Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 876/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_876/2012

Urteil vom 22. April 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Widmer.

Verfahrensbeteiligte
1. F.________,
2. W.________,
beide vertreten durch Rechtsanwältin Verena Fontana,
Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 29. August 2012.

Sachverhalt:

A.
Am 6. Februar 2008 wurde über die S.________ AG der Konkurs eröffnet. Das
Konkursverfahren wurde mit Verfügung vom 4. Juni 2008 mangels Aktiven
eingestellt, und am 4. Dezember 2009 wurde die Gesellschaft von Amtes wegen
gelöscht. Mit Verfügung vom 4. Februar 2010 verpflichtete die Ausgleichskasse
des Kantons Zürich W.________, M.________ und F.________, ehemalige Mitglieder
des Verwaltungsrates der Konkursitin, ihr in solidarischer Haftung
Schadenersatz im Betrag von Fr. 72'964.25 für unbezahlt gebliebene Beiträge zu
entrichten. Auf Einsprache der Belangten W.________ und F.________ reduzierte
die Ausgleichskasse ihre Schadenersatzforderung mit Entscheid vom 7. Februar
2011 auf Fr. 68'166.80, während sie die Einsprache von M.________ mit Entscheid
vom 8. Februar 2011 guthiess und die diesen betreffende Schadenersatzforderung
aufhob.

B.
W.________ und F.________ fochten den Einspracheentscheid vom 7. Februar 2011
beschwerdeweise an, je mit dem Antrag auf dessen Aufhebung. Das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vereinigte die beiden Verfahren.
Mit Entscheid vom 29. August 2012 wies es die Beschwerden ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lassen F.________ und
W.________ beantragen, der vorinstanzliche Entscheid und die
Einspracheentscheide seien aufzuheben. Ferner ersuchen sie um die Erteilung der
aufschiebenden Wirkung.
Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu
Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Dass die Beschwerdeführer als verantwortliche Organe der früheren
S.________ AG von der Ausgleichskasse grundsätzlich subsidiär als
Schadenersatzpflichtige belangt werden können, ist zu Recht unbestritten.

2.2 Die Beschwerdeführer bestreiten ihre Verpflichtung, für den von der
Ausgleichskasse gemäss Einspracheentscheid festgesetzten Schaden von Fr.
68'166.80 Ersatz zu leisten. Sie machen geltend, nur für die Beiträge für Juni
2007 haftbar zu sein. Sie seien gemäss Schreiben vom 6. August 2007 mit
sofortiger Wirkung aus dem Verwaltungsrat zurückgetreten. Somit hafteten sie
nur für diejenigen Beiträge, die bis zu diesem Zeitpunkt entstanden und zur
Zahlung fällig gewesen seien. Anhand der Lohnmeldungen der nachmaligen
Konkursitin ergäben sich Beiträge, welche die Ausstände bis Juni 2007 mehr als
gedeckt hätten.

3.
Was die Haftungsvoraussetzung der Widerrechtlichkeit betrifft, hat die
Vorinstanz zutreffend dargelegt, dass die Beitragszahlungs- und
Abrechnungspflicht des Arbeitgebers eine gesetzlich vorgeschriebene (Art. 14
Abs. 1 AHVG; Art. 34 ff. AHVV) öffentlichrechtliche Aufgabe ist, deren
Nichterfüllung eine Missachtung von Vorschriften im Sinne von Art. 52 Abs. 1
AHVG bedeutet und die volle Schadendeckung nach sich zieht (BGE 118 V 193 E. 2a
S. 195; SVR 2005 AHV Nr. 7 S. 23, H 34/04). Gemäss den verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz hat die Konkursitin ihre Beitragspflicht als
Arbeitgeberin regelmässig erst nach mehrfacher Mahnung erfüllt und die Beiträge
teilweise erst nach vorgängiger Betreibung bezahlt. Die Gesellschaft habe immer
wieder Verzugszinsen entrichten müssen, und die Beiträge seien zu einem
erheblichen Teil unbezahlt geblieben. Die Missachtung der gesetzlichen
Abrechnungs- und Beitragszahlungspflichten erfüllt die Haftungsvoraussetzung
der Widerrechtlichkeit der Nichtbezahlung der geschuldeten Beiträge.

4.
4.1 Das Sozialversicherungsgericht hat die Frage offen gelassen, ob die
Beschwerdeführer, wie geltend gemacht, am 6. oder allenfalls am 31. August 2007
aus dem Verwaltungsrat der Gesellschaft ausgeschieden seien und wie ihre
entsprechenden schriftlichen Mitteilungen verstanden werden müssten. Denn die
Beschwerdeführer hätten in der Folge als faktische Organe weiterhin für die
Gesellschaft gehandelt. Beide hätten noch bis zum 18. Oktober 2007 Zahlungen an
die Ausgleichskasse veranlasst. Damit hätten beide Beschwerdeführer weiterhin
finanzielle Handlungsbefugnis und massgeblichen Einfluss auf den Geschäftsgang
der Gesellschaft gehabt. In Würdigung dieser Umstände sei deshalb das
Rücktrittsschreiben der Beschwerdeführer vom 1. November 2007 zu Handen der
Gesellschaft als massgeblich zu betrachten.

4.2 Die Beschwerdeführer haben mit Schreiben vom 6. August 2007 gegenüber dem
Hauptaktionär der S.________ AG, C.________, Italien, mit sofortiger Wirkung
den Rücktritt aus dem Verwaltungsrat der Gesellschaft erklärt. Mit diesem
Demissionsschreiben endete ihre formelle Organstellung. Die Vorinstanz, welche
offen gelassen hat, bis zu welchem Datum die formelle Organstellung angenommen
werden muss und auf faktische Organstellung geschlossen hat, verletzt
demgegenüber Bundesrecht. Denn die Veranlassung einzelner Beitragszahlungen
begründet keine faktische Organstellung (REICHMUTH, Die Haftung des
Arbeitgebers und seiner Organe nach Art. 52 AHVG, S. 56 N 227 Fn 361). Andere
Umstände oder zumindest Indizien, welche darauf schliessen liessen, dass die
Beschwerdeführer in der Gesellschaft nach der Demission die Position faktischer
Organe inne hatten, stellt die Vorinstanz nicht fest. Daher verbietet sich die
Annahme faktischer Organstellung.

4.3 Mit der Beendigung der Organstellung aufgrund der Demission als
Verwaltungsratsmitglieder am 6. August 2007 entgehen die Beschwerdeführer der
Haftung für die ab diesem Datum fälligen (und dann ausgefallenen) Beiträge. Wie
in der Beschwerde zu Recht geltend gemacht wird, sind gemäss Abrechnung der
Ausgleichskasse nur die Beiträge für Juli und August 2007 offen, während
diejenigen für September bis November 2007 bezahlt wurden. Da Zahlungen und
Gutschriften grundsätzlich in analoger Anwendung von Art. 86f. OR an die
ältesten Schulden anzurechnen sind (REICHMUTH, a.a.O., S. 66 Rz 274), sind die
Beitragsforderungen für die Monate Juli und August 2007 getilgt, nachdem die
Ausgleichskasse davon abgesehen hat, die Schulden zu bezeichnen, die sie zuerst
getilgt haben wollte (REICHMUTH, a.a.O., S. 110, Rz 466), was zur Folge hatte,
dass die später von der nachmaligen Konkursitin bezahlten Beiträge an die
ältesten Beitragsschulden - Ausstände für die Monate Juli und August 2007 -
anzurechnen sind.

4.4 Da die Forderungen, zu deren Ersatz die Ausgleichskasse die
Beschwerdeführer verpflichtet hat, durch die späteren Zahlungen getilgt wurden,
entfällt eine Haftung, und es erübrigt sich eine Prüfung des Verschuldens als
weitere Voraussetzung einer Schadenersatzpflicht.

5.
Mit dem Urteil in der Sache wird das Gesuch der Beschwerdeführer um Erteilung
der aufschiebenden Wirkung gemäss Art. 103 Abs. 3 BGG gegenstandslos.

6.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Ausgleichskasse aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat den
Beschwerdeführern zudem eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG).

Demnach erkennt der Einzelrichter:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 28. August 2012 sowie der Einspracheentscheid der
Ausgleichskasse des Kantons Zürich vom 7. Februar 2011 werden aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 6000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Ausgleichskasse des Kantons Zürich hat die Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit insgesamt Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. April 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Einzelrichter: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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