Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 799/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_799/2012

Urteil vom 16. Mai 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Borella,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Verfahrensbeteiligte
M.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Stutz,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Pensionskasse SBB, Zieglerstrasse 29, 3007 Bern.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungs-gerichts des Kantons Aargau
vom 16. August 2012.

Sachverhalt:

A.
Gestützt auf eine polydisziplinäre Expertise der Medizinischen
Begutachtungsstelle X.________ vom 24. März 2011 hob die IV-Stelle des Kantons
Aargau die M.________ (geb. 1959) ab August 1999 zugesprochene, seit Januar
2001 auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 100 % ausgerichtete
Invalidenrente mit Verfügung vom 21. Juni 2011 auf.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ab (Entscheid vom 16.
August 2012).

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und ihr
Anspruch auf eine ganze Invalidenrente zu bestätigen.
Auf die Begründung der Beschwerde wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen
eingegangen.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht ist zum Schluss gekommen, die gesundheitlichen
Verhältnisse im nach Art. 17 Abs. 1 ATSG massgeblichen Vergleichszeitraum (von
2001 bis 2011) hätten sich verbessert, so dass wieder von einer grundsätzlich
vollen Arbeitsfähigkeit bezüglich der für die Beschwerdeführerin in Frage
kommenden zumutbaren Tätigkeiten (namentlich auch im angestammten Beruf als
Betriebsbeamtin bei den SBB) auszugehen sei. Dabei hat sich die Vorinstanz auf
das polydisziplinäre Gutachten der Medizinischen Begutachtungsstelle X.________
vom 24. März 2011 gestützt, wobei sie sich auch mit den abweichenden
Auffassungen der behandelnden Ärzte und Institutionen auseinandergesetzt hat.
Diese auf Grund einer einlässlichen Würdigung der gesamten (medizinischen)
Aktenlage ergangene Feststellung des kantonalen Gerichts betreffend die
Wiedererlangung einer rentenausschliessenden Arbeitsfähigkeit (Art. 6 ATSG in
Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 ATSG sowie Art. 4 Abs. 1 und Art. 28, Art. 28a
Abs. 1 IVG) stellt eine Entscheidung über eine Tatfrage dar (Art. 97 Abs. 1,
Art. 105 Abs. 1 und Abs. 2 BGG; BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 unten f.; SVR 2009
IV Nr. 22 S. 62). Diese Sachverhaltsermittlung, einschliesslich
Beweiswürdigung, ist letztinstanzlicher Korrektur nur zugänglich, sofern und
soweit die Vorinstanz in Willkür verfallen ist oder die rechtserheblichen
Tatsachen sonstwie in bundesrechtswidriger Weise festgestellt hat (BGE 135 III
127 E. 1.5 S. 129 mit Hinweis).

2.
Die Beschwerdeführerin greift die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung mit
einer Reihe von Argumenten an, zu welchen grösstenteils schon das kantonale
Gericht Stellung genommen hat. Es sei auf die Erwägungen 4.3 und 4.4 des
angefochtenen Entscheides (S. 11-19) verwiesen, in denen die Vorinstanz die
beweismässigen Anhaltspunkte für eine rentenausschliessende Verbesserung von
Gesundheitszustand und Leistungsvermögen sorgfältig herausgearbeitet hat. Von
einer offensichtlich unrichtigen, also unhaltbaren oder willkürlichen
Beweiswürdigung (E. 1 in fine hievor), kann nicht die Rede sein.

2.1 Die Beschwerdeführerin erneuert ihre Rüge, das Gutachten der Medizinischen
Begutachtungsstelle X.________ vom 24. März 2011 sei nicht nach dem
Verfahrensstandard gemäss BGE 137 V 210 (Urteil vom 28. Juni 2011) eingeholt
worden. Wie schon die Vorinstanz darauf zutreffend geantwortet hat, bedeutet
die Rechtsprechung BGE 137 V 210 nicht, dass nach alter Verfahrensrechtslage
eingeholte Expertisen deswegen ihre Beweiskraft einbüssen. Damit
Beweisweiterungen gerechtfertigt sind, bedarf es vielmehr objektiver
Anhaltspunkte, dass dem Administrativgutachter bei seiner Expertisierung Fehler
unterlaufen sind. Das trifft hier nicht zu.

2.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet erneut die Beweiskraft des
Administrativgutachtens, weil die psychiatrische Untersuchung nur zwanzig
Minuten gedauert habe. Diese Behauptung (verbunden mit dem ebenfalls
wiederholten Einwand, der Gutachter habe nicht über die "psychiatrischen Akten"
verfügt, wo es doch bis zum Begutachtungszeitpunkt am 23. Februar 2011 ausser
den Berichten des betreuenden Hausarztes über den gesamten Rentenbezugszeitraum
hinweg gar keine Berichte über Hospitalisationen oder
spezialärztlich-psychiatrische Behandlungen gab, was für sich allein schon
deutlich gegen eine schwere psychische Beeinträchtigung spricht) findet sich
erstmals in der "Begründung der Einwände" des früheren Rechtsvertreters vom 22.
Juni 2011 gegen den Vorbescheid vom 19. Mai 2011 und zieht sich wie ein roter
Faden durch die nachfolgenden Rechtsschriften. Letztinstanzlich wiederholt,
verfängt der Einwand nicht: Der Administrativgutachter Dr. med. A.________ hat
die Beschwerdeführerin am 23. Februar 2011 sehr sorgfältig und in Kenntnis der
Vorakten exploriert, was die detaillierten Angaben in seinem Gutachten über die
psychiatrische Anamnese, die psychopathologischen Befunde, die
Diagnosestellung, die psychiatrische Beurteilung und die Stellungnahme zur
Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht eindeutig belegen. Eine solche
Vielzahl sachbezüglicher Informationen lässt sich von der Explorandin nicht in
zwanzig Minuten in Erfahrung bringen. Es verletzt daher Bundesrecht nicht, wenn
das kantonale Gericht den aussagekräftigen Beschreibungen des Sachverständigen
gefolgt ist, welche eindeutig eine Konsolidierung der psychiatrisch relevanten
Verhältnisse und insbesondere den Wegfall einer schweren depressiven
Symptomatik im Laufe der Jahre beweisen. Die novenrechtlichen Vorbringen in der
Beschwerde sind unzulässig (Art. 99 Abs. 1 BGG). Mit dem in der Eingabe vom 17.
Oktober 2012 angerufenen Urteil 9C_495/2012 vom 4. Oktober 2012, wo es um eine
Schmerzstörung im Kontext des neuen Diagnosecodes ICD F45.41 ging, hat die
Sache nichts gemein.

2.3 Die Berufung auf die abweichende Auffassung des Dr. med. K.________, FMH
Pneumologie, vermag ebenfalls keine Bundesrechtswidrigkeit der vorinstanzlichen
Beweiswürdigung darzutun. Es geht keineswegs darum, Dr. med. K.________,
welcher nicht Facharzt für Psychiatrie ist, seine Kompetenz für
Gesprächstherapie "im Rahmen der Hausarzt-Medizin" (so sein ärztliches Zeugnis
zuhanden des Versicherungsgerichts vom 29. August 2011) in Zweifel zu ziehen.
Aber seiner Auffassung, es liege nach wie vor ein schwerwiegendes depressives
Zustandsbild vor, kann nicht die gleiche Beweiskraft eignen wie jener des
Administrativexperten. Denn die Beschwerde übersieht den fundamentalen
Unterschied zwischen Begutachtungs- und Behandlungsauftrag, die in einem
unvereinbaren Zielkonflikt zueinander stehen (vgl. statt vieler Urteil 9C_746/
2010 vom 28. Januar 2011 E. 3.1 mit Hinweisen). Auf Grund seiner Rolle als die
Beschwerdeführerin seit 13. August 1998 betreuender Hausarzt, dem das
Wohlergehen seiner Patienten offensichtlich ein Anliegen ist, einerseits, unter
Berücksichtigung des Umstandes, dass die Sicherung der wirtschaftlichen
Existenz durch den weiteren Rentenbezug auch einen wichtigen Gesichtspunkt der
sozialmedizinischen Betreuung darstellt, andererseits, kann Dr. med. K.________
objektiverweise nicht beanspruchen, die Arbeitsfähigkeit seiner langjährigen
Patientin unbefangen und neutral einzuschätzen.

2.4 Die Beschwerde nimmt Anstoss daran, dass der vorinstanzliche
Instruktionsrichter, in der Annahme, es spreche "Einiges" für den Erfolg der
Beschwerde, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die Rentenaufhebung
gewährte (Verfügung vom 24. Januar 2012), dass das Gericht im Endentscheid dann
aber "eine diametrale Kehrtwende vollzogen" und die Beschwerde als unbegründet
abgewiesen habe. Dieses Vorbringen hält nicht stich. Denn es liegt im Wesen des
vorläufigen Rechtsschutzes, dass die Prozessaussichten summarisch geprüft
werden und dass die vorsorgliche Massnahme unter dem Vorbehalt der definitiven
Entscheidung im Hauptverfahren steht.

2.5 Die Beschwerde bemängelt einen fehlenden "Fachaustausch zwischen der
Medizinischen Begutachtungsstelle X.________ und Ärzteschaft". Dazu ist
zweierlei festzuhalten: Zum einen sind die für die Medizinischen
Abklärungsstellen (MEDAS), wie hier die Medizinische Begutachtungsstelle
X.________, tätigen Sachverständigen ebenfalls Ärztinnen und Ärzte. Auch in der
Untersuchungssituation handelt der medizinische Sachverständige als Arzt oder
Ärztin. Im Falle der Medizinischen Begutachtungsstelle X.________ hat die
Instruktion zum MEDAS-Urteil (Ergebnisse zusammengefasst in der in BGE 137 V
210 nicht publizierten E. 1.2.3 S. 224, einsehbar unter www.bger.ch/Presse/
Aktuelles/Medienmitteilungen/Archiv) ergeben, dass 32 von 35 mitwirkenden Ärzte
ein schweizerisches Arztdiplom sowie den eidgenössischen Fachausweis FMH
aufweisen und hauptberuflich in ihrer eigenen Praxis tätig sind. Alle stehen in
der Behandlungssituation zu den eigenen Patienten. Die meisten der in der
Medizinischen Begutachtungsstelle X.________ expertisierenden Ärzte sind in
Pensen von 10%-20% tätig, vier Ärzte zwischen 30% bis 50%, keiner mehr als zu
50%. Damit ist der von der Beschwerde sinngemäss unterstellte mangelnde Bezug
zur hierzulande gängigen medizinischen Behandlungspraxis widerlegt. Ebenso kann
von einer wirtschaftlichen Abhängigkeit der begutachtenden Ärzte in Anbetracht
dieser Verhältnisse, insbesondere der weit überwiegend geringfügigen Pensen von
10%-20%, ernstlich nicht die Rede sein. - Zum andern zeigen die gesamten Akten
auf, dass der Krankheitsverlauf im Falle der Beschwerdeführerin vorwiegend
durch psychosoziale Faktoren wie (früher) Eheprobleme, persönliche
Schwierigkeiten, Verlust einer Partnerbeziehung u.a.m. geprägt ist. Dass solche
Lebensschwierigkeiten in verbreitetem Masse zum üblichen Gegenstand ärztlicher
Betreuung geworden sind, ändert nichts daran, dass sie invaliditätsrechtlich
unerheblich sind (BGE 127 V 294). Die sozialmedizinische Prägung des Leidens
kommt gerade in dem schon erwähnten (E. 2.3) Zeugnis des Dr. med. K.________
vom 29. August 2011 deutlich zum Ausdruck und ergibt sich im Weitern aus dem
Bericht der Psychiatrischen Dienste Y.________ vom 10. August 2011 an den
Rechtsvertreter, wenn dort ausgeführt wird: "Zur aktuellen Verschlechterung sei
es gekommen, nachdem sie den Brief mit der IV-Entscheidung bekommen habe, dass
die Rente sistiert werde." ln solchen reaktiven Störungen, welche adäquater
ärztlicher Behandlung zugänglich sind, kann rechtsprechungsgemäss (BGE 127 V
294) keine invalidisierende psychische Beeinträchtigung erblickt werden,
ansonsten der gesetzliche Invaliditätsbegriff seine Konturen verlöre.

3.
Die restlichen Vorbringen in der Beschwerde vermögen ebenfalls nichts daran zu
ändern, dass das kantonale Gericht eine rentenausschliessende Verbesserung von
Gesundheitszustand und Leistungsvermögen in für das Bundesgericht verbindlicher
Weise (Art. 105 Abs. 1 BGG) festgestellt hat. Eine Bundesrechtsverletzung ist
nicht ersichtlich. Weiterungen erübrigen sich.

4.
Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
kann entsprochen werden (Art. 64 BGG). Die Beschwerdeführerin hat der
Gerichtskasse jedoch Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist
(Art. 64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

3.
Rechtsanwalt Patrick Stutz wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand aus der
Gerichtskasse mit Fr. 2800.- entschädigt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse SBB, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. Mai 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Scartazzini

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