Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 848/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_848/2012 {T 0/2}

Urteil vom 14. Februar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

M.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,
(Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 11. September 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1957 geborene M.________ bezog seit 1. März 1991 eine halbe Rente der
Invalidenversicherung samt zwei Kinderrenten. Mit Verfügung vom 4. Oktober 2000
sprach ihr die IV-Stelle Luzern ab 1. Juni 1999 eine ganze Rente zu. Das im
März 2005 eingeleitete Revisionsverfahren ergab keine Änderung des Anspruchs.
Im Rahmen eines weiteren Revisionsverfahrens wurde M.________ durch die MEDAS
untersucht und begutachtet (Expertise vom 21. Oktober 2009). Nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 29.
April 2010 die ganze Rente auf Ende Mai 2010 auf.

B.
In Gutheissung der Beschwerde von M.________ hob das Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 11.
September 2012 die Verfügung vom 29. April 2010 auf und stellte fest, dass sie
weiterhin Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung habe.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle Luzern, der Entscheid vom 11. September 2012 sei aufzuheben und die
Richtigkeit der Verfügung vom 29. April 2010 festzustellen; dem Rechtsmittel
sei aufschiebende Wirkung zu erteilen.

Das kantonale Gericht und M.________ stellen Antrag auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen
lassen.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat die Verfügung vom 4. Oktober 2000 als zeitliche
Vergleichsbasis für die Prüfung einer anspruchserheblichen Änderung des
Invaliditätsgrades (Art. 17 Abs. 1 ATSG) genommen, was unbestritten ist (vgl.
BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114 und Urteil 9C_889/2011 vom 8. Februar 2012 E. 3.2).
In Würdigung der medizinischen Akten ist sie zum Ergebnis gelangt, überwiegend
wahrscheinlich habe sich der Gesundheitszustand seither bis zum Erlass der
angefochtenen Verfügung vom 29. April 2010 nicht erheblich verbessert.
Ebenfalls habe der Statuswechsel von Teilerwerbstätigkeit (im Umfang von 50 %
oder 75 % eines Normalarbeitspensums) und daneben Führung des Haushalts zu
Vollerwerbstätigkeit bzw. die damit verbundene Änderung der
Invaliditätsbemessungsmethode (vgl. BGE 125 V 146 E. 2 S. 148 ff. in Verbindung
mit BGE 130 V 393) bereits zum 1. Juli 2002 (Ende der obligatorischen
Schulpflicht des jüngeren Sohnes) stattgefunden, weshalb auch in erwerblicher
Hinsicht kein Revisionsgrund vorliege.

2.
Die Beschwerde führende IV-Stelle bringt richtig vor, dass der vorinstanzlich
festgestellte Statuswechsel zum 1. Juli 2002 nach Erlass der zeitliche
Vergleichsbasis bildenden Verfügung vom 4. Oktober 2000 stattfand und somit
bezogen auf die Verfügung vom 29. April 2010 an sich einen Revisionsgrund
darstellt (Urteil 8C_854/2011 vom 10. Februar 2012 E. 2.3). Die
Beschwerdegegnerin hatte zwar im Revisionsgesuch vom 8. Juni 1999 einen
Statuswechsel von Teilerwerbstätigkeit (50 %) mit Aufgabenbereich (Haushalt) zu
Vollerwerbstätigkeit (100 %) beantragt. Die IV-Stelle nahm in der Verfügung vom
4. Oktober 2000 diesbezüglich indessen keine Änderung an und ermittelte den
Invaliditätsgrad nach der gemischten Methode. Auf Intervention des
Rechtsvertreters der Versicherten im Oktober 2001 erhöhte sie den Anteil der
Erwerbstätigkeit zuerst auf 75 % und zum 1. Juli 2002 auf 100 % (Mitteilung vom
6. November 2001). Unter diesen Umständen ist fraglich, ob die Verfügung vom 4.
Oktober 2000 insofern zweifellos unrichtig war, als die Beschwerdegegnerin
nicht als Vollerwerbstätige eingestuft worden war, mit der Folge, dass mit der
Vorinstanz ein Revisionsgrund wegen Statuswechsel zu verneinen wäre. In
Betracht fiel auch eine hypothetische Teilerwerbstätigkeit von 75 % eines
Normalarbeitspensums, was an der Bemessungsmethode nichts geändert hätte. Die
Frage kann indessen offenbleiben, da ein anderer Revisionsgrund gegeben ist.

3.
3.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, aufgrund des psychiatrischen
Teilgutachtens der MEDAS vom 17. August 2009 und des Ergänzungsschreibens der
Expertin vom 25. Juni 2012 sei nicht ausgewiesen, inwiefern sich der
Gesundheitszustand trotz veränderter Diagnosen relevant verbessert haben
sollte. Es sei auch nicht ersichtlich, wie sich der Schweregrad des Leidens in
so drastischer Weise verringert haben oder es der Versicherten gelungen sein
sollte, sich besser an das Leiden anzupassen, dass sich daraus eine Zunahme der
Arbeitsfähigkeit von 50 % auf 80 % ergab. Aus neuropsychologischer Sicht sodann
hätte die Untersuchung im Rahmen der MEDAS-Begutachtung verglichen mit der
Untersuchung in der Klinik V.________ im November 1996 zwar Verbesserungen in
den mentalen Leistungen gezeigt. Die damals diagnostizierten leichten
neuropsychischen Beeinträchtigungen seien aktuell nicht mehr vorhanden. Es gäbe
keine Hinweise für eine hirnorganische Schädigung. Im neuropsychologischen
Bericht vom 24. Juli 2009 werde indessen nicht konkret dargelegt und begründet,
worin genau sich die Verbesserung der mentalen Leistungen gezeigt habe. Es
werde auch darauf hingewiesen, dass die Untersuchung drei Stunden gedauert habe
und keine Rückschlüsse auf die Belastbarkeit im Verlaufe eines Tages zulasse.

3.2 Die IV-Stelle rügt, es verletze den Untersuchungsgrundsatz nach Art. 61
lit. c ATSG, eine Verbesserung des Gesundheitszustandes aus
neuropsychologischer Sicht festzustellen, mangels Begründung jedoch nicht als
ausgewiesen zu betrachten, ohne diesbezügliche Abklärungen vorzunehmen.
3.2.1 Im Gutachten der Klinik V.________ vom 19. Dezember 1996 wurden neben
einem chronischen cervicocephalen Syndrom und einer Migräne leichtgradige
neuropsychologische Defizite diagnostiziert. In den meisten durchgeführten
Verfahren habe sich ein leicht beeinträchtigtes neuropsychologisches Profil
ergeben. Für die Ergebnisse im Einzelnen wurde auf den neuropsychologischen
Untersuchungsbericht verwiesen. Aufgrund der klinischen und
neuropsychologischen Befunde wurde die Arbeitsfähigkeit als Mitarbeiterin im
Geschäft des Ehemannes (vor allem Erledigung kaufmännisch-administrativer
Arbeiten inkl. Buchhaltung und Kundenbetreuung) auf etwa 50 % eingeschätzt.
3.2.2 Der im Gutachten erwähnte neuropsychologische Untersuchungsbericht ist
nicht in den Akten. Es ist davon auszugehen, dass der Bericht auch den
Neuropsychologen der MEDAS nicht vorlag. Sie konnten daher auch nicht näher
darlegen, worin genau sich die Verbesserung der mentalen Leistungen zeigte, wie
auch die Vorinstanz festgestellt hat. Jedoch ist dieser Punkt nicht
entscheidend. Während die Untersuchungen in der Klinik V.________ im November
1996 leichtgradige neuropsychologische Defizite zeigten, ergaben die sehr
eingehend beschriebenen und dokumentierten Untersuchungen im Rahmen der
MEDAS-Begutachtung eine verbesserte mentale Leistungsfähigkeit in dem Sinne,
dass sich verglichen mit damals keine neuropsychische Störungen mehr fanden,
die zu qualitativen und/oder quantitativen Beeinträchtigungen führten. Damit
ist aber zwingend und unwiderlegbar von einer Verbesserung des
Gesundheitszustandes aus neuropsychologischer Sicht im Vergleichszeitraum
auszugehen, ohne dass es darauf ankommen könnte, welche diesbezüglich
massgebenden Funktionen inwiefern seinerzeit beeinträchtigt waren. Die Änderung
ist auch revisionsrechtlich bedeutsam, da die im Gutachten vom 19. Dezember
1996 diagnostizierten neuropsychologischen Defizite sich auf die
Arbeitsfähigkeit auswirkten. Demgegenüber ist die Beschwerdegegnerin gemäss dem
Bericht vom 24. Juli 2009 aus neuropsychologischer Sicht in ihrer
Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt.

3.3 Bei diesem Ergebnis kann offenbleiben, ob auch aus rheumatologischer Sicht
von einer revisionsrechtlich erheblichen Verbesserung des Gesundheitszustandes
oder von einer verbesserten Anpassung an das Leiden (Urteil 9C_889/2011 vom 8.
Februar 2012 E. 4.2.1) seit der Verfügung vom 4. Oktober 2000 auszugehen ist,
wie in der Beschwerde vorgebracht wird.

4.
Ist ein Revisionsgrund gegeben, ist der Invaliditätsgrad auf der Grundlage
eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts neu und ohne Bindung
an frühere Invaliditätsschätzungen zu ermitteln (Urteile 9C_251/2012 vom 5.
Juni 2012 E. 4.2 und 9C_882/2010 vom 25. Januar 2011 E. 1.2; vgl. auch BGE 117
V 198 E. 4b S. 200).
Die Arbeitsfähigkeit für die hier interessierende Zeit ab 1. Juni 2010 (Art.
88bis Abs. 2 lit. a IVV) ist gestützt auf das MEDAS-Gutachten vom 21. Oktober
2009 festzusetzen. Die Vorinstanz hat der Expertise (vollen) Beweiswert
zuerkannt, was auch die Beschwerdegegnerin nicht bestreitet. Danach besteht
eine Arbeitsfähigkeit von 80 % im gelernten Beruf als Coiffeuse und in jeder
Verweistätigkeit. Die Einschränkung von 20 % ist psychisch bedingt. Ob sie auch
rechtlich relevant und demzufolge beim Einkommensvergleich zu berücksichtigen
ist, was die IV-Stelle unter Hinweis auf das Urteil 9C_710/2011 vom 20. März
2012 E. 4.4 bzw. die Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352 verneint - die
psychiatrische Gutachterin der MEDAS stellte einzig die Diagnose einer
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nach HWS-Distorsionstrauma vor 20
Jahren (ICD-10 F45.40) - braucht nicht entschieden zu werden. Selbst unter der
Annahme einer Arbeitsfähigkeit von lediglich 65 % ergäbe der
Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG) keinen
anspruchsbegründenden Invaliditätsgrad von 40 % (Art. 28 Abs. 2 IVG; zum Runden
BGE 130 V 121). Gemäss Feststellung der Vorinstanz beträgt das Valideneinkommen
Fr. 51'377.-, das Invalideneinkommen bei einer Arbeitsfähigkeit von 30 % Fr.
15'410.- (recte: Fr. 15'413.- [Fr. 51'377.- x 0,3]). Daraus ergibt sich bei
einer Arbeitsfähigkeit von 65 % ein Invaliditätsgrad von 35 %.

5.
Die Beschwerdegegnerin bringt vor, nachdem sie seit 1. März 1991 eine halbe
Rente und seit 1. Juni 1999 eine ganze Rente beziehe, stelle sich die Frage
nach der Selbsteingliederungsfähigkeit. Die IV-Stelle habe es unterlassen, die
Verwertbarkeit der wiedergewonnenen Arbeitsfähigkeit konkret zu prüfen.

5.1 Auszugehen ist vom Grundsatz der erwerblichen Verwertbarkeit einer
verbesserten oder wiedergewonnenen Arbeitsfähigkeit auf dem Weg der
Selbsteingliederung. Ausnahmsweise können - aus medizinischer oder
beruflich-erwerblicher Sicht - vom Gesetz vorgesehene Eingliederungsmassnahmen
angezeigt sein, etwa in Fällen langjähriger Absenz vom Arbeitsmarkt und
allenfalls daraus sich ergebender psychischer Probleme, eher schwachem
Leistungsprofil hinsichtlich Wissen und intellektuellen Fähigkeiten sowie bei
Fehlen nennenswerter beruflicher Erfahrung. Dagegen haben nicht gesundheitlich
bedingte Umstände, welche einer erfolgreichen Eingliederung entgegenstehen,
ausser Acht zu bleiben (Urteil 9C_882/2010 vom 25. Januar 2011 E. 8.1 mit
Hinweisen). Weiter muss die versicherte Person mindestens das Alter 55
zurückgelegt oder seit mehr als 15 Jahren eine Rente bezogen haben (SVR 2012 IV
Nr. 25 S. 104, 9C_363/2011 E. 3.1; 2011 IV Nr. 73 S. 220, 9C_228/2010 E. 3.3;
2011 IV Nr. 30 S. 86, 9C_163/ 2009 E. 4.2.2; Urteile 9C_878/2012 vom 26.
November 2012 E. 3.3 und 8C_612/2012 vom 28. September 2012 E. 4.1).

5.2 Die Beschwerdegegnerin war im Zeitpunkt der Rentenaufhebung 53 Jahre alt
und hatte während 19 Jahren und drei Monaten eine Rente bezogen. Wie sie selber
einräumt, bot ihr die IV-Stelle "Arbeitsvermittlungs-Unterstützung" an, welche
sie indessen nicht angenommen habe, da sie eine begonnene Ausbildung gerne
beenden wollte. Die Beschwerdeführerin erachtete somit Arbeitsvermittlung im
Sinne von Art. 18 IVG als allenfalls notwendige, sicher aber hinreichende
Eingliederungsmassnahme im Hinblick auf die erwerbliche Verwertung der
spätestens seit dem MEDAS-Gutachten vom 21. Oktober 2009 verbesserten bzw.
wiedergewonnenen Arbeitsfähigkeit. Dies ist aufgrund der Akten nicht zu
beanstanden. Die Beschwerdegegnerin ist sowohl im angestammten Beruf als
Coiffeuse, als auch in jeder Verweistätigkeit mindestens zu 80 % arbeitsfähig
(vorne E. 4). Darunter fallen insbesondere auch die Tätigkeit als Kosmetikerin
und die aktuell ausgeübte Tätigkeit als ........ . Gemäss IV-Stelle sodann
baute die Beschwerdegegnerin ab 2006 ein ........studio auf und bildete sich
seither auf verschiedenen Gebieten weiter, was unwidersprochen geblieben ist.
Unter diesen Umständen ist von einer genügenden Selbsteingliederungskapazität
auszugehen. Die Rüge, die IV-Stelle habe zu Unrecht diesbezügliche Abklärungen
unterlassen, ist somit unbegründet.

6.
Mit dem Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde gegenstandslos.

7.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 11. September 2012
aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Februar 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Fessler