn befähigen, seine Rechte ohne anwaltlichen Beistand
wahrzunehmen: Die behandelnden Ärzte hätten im Bericht vom 18. November 2011
eine zumindest teilweise Arbeitsfähigkeit attestiert; er coache seinen Sohn
beim Fussballspiel; er präsidiere einen Sportklub und leite alle zwei Wochen
ein Training; er sei in der Lage, den Kontakt mit ihr zu pflegen. Damit vermag
sie indessen nicht darzutun, inwiefern die vorinstanzliche Feststellung,
aufgrund der starken psychischen Belastung sei der Versicherte kaum in der
Lage, seine Recht im IV-Revisionsverfahren wahrzunehmen und sich am
Abklärungsverfahren entsprechend zu beteiligen (vorne E. 2), offensichtlich
unrichtig sein soll.

3.6 Zu prüfen bleibt der Ausschlussgrund gegen die sachliche Notwendigkeit
einer anwaltlichen Interessenwahrung, wenn eine Verbeiständung durch
Verbandsvertreter, Fürsorgestellen oder andere Fach- und Vertrauensleute
sozialer Institutionen in Betracht fällt (Urteil 9C_951/2008 vom 20. März 2009
E. 2.1; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 812/05 vom 24. Januar 2006 E.
4.3). In diesem Zusammenhang bringt die Beschwerdeführerin vor, gemäss dem
Bericht der Psychiatrie X.________ vom 7. Oktober 2011 habe der Versicherte mit
dem SoBZ (Sozial-Beratungszentrum) Kontakt aufgenommen. Zudem bestehe mit dem
örtlichen Sozialamt eine weitere Anlaufstelle, der von Gesetzes wegen eine
Beratungs- und Unterstützungspflicht zukomme (unter Hinweis auf Urteil 9C_161/
2011 vom 3. Mai 2011 E. 3.3 in fine und dort auf § 25 f. des luzernischen
Sozialhilfegesetzes vom 24. Oktober 1989 [SRL Nr. 892]).
3.6.1 Gemäss Homepage der SoBZ Region Entlebuch, Wolhusen und Ruswil (besucht
am 16. November 2012) umfasst deren Dienstleistungsangebot Mütter- und
Väterberatung, Jugendberatung, Einzel-, Paar- und Familienberatung,
Suchtberatung sowie Mandatsführung Kindes- und Erwachsenenschutz. Bei Letzterem
ist Voraussetzung, dass "die Behörde Ihres Wohnsitzes eine gesetzliche
Massnahme errichtet hat", etwa eine Vormundschaft. Lediglich in diesem Fall
nimmt die Beratungsstelle - auf Mandatsbasis - auch die Rechte gegenüber
Sozialversicherungen wahr. Nach dieser Umschreibung gehört die
Interessenwahrung von Versicherten in einem IV-Revisionsverfahren von hier
nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen grundsätzlich nicht zu den Aufgaben der
kantonalen Sozial-Beratungszentren.
§ 25 und 26 Sozialhilfegesetz regeln Anspruch und Arten der persönlichen
Sozialhilfe:
§ 25: Wer sich in persönlichen Schwierigkeiten befindet, hat Anspruch auf
persönliche Sozialhilfe.
§ 26: Die persönliche Sozialhilfe wird geleistet durch a. Beratung und
Betreuung, b. Vermittlung an Institutionen der Sozialhilfe, wie jene der
Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Familienberatung und
Familienhilfe, der Betagtenhilfe, der Suchtkrankenhilfe und an
Selbsthilfegruppen, c. sonstige Dienstleistungen.
Das Luzerner Handbuch zur Sozialhilfe (2. Aufl. Ausgabe 6.0 vom Januar 2010)
verweist unter "A.3 Existenzsicherung und Integration: Materielle und
persönliche Hilfe" auf die SKOS-Richtlinien. In den betreffenden Richtlinien
für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe (herausgegeben von der
Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe) findet sich nichts, was darauf
schliessen lässt, dass auch die rechtskundige Vertretung oder zumindest eine
qualifizierte Hilfestellung in IV-Verfahren zum Aufgabenbereich der zuständigen
Behörden gehört.
3.6.2 Unter diesen Umständen wäre es Sache der Beschwerdeführerin nachzuweisen,
dass das regionale SoBZ oder das Sozialamt auf ein entsprechendes Gesuch die
Interessen des Versicherten im IV-Revisionsverfahren in der Praxis tatsächlich
und entgegen den schriftlichen Angaben über ihren Tätigkeitsbereich wahrnehmen
würden, unentgeltlich oder zu einem günstigen Tarif, und dass sie dazu fachlich
und auch kapazitätsmässig in der Lage wären. Das hat sie nicht getan. Ebenfalls
hat sie den Versicherten nicht unter Hinweis auf die Rechtslage betreffend
unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren (Grundsatz der
Subsidiarität anwaltlicher Vertretung gegenüber Unterstützung durch soziale
Einrichtungen) darauf aufmerksam gemacht, bei den erwähnten Behörden ein
entsprechendes Gesuch zu stellen (vgl. Art. 27 Abs. 1 ATSG; SVR 2011 KV Nr. 9
S. 39, 9C_687/2010 E. 5; Urteil 9C_1005/2008 vom 5. März 2009 E. 3.2.1). Ihr
diesbezüglicher Einwand ist daher unbehelflich.

3.7 Der vorinstanzlich Entscheid verletzt kein Bundesrecht. Die Beschwerde ist
unbegründet.

4.
Mit dem sofortigen Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden
Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. November 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler