Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 874/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_874/2012

Urteil vom 17. Januar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Bischofberger,
Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse P.________,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung
(Haftung des Arbeitgebers),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 14. August 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 8. September 2009 forderte die Ausgleichskasse P.________ von
S.________ als ehemaligen Verwaltungsrat der Firma X.________ AG Schadenersatz
für nicht bezahlte Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 57'515.05
für die Zeit vom 1. Februar 2007 bis 31. Mai 2008. Dagegen erhob der Belangte
Einsprache. Am 28. Januar 2011 wurden der Ausgleichskasse in den Betreibungen,
die während Konkursaufschub und Nachlassverfahren sowie ab Konkurseröffnung bis
zu deren Aufhebung geruht hatten, sechs Pfändungsverlustscheine ausgestellt.
Mit Einspracheentscheid vom 17. August 2011 bestätigte sie Schadenersatzpflicht
und Schadensbetrag.

B.
Die Beschwerde des S.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
mit Entscheid 14. August 2012 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt S.________,
der Entscheid vom 14. August 2012 sei aufzuheben und die Beschwerde
gutzuheissen, eventualiter die Sache an die Vorinstanz für weitere Abklärungen
zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid verpflichtet den Beschwerdeführer zur Bezahlung von
Schadenersatz in der Höhe von Fr. 57'515.05 für entgangene bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge und Beiträge nach kantonaler
Familienzulagenordnung. Die einzelnen Haftungsvoraussetzungen nach Art. 52 Abs.
1 AHVG, insbesondere Schaden, Widerrechtlichkeit (Missachtung von Vorschriften
betreffend die Pflicht zur Abrechnung und Bezahlung der Beiträge) und
Verschulden, sind von der Vorinstanz richtig wiedergegeben worden, worauf
verwiesen wird. Zu ergänzen ist, dass für die Erhebung von Schadenersatz für
entgangene Beiträge nach kantonalem Recht eine genügende gesetzliche Grundlage
besteht. § 35 Abs. 1 des aargauischen Gesetzes vom 23. Dezember 1963 über
Kinderzulagen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (SAR 815.100), in Kraft
gestanden bis 31. Dezember 2008, erklärt Art. 52 AHVG sinngemäss anwendbar (BGE
134 I 179 E. 6.3 S. 181 f.; SVR 2010 AHV Nr. 6 S. 19, 9C_780/2008 E. 5).

2.
Gemäss den nicht offensichtlich unrichtigen, für das Bundesgericht somit
verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) ist der
Beschwerdegegnerin aufgrund unbezahlt gebliebener Sozialversicherungsbeiträge
für die Zeit vom 1. Februar 2007 bis 31. Mai 2008 ein Schaden in der Höhe von
Fr. 57'515.05 entstanden. In diesem Zeitraum war der Beschwerdeführer
(einzelzeichnungsberechtigter) einziger Verwaltungsrat der abrechnungs- und
beitragszahlungspflichtigen X.________ AG. Am ... schied er aus dem
Verwaltungsrat aus. Zwei Tage vorher hatte das zuständige Zivilgericht der
Firma Nachlassstundung gewährt. Den Zeitpunkt des Schadenseintritts hat die
Vorinstanz auf den 28. Januar 2011 festgesetzt. Daraus folgt indessen nicht
automatisch, dass die Firma bis zu diesem Zeitpunkt noch zahlungsfähig gewesen
war, wie in der Beschwerde vorgebracht wird. Dieser Schluss lässt sich auch
nicht daraus ziehen, dass im Gesuch um Konkursaufschub vom 20. Dezember 2007
nicht von Überschuldung, sondern lediglich von Liquiditätsproblemen die Rede
war (vgl. Urteil 5A_269/2010 vom 3. September 2010 E. 3.3.1). Ebenso wenig
schliesst der Umstand, dass der Eintritt des Schadens erst nach dem Ausscheiden
des Beschwerdeführers aus dem Verwaltungsrat, womit seine Stellung als
formelles Organ (BGE 132 III 523 E. 4.5 S. 528; SVR 2012 AHV Nr. 4 S. 14,
9C_317/2011 E. 4.1.1) wegfiel, die Haftbarkeit für die bis dahin unbezahlt
gebliebenen Sozialversicherungsbeiträge aus (BGE 134 V 401 E. 5.1 S. 402 und
BGE 119 V 401 E. 4b S. 407 f.).

3.
Mit seinen Vorbringen bestreitet der Beschwerdeführer sinngemäss seine
Schadenersatzpflicht auch damit, bei Erlass der Schadenersatzverfügung vom 8.
September 2009 sei der Ausgleichskasse noch kein Schaden entstanden. Gemäss
Vorinstanz genügt, dass der geltend gemachte Schaden spätestens bei Erlass des
Einspracheentscheids vom 17. August 2011 bestand, was vorliegend zutreffe. Der
Schaden sei mit der Ausstellung von sechs definitiven Pfändungsverlustscheinen
am 28. Januar 2011 eingetreten (vgl. Art. 115 Abs. 1 SchKG in Verbindung mit
Art. 149 SchKG und Urteil 9C_48/2010 vom 9. Juni 2010 E. 2.2).

3.1 Für die Auffassung der Vorinstanz spricht, dass der Einspracheentscheid den
gerichtlichen Prüfungszeitraum begrenzt (BGE 131 V 353 E. 2 S. 354) und zudem
alleiniger Anfechtungsgegenstand im Beschwerdeverfahren vor dem kantonalen
Versicherungsgericht ist (BGE 133 V 50 E. 4.2.2 S. 55; SVR 2005 AHV Nr. 9 S.
30, H 53/04 E. 1.1.3). Umgekehrt bildet ein hinreichend feststehender Schaden
der Ausgleichskasse als Folge eines widerrechtlichen und schuldhaften
Verhaltens des abrechnungs- und beitragspflichtigen Arbeitgebers oder subsidiär
seiner Organe eine wesentliche Haftungsvoraussetzung (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts H 113/04 vom 31. Januar 2006 E. 3). Vorliegend kann
offenbleiben, ob für die Beurteilung der Frage, ob ein Schaden eingetreten ist,
auf den Zeitpunkt des Einspracheentscheides abzustellen oder ob der Schaden
bereits vor Erlass der Schadenersatzverfügung eingetreten sein muss.

3.2 Bei Widerruf einer Nachlassstundung oder Ablehnung eines Nachlassvertrags
hat sich die Ausgleichskasse im Hinblick auf rechtzeitige Schadenskenntnis und
Wahrung der Verjährungsfrist (vgl. Art. 52 Abs. 3 AHVG) über die Gründe hierfür
zu informieren (vgl. BGE 128 V 15 und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H
295/02 vom 2. Dezember 2003 E. 4.2). Es kann offenbleiben, ob dies auch, wie
vorliegend der Fall, bei Verwerfung des Nachlassvertrages durch die Gläubiger
gilt. Mit Schreiben vom 19. August 2009 teilte der damalige (einzige)
Verwaltungsrat der Firma der Ausgleichskasse mit, dass trotz eines erzielten
besseren Verkaufspreises für die Geschäftsliegenschaft als erwartet und selbst
bei einem Verzicht des früheren Verwaltungsrates (Beschwerdeführer) auf
Lohnforderungen in der Höhe von Fr. 16'000.- die Gläubiger der ersten und
zweiten Klasse nicht voll befriedigt werden könnten. Er schlug die Bezahlung
eines Betrages von Fr. 51'000.- per Saldo aller Ansprüche vor, dies auch um
einen Konkurs mit ungewissem Ausgang zu vermeiden. Die Ausgleichskasse hatte in
der Nachlassstundung eine Forderungssumme von insgesamt Fr. 78'881.40 (Fr.
21'366.35 [PV-Beiträge, 1. Klasse] + Fr. 57'515.05 [AHV-Beiträge, 2. Klasse])
eingegeben. Spätestens aufgrund des Schreibens vom 19. August 2009 musste sie
von einem erheblichen Teilschaden ausgehen, was genügte (BGE 121 V 240 E. 3c/bb
S. 242; SVR 2011 AHV Nr. 13 S. 42, 9C_325/2010 E. 2.1.1 mit Hinweis). Die
Haftungsvoraussetzung eines Schadens war somit bei Erlass der
Schadenersatzverfügung vom 8. September 2009 gegeben.

4.
Weiter macht der Beschwerdeführer geltend, er habe alles unternommen, um einen
Schaden der Ausgleichskasse abzuwenden. Die Vorinstanz habe sich mit seinen
diesbezüglichen Vorbringen nur ungenügend auseinandergesetzt und damit seinen
Gehörsanspruch verletzt.

4.1 Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) folgt unter
anderem die Pflicht der Behörden, ihre Entscheide zu begründen (ausdrücklich
auch Art. 61 lit. h ATSG und Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG; Urteil 9C_269/2012 vom
6. August 2012 E. 3.1) und zwar so, dass sie von den Betroffenen gegebenenfalls
sachgerecht angefochten werden können. Die Begründung muss kurz die
wesentlichen Überlegungen nennen, von denen sie sich hat leiten lassen und auf
die sich ihr Entscheid stützt. Dies bedeutet indessen nicht, dass sie sich
ausdrücklich mit jeder Tatsachenbehauptung und jedem rechtlichen Einwand
auseinandersetzen und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegen muss.
Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte
beschränken (BGE 136 I 229 E. 5.2 S. 236; 133 III 439 E. 3.3 S. 445; 124 V 180
E. 1a S. 181; Urteil 9C_724/2012 vom 29. Oktober 2012 E. 4.2).

4.2 Die Vorinstanz hat nur, aber immerhin zu einzelnen Umständen, die nach
Erachten des Beschwerdeführers gegen ein absichtliches oder grobfahrlässiges
Verhalten sprechen, Stellung genommen und gestützt auf entsprechende
Sachverhaltsfeststellungen dargelegt, weshalb sie für die Haftungsfrage nicht
von Bedeutung sind. Selbst wenn sie damit die Begründungspflicht verletzt haben
sollte, ergibt sich daraus nichts zu seinen Gunsten. Wer vor Bundesgericht im
Zusammenhang mit einer Sachverhaltsrüge eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
geltend macht, hat darzulegen, dass und inwiefern der Mangel für den Ausgang
des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
Dabei genügt die Glaubhaftmachung eines anderen Entscheides in der Sache bei
korrekter Vorgehensweise (Art. 42 Abs. 2 bzw. Art. 106 Abs. 2 BGG; SVR 2011 AHV
Nr. 2 S. 4, 9C_1001/2009 E. 3.2 mit Hinweisen). Dazu wäre vorliegend in erster
Linie nötig, zumindest Zweifel an der Richtigkeit der Feststellung des
kantonalen Versicherungsgerichts zu wecken, der Beschwerdeführer habe es
unterlassen, trotz (angeblich) genügend vorhandener Mittel bei Ausscheiden aus
dem Verwaltungsrat die offenen Beiträge bis zu diesem Zeitpunkt zu begleichen.
Das vermögen die in der Beschwerde erwähnten, von der Vorinstanz nicht
ausdrücklich gewürdigten Umstände klarerweise nicht. Wenn er bis zu seinem
Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat am ... bzw. bis zur Bewilligung der
Nachlassstundung zwei Tage vorher die nötigen und erforderlichen Massnahmen
getroffen, u.a. der Firma liquide Mittel zugehalten haben will, wie er
vorbringt, ist nicht einsehbar, weshalb er nicht auch dafür sorgte, dass damit
die offenen Beiträge tatsächlich bezahlt wurden. Dies gilt umso mehr, als nach
seinen Angaben keine anderen Schulden bezahlt worden waren.
Unerheblich ist, dass im Entscheid über die Gewährung der Nachlassstundung vom
... festgestellt worden war, mit dem Liquidationserlös könnten die Gläubiger
der ersten und zweiten Klasse, u.a. somit die Ausgleichskasse (Art. 219 Abs. 4
SchKG), voraussichtlich - was der Beschwerdeführer unerwähnt lässt - befriedigt
werden. Der Entscheid erfolgte im summarischen Verfahren und stützte sich in
erster Linie auf die Angaben und die Beurteilung des Beschwerdeführers.
Tatsächlich ist es denn auch nicht zu einem Nachlassvertrag gekommen. Dass
Grund dafür eine mangelhafte Durchführung des Nachlassverfahrens (Art. 293 ff.
SchKG) war, macht der Beschwerdeführer nicht geltend. Unter diesen Umständen
zielt sein Vorbringen ins Leere, es seien genügend Mittel vorhanden gewesen,
damit der Sachwalter die "Erstklassforderung" der Ausgleichskasse hätte
begleichen können; dass dies nicht geschehen sei, habe nicht mehr er zu
verantworten (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 267/02 vom 21.
Januar 2004 E. 6.2).

5.
Die übrigen Vorbringen in der Beschwerde lassen ebenfalls keine
Bundesrechtswidrigkeit des angefochtenen Entscheids erkennen.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. Januar 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Fessler