Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 808/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_808/2012

Urteil vom 15. Februar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
M.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Andreas Bilger,
Beschwerdeführerin,

gegen

HOTELA Krankenkasse, rue de la Gare 18, 1820 Montreux, vertreten durch
Rechtsanwalt Lorenz Fivian,
avenue de la Gare 1, 1001 Lausanne,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri vom 31. August
2012.

Sachverhalt:

A.
M.________ unterzog sich am 14. Januar 2010 einer Unterleibs-Operation. Nach
Ablauf der Wartefrist von 60 Tagen richtete die HOTELA Krankenkasse
(nachfolgend: Hotela) für sie Krankentaggelder aus, die sie auf den 31. August
2010 einstellte mit der Begründung, die medizinische Abklärung habe eine
uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit ergeben (Verfügung vom 8. Februar 2011 und
Einspracheentscheid vom 1. April 2011). Das dagegen am 20. Mai 2011 eingelegte
Rechtsmittel zog die Versicherte - nachdem die Hotela auf Nichteintreten
geschlossen hatte mit der Begründung, die Beschwerdefrist sei um einen Tag
verpasst - zurück, was zur Abschreibung des gerichtlichen Beschwerdeverfahrens
führte (Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri vom 8. Juli 2011).
Im September 2011 ersuchte M.________ um Revision der Verfügung vom 8. Februar
2011 und des Einspracheentscheids vom 1. April 2011. Die Hotela wies das Gesuch
mit Verfügung vom 11. Oktober 2011 ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid
vom 21. November 2011 fest.

B.
Die Beschwerde der M.________ wies das Obergericht des Kantons Uri mit
Entscheid vom 31. August 2012 ab.

C.
M.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, der Entscheid vom 31. August 2012 sei aufzuheben und die Hotela sei
anzuweisen, den Einspracheentscheid vom 1. April 2011 in Revision zu ziehen;
zudem seien ihr Krankentaggeldleistungen mit Wirkung ab dem 1. September 2010
zuzusprechen.

Erwägungen:

1.
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).

1.2 Die Beschwerdeführerin reicht neu den Bericht des Zentrums X.________ vom
2. Oktober 2012 ein. Es wird indessen nicht dargelegt und ist auch nicht
ersichtlich, inwiefern der angefochtene Entscheid dazu Anlass geben soll,
weshalb er unzulässig ist und unbeachtet bleibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).

1.3 Gegenstand des mit Einspracheentscheid vom 1. April 2011 resp. mit
Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri vom 8. Juli 2011 beendeten
Verfahrens bildete der Anspruch auf Taggelder vom 1. September 2010 bis 1.
April 2011 (vgl. BGE 131 V 407 E. 2.1.2.1 S. 412; SVR 2009 IV Nr. 57 S. 177,
9C_149/2009 E. 4.4; Urteil 9C_235/2009 vom 30. April 2009 E. 3.3). Streitig und
zu prüfen ist, ob in Bezug auf den Einspracheentscheid vom 1. April 2011 die
Voraussetzungen für eine (prozessuale) Revision gegeben sind.

2.
2.1 Gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG müssen formell rechtskräftige Verfügungen und
Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person
oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen
entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich
war.

2.2 Der Begriff "neue Tatsachen oder Beweismittel" ist bei der (prozessualen)
Revision eines Verwaltungsentscheides nach Art. 53 Abs. 1 ATSG gleich
auszulegen wie bei der Revision eines kantonalen Gerichtsentscheides gemäss
Art. 61 lit. i ATSG oder bei der Revision eines Bundesgerichtsurteils gemäss
Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG (vgl. SVR 2010 IV Nr. 55 S. 169, 9C_764/2009 E. 3.1
mit Hinweisen; Urteile 8C_152/2012 vom 3. August 2012 E. 5.1 und 8C_422/2011
vom 5. Juni 2012 E. 4).
Neu sind Tatsachen, die sich bis zum Zeitpunkt, da im Hauptverfahren noch
tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren, verwirklicht haben, jedoch
dem Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren.
Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich sein, d.h. sie müssen geeignet
sein, die tatbeständliche Grundlage des zur Revision beantragten Entscheids zu
verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer andern
Entscheidung zu führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die
Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen
zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil
des Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind. Erheblich ist ein Beweismittel,
wenn anzunehmen ist, es hätte zu einem anderen Urteil geführt, falls das
Gericht resp. die Verwaltung im Hauptverfahren davon Kenntnis gehabt hätte.
Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der
Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsermittlung dient. Ein
Revisionsgrund ist nicht schon dann gegeben, wenn das Gericht resp. die
Verwaltung bereits im Hauptverfahren bekannte Tatsachen unrichtig gewürdigt
hat. Notwendig ist vielmehr, dass die unrichtige Würdigung erfolgte, weil für
den Entscheid wesentliche Tatsachen unbewiesen geblieben sind (vgl. BGE 134 III
669 E. 2.1 S. 670; 127 V 353 E. 5b S. 358; SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/
2011 E. 7.1; erwähnte Urteile SVR 2010 IV Nr. 55 E. 3.2; 8C_152/2012 E. 5.1;
8C_422/2011 E. 4; Urteil 8F_9/2010 vom 10. März 2011 E. 3.1; je mit Hinweisen).

2.3 Die Revision ist ein ausserordentliches Rechtsmittel und dient nicht
einfach der Weiterführung des Verfahrens. Sie dient insbesondere nicht dazu,
Fehler und Unterlassungen der Prozessparteien nachträglich korrigieren zu
können (Urteil 8F_13/2012 vom 11. Oktober 2012 E. 1 mit Hinweisen). Es obliegt
den Prozessparteien, rechtzeitig und prozesskonform zur Klärung des
Sachverhalts entsprechend ihrer Beweispflicht beizutragen. Dass es ihnen
unmöglich war, Tatsachen und Beweismittel bereits im früheren Verfahren
beizubringen, ist nur mit Zurückhaltung anzunehmen. Dies gilt ganz besonders,
wenn im Revisionsverfahren mit angeblich neu entdeckten Beweismitteln bereits
im Hauptverfahren aufgestellte Behauptungen belegt werden sollen, die vom
Gericht resp. der Verwaltung als unzutreffend erachtet wurden. Entsprechend hat
der Gesuchsteller im Revisionsgesuch darzutun, dass er die Beweismittel im
früheren Verfahren trotz hinreichender Sorgfalt nicht beibringen konnte
(Urteile 8C_523/2012 vom 7. November 2012 E. 3.3.1; 8F_9/2010 vom 10. März 2011
E. 3.3 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 138 II 386 E. 5.1 S. 388; SVR 2012 UV Nr.
17 S. 63, 8C_434/2011 E. 7.1).

3.
3.1 Die Verwaltung stützte den Einspracheentscheid vom 1. April 2011 mit der
Annahme einer uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit auf die Gutachten des Dr. med.
J.________, Facharzt für Innere Medizin, vom 20. Mai 2010 und des Dr. med.
B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 8. August 2010.

3.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Ursachen der Kopf- und
Nackenschmerzen seien organischer Natur. Sie hält diesen Umstand für eine
erhebliche neue Tatsache, die erst aus den Berichten des Zentrums X.________,
insbesondere aus jenem vom 16. Juni 2011, hervorgehe. Das Gutachten des Dr.
med. J.________ sei damit nicht nur unvollständig, sondern schlicht falsch.
Auch dem Bericht des Dr. med. R.________, Facharzt für Allgemeinmedizin, vom
28. August 2011 lasse sich entnehmen, dass sie ihren "Gesundheitsschaden mit
100-prozentiger Arbeitsunfähigkeit nicht simuliert" habe. Daher sei der
Einspracheentscheid vom 1. April 2011 in Revision zu ziehen und folglich eine
Leistungspflicht der Hotela zu bejahen oder eine weitere Begutachtung
anzuordnen.

3.3 Bereits mit Schreiben vom 31. Januar 2011 brachte die Versicherte u.a. vor,
an sowohl physisch als auch psychisch bedingten "äusserst starken
Kopfschmerzen" zu leiden; ähnlich äusserte sie sich in der Einsprache vom 10.
März 2011 und schliesslich in der Beschwerde vom 20. Mai 2011. Dabei stellte
sie jeweils die Beweiskraft der Gutachten der Dres. med. J.________ und
B.________ in Abrede. In der - gemäss nicht offensichtlich unrichtiger
vorinstanzlicher Feststellung (E. 1.1) zufolge Verspätung zurückgezogenen -
Beschwerde wies sie dazu explizit auf die beim Zentrum X.________ aufgenommene
Behandlung hin und reichte dessen ersten Bericht vom 9. Mai 2011 ein. Dass im
Beschwerdeverfahren, wäre es denn rechtzeitig eingeleitet worden, der nun als
revisionsrechtlich ausschlaggebend bezeichnete Bericht vom 16. Juni 2011 nicht
hätte beigebracht werden können, ist angesichts des Untersuchungsgrundsatzes
(vgl. Art. 61 lit. c ATSG) nicht anzunehmen und wird auch nicht geltend
gemacht. Zudem hätte die Beschwerdeführerin auch die Möglichkeit gehabt, beim
kantonalen Gericht namentlich in Bezug auf die (eingetroffenen oder erwarteten)
Behandlungsergebnisse weitere Beweismassnahmen zu beantragen. Es ist daher
weder von einer neuen Tatsache auszugehen, noch besteht Grund zur Annahme, dass
die angerufenen Beweismittel nicht bereits im ordentlichen
Rechtsmittelverfahren beizubringen gewesen wären. Schliesslich betrifft die
Behauptung über die Ursache der Kopf- und Nackenschmerzen nicht eine erhebliche
Tatsache im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG. Ausschlaggebend ist letztlich nicht,
was diese Beschwerden verursacht hat, sondern ob sie im massgeblichen Zeitraum
(E. 1.3) eine Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) bewirkten. Eine solche wird in
keinem der Berichte des Zentrums X.________ attestiert und erst in dessen
Bericht vom 22. Dezember 2011 - mithin nach einer Behandlungsdauer von rund
acht Monaten (vgl. auch BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353) - wird eine negative
Auswirkung der "schmerzbedingten körperlichen und psychischen Beeinträchtigung"
auf die Arbeitsfähigkeit überhaupt erwähnt. Hingegen leidet die
Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben bereits seit mehr als 20 Jahren an
Kopf- und Nackenschmerzen, ohne dass für die Zeit vor 2010 eine längere
Arbeitsunfähigkeit aktenkundig ist.

3.4 Nach dem Gesagten ist eine auf die Tatsache einer organischen
Schmerzursache resp. die Berichte des Zentrums X.________ und des Dr. med.
R.________ gestützte prozessuale Revision des Einspracheentscheids vom 1. April
2011 ausgeschlossen. Die Beschwerde ist unbegründet.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Uri und dem
Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. Februar 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Die Gerichtsschreiberin: Dormann