Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 826/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_826/2012

Urteil vom 22. August 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
X.________ AG in Nachlassliquidation,
vertreten durch Liquidator Rechtsanwalt Karl Wüthrich,
und dieser vertreten durch
Rechtsanwältin Cristina Solo de Zaldívar,
Beschwerdeführerin,

gegen

Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber, Siewerdtstrasse 9, 8050 Zürich,
Beschwerdegegnerin,

Schweizerische Eidgenossenschaft, Staatssekretariat für Wirtschaft (seco),
Effingerstrasse 31, 3003 Bern.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 11. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.

A.a. Nachdem der X.________ AG die provisorische Nachlassstundung bewilligt
worden war, richtete die Schweizerische Eidgenossenschaft (nachfolgend: Bund)
"Incentive"-Zahlungen (sic: Motivationsprämien) von Fr. 7'204'234.95 an
ehemalige Mitarbeiter der X.________ AG aus und liess sich deren entsprechende
Ansprüche abtreten. Der Bund zog davon den Arbeitnehmeranteil der
Sozialversicherungsbeiträge ab und lieferte ihn an die Ausgleichskasse Zürcher
Arbeitgeber ab. Er entrichtete jedoch keine paritätischen Arbeitgeberbeiträge.
Die Ausgleichskasse setzte diese auf Fr. 697'642.75 (einschliesslich
Verwaltungskosten) fest (Abrechnung vom 16. August 2004 und Forderungseingabe
vom 17. August 2004). Die Y.________ AG in Nachlassliquidation teilte ihr mit,
diese Beitragsforderung erfasse auch Auszahlungen, die an ehemalige Mitarbeiter
anderer Konzerngesellschaften (als der X.________ AG in Nachlassliquidation)
geleistet worden seien (Schreiben vom 24. August 2006).

A.b. Die Ausgleichskasse zog ihre Abrechnung in Wiedererwägung und berechnete
neu - allein bezogen auf die X.________ AG - Arbeitgeberbeiträge in Höhe von
Fr. 414'747.68 (einschliesslich Verwaltungskosten); sie machte diesen Betrag
sowohl mit Verfügung vom 13. September 2006 gegenüber der X.________ AG wie
auch im Nachlassverfahren zur Kollokation geltend. Die gegen die Verfügung vom
13. September 2006 erhobene Einsprache sistierte die Ausgleichskasse mit Blick
auf den ausstehenden Kollokationsentscheid betreffend die Forderung des Bundes
aus "Incentive-Leistungen". Mit Kollokationsverfügung des Nachlassverwalters
vom 13. Februar 2007 wurde die Forderung des Bundes im Umfang von Fr.
1'676'715.50 (dritte Klasse) anerkannt und im Umfang von Fr. 5'527'519.45
abgewiesen. Diese Verfügung wurde rechtskräftig. Gegenüber der Ausgleichskasse
erging am 15. April 2008 eine Kollokationsverfügung, wonach die Forderung über
Fr. 414'747.68 im Betrag von Fr. 106'352.80 anerkannt (zweite Klasse) und im
Umfang von Fr. 308'394.88 abgewiesen werde. Das Bezirksgericht (Verfügung vom
20. Mai 2008) und das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich (Beschluss
vom 6. August 2008) traten nicht auf eine dagegen erhobene Klage der
Ausgleichskasse ein. Mit Zwischenverfügung vom 1. Oktober 2008 hob die
Ausgleichskasse die Sistierung des Einspracheverfahrens auf.

A.c. Die Ausgleichskasse wies die Einsprache der X.________ AG ab mit der
Begründung, die vom Bund an die ehemaligen Mitarbeiter der X.________ AG
ausgerichteten Incentive-Leistungen hingen wirtschaftlich mit deren
Arbeitsverhältnis zusammen, weshalb es um beitragspflichtigen Lohn im Sinne von
Art. 5 Abs. 2 AHVG gehe. Für die Beitragspflicht nicht entscheidend sei, ob es
sich um geschuldete oder freiwillige Leistungen handle; daher sei nicht
entscheidend, dass der grössere Teil der vom Bund angemeldeten Forderung im
Kollokationsverfahren rechtskräftig abgewiesen worden sei. Für die strittigen
Arbeitgeberbeiträge habe die X.________ AG einzustehen. Von Dritten (hier dem
Bund) ausbezahlte Leistungen, die ihrer Natur nach als Arbeitgeberleistungen zu
qualifizieren seien, lösten praxisgemäss direkt beim Arbeitgeber eine
Beitragspflicht aus. Im Übrigen beziehe sich die Beitragspflicht nicht nur auf
die dem Bund zugekommene Nachlassdividende, sondern auf die vollständigen
Zahlungen des Bundes. Die Arbeitgeberbeiträge seien im Nachlassverfahren in der
zweiten Klasse zu kollozieren (Entscheid vom 3. November 2009).

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich trat auf die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde der X.________ AG vom 4. Dezember 2009
nicht ein (Beschluss vom 11. Juli 2012).

C.
Die X.________ AG führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit den Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache
an das kantonale Gericht zurückzuweisen; dieses sei anzuweisen, auf die
Beschwerde einzutreten und materiell über die Frage der Beitragspflicht der
Beschwerdeführerin zu entscheiden. Eventuell sei die Verfügung der
Ausgleichskasse vom 13. September 2006 dahingehend abzuändern, dass die
Beschwerdeführerin Arbeitgeberbeiträge nur auf der Basis der im
Nachlassverfahren ausbezahlten Dividende auf den Incentive-Zahlungen für 13.
Monatslohn (d.h. auf der Nachlassdividende auf der anerkannten Forderungssumme
von Fr. 106'352.80) zu bezahlen habe.
Die Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber schliesst auf Abweisung der Beschwerde;
eventuell sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die
Beschwerdeführerin in Bestätigung der strittigen Verfügung vom 13. September
2006 zu verpflichten, Arbeitgeberbeiträge von Fr. 414'747.68 zu bezahlen. Für
die beigeladene Schweizerische Eidgenossenschaft beantragt das
Staatssekretariat für Wirtschaft, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Strittig ist, ob das kantonale Sozialversicherungsgericht zu Recht nicht auf
die Beschwerde der X.________ AG in Nachlassliquidation gegen den
Einspracheentscheid vom 3. November 2009 eingetreten ist.
Die Vorinstanz erwog, mit der verfügungsweisen Forderungseingabe vom 17. August
2004 in Verbindung mit der Abrechnung vom 16. August 2004 habe die
Ausgleichskasse festgestellt, dass die ehemalige Arbeitgeberin bzw. deren
Nachlass, und nicht etwa der Bund, der die Incentive-Zahlungen geleistet hat,
Arbeitgeberbeiträge auf diesen Zahlungen schuldet. Die verfügte Forderung über
Fr. 697'642.75 sei rechtskräftig geworden. Auf das Wiedererwägungsgesuch
(Schreiben der Y.________ AG in Nachlassliquidation vom 24. August 2006) sei
die Ausgleichskasse eingetreten. Dabei habe die X.________ AG weder den
Lohncharakter der Incentive-Zahlungen noch ihre Zuständigkeit zur Tragung der
Arbeitgeberbeiträge in Frage gestellt; ansonsten wäre eine Aufteilung der
Zahlungen auf die einzelnen Gesellschaften gar nicht nötig gewesen. Wenn die
Ausgleichskasse aufgrund der Einwendungen der X.________ AG eine neue
Abrechnung erstellt und reduzierte Arbeitgeberbeiträge auf Incentive-Leistungen
von Fr. 414'747.68 in Rechnung gestellt und im Nachlass eingegeben habe, so
habe sie lediglich die vom Bund an die Mitarbeitenden anderer Gesellschaften
ausbezahlten Zahlungen ausgeklammert und die daraus folgenden
Arbeitgeberbeiträge im Verhältnis zur X.________ AG wiedererwägungsweise
aufgehoben. Unberührt geblieben seien die Fragen der grundsätzlichen
Beitragspflicht der X.________ AG und der Qualifikation der
Incentive-Leistungen an ihre (ehemaligen) Mitarbeitenden als AHV-pflichtige
Löhne. In Bezug auf diese liege bereits ein rechtskräftiger Entscheid vor. Eine
gerichtliche Beurteilung würde insoweit bedeuten, die Verwaltung zu
verpflichten, eine rechtskräftige Verfügung unter einem anderen Titel in
Wiedererwägung zu ziehen. Die Verwaltung sei aufgrund des Prinzips der
Selbstbindung nicht befugt, durch voraussetzungslosen Erlass einer zweiten
Verfügung über das gleiche Rechtsverhältnis den Beschwerdeweg zur gerichtlichen
Beurteilung zu eröffnen. Korrekterweise hätte die Ausgleichskasse daher nicht
auf die einspracheweise erhobenen Rügen betreffend die Qualifizierung der
Incentive-Leistungen als massgeblichen Lohn sowie die Zahlungspflicht der
X.________ AG eintreten dürfen.

2.

2.1. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann ein Versicherungsträger auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese
zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung
ist. Die Wiedererwägung wird beim Fehlen von Revisionsgründen (vgl. Art. 53
Abs. 1 ATSG) in das Ermessen des Versicherungsträgers gelegt; es besteht kein
gerichtlich durchsetzbarer Anspruch darauf (BGE 133 V 50 E. 4.1 S. 52 mit
Hinweisen).
Wenn die Verwaltung auf ein Wiedererwägungsgesuch eintritt, die
Wiedererwägungsvoraussetzungen prüft und anschliessend einen Sachentscheid
trifft, mit welchem die materiellen Begehren des Gesuchstellers abgelehnt
werden, weil die Wiedererwägungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, ist dieser
Sachentscheid mit Einsprache und hernach beschwerdeweise anfechtbar. Die
Überprüfung muss sich in einem solchen Fall indessen auf die Frage beschränken,
ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der bestätigten Verfügung
gegeben sind. Thema des Einsprache- und des Beschwerdeverfahrens bildet also
einzig, ob der Versicherungsträger zu Recht die ursprüngliche, formell
rechtskräftige Verfügung nicht als zweifellos unrichtig und/oder deren
Korrektur als von unerheblicher Bedeutung qualifizierte (BGE 119 V 475 E. 1b/cc
S. 479; 117 V 8 E. 2a S. 13; 116 V 62).

2.2. Der Streitgegenstand des auf die Verfügung vom 13. September 2006
folgenden Einsprache- und Beschwerdeverfahrens beschränkt sich mithin
notwendigerweise auf diejenigen Punkte des Rechtsverhältnisses, die beim
Zurückkommen entweder effektiv neu geregelt wurden oder hinsichtlich welcher
die Wiedererwägungsvoraussetzungen verneint wurden. Daran ändert die relativ
umfassende Auseinandersetzung mit der Beitragspflichtigkeit der
Beschwerdeführerin im Einspracheentscheid vom 3. November 2009 nichts. So wie
das Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch nicht durch Einsprache
anfechtbar ist (BGE 133 V 50), ist dieser Rechtsbehelf auch mit Bezug auf
Fragen nicht gegeben, die nicht schon in der Rückkommensverfügung von Amtes
wegen auf ihre zweifellose Unrichtigkeit und die erhebliche Bedeutung einer
Berichtigung hin geprüft wurden. Aus diesem Grund tritt hier der
Einspracheentscheid insoweit nicht an die Stelle der vorangehenden
Rückkommensverfügung (vgl. dazu BGE 131 V 407 E. 2.1.2 S. 411). Damit besteht
schliesslich kein Raum für eine Übernahme der Grundsätze nach BGE 125 V 413 E.
2b S. 416, wonach die bestimmenden Elemente (Teilaspekte) des verfügungsweise
festgelegten Rechtsverhältnisses für die begriffliche Umschreibung des
Streitgegenstands nicht von Bedeutung sind, hier in dem Sinne, dass sämtliche
Aspekte der Beitragspflicht voraussetzungslos neu gerichtlich überprüft werden
könnten.

2.3. Die Ausgleichskasse hat ihre frühere Festlegung in der Verfügung vom 13.
September 2006 nur teilweise abgeändert, nämlich insofern, als sie die
Arbeitgeberbeiträge der Beschwerdeführerin auf die Incentive-Leistungen
beschränkt hat, welche auf diejenigen Mitarbeiter entfielen, die ehemals bei
der X.________ AG angestellt waren. Auf ihren Entscheid zurückgekommen ist die
Verwaltung also nur mit Bezug auf die Beitragshöhe, nicht aber hinsichtlich der
prinzipiellen Beitragspflicht der Beschwerdeführerin. Würde der Auffassung der
Beschwerdeführerin gefolgt und das Rechtsverhältnis insgesamt auf den Prüfstand
gestellt, so liefe dies, wie die Vorinstanz zutreffend erkannte, darauf hinaus,
dass das Gericht der Verwaltung inhaltliche Vorgaben über die Neugestaltung des
Rechtsverhältnisses macht. Mangels einer gesetzlichen Grundlage fällt eine
solche Ausdehnung des Gegenstandes einer Wiedererwägung ausser Betracht, zumal
das Gericht die Verwaltung nicht einmal in ergebnisoffener Weise zu einer
Wiedererwägung verhalten darf (vgl. Urteil 9C_836/2010 vom 20. Mai 2011 E. 3.2
= SVR 2011 EL Nr. 8 S. 25).

3.
Nach dem Gesagten ist die Vorinstanz zu Recht nicht auf die Beschwerde vom 4.
Dezember 2009 eingetreten.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend trägt die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dem
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. August 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Traub

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