Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 795/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_795/2012

Urteil vom 9. Juli 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
M.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 23. August 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1987 geborene M.________ erlitt am 15. Dezember 2005 während eines
operativen Eingriffs einen Hirninfarkt (perioperativer embolischer
zerebrovaskulärer Insult). Als dessen Folge stellten sich
Hirnfunktionsstörungen ein. Die Invalidenversicherung gewährte verschiedene
berufliche Abklärungs- und Bildungsmassnahmen und übernahm die Kosten für
Hilfsmittel. Am 8. Juli 2011 erlangte M.________ das Fähigkeitszeugnis als
Kauffrau (Basisbildung Dienstleistung und Administration). Seit August 2011 war
sie vollzeitlich als Servicepraktikantin tätig. Mit Verfügung vom 11. April
2012 verneinte die IV-Stelle des Kantons Luzern den Anspruch auf eine
Invalidenrente.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (heute: Kantonsgericht Luzern) wies
die gegen die Verfügung vom 11. April 2012 erhobene Beschwerde ab (Entscheid
vom 23. August 2012).

C.
M.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Rechtsbegehren, es sei ihr, nach Aufhebung des angefochtenen Entscheids, mit
Wirkung ab August 2011 eine halbe, eventuell Viertels-Invalidenrente
zuzusprechen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben
werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Strittig sind die Vergleichseinkommen (Art. 16 ATSG) im Zeitpunkt des
allfälligen Rentenbeginns im Jahr 2011 (BGE 129 V 222; 128 V 174).

2.1. Zu prüfen ist zunächst, ob die vorinstanzliche Bemessung
des Valideneinkommens (hypothetischer Lohn ohne Gesundheitsschaden) vor
Bundesrecht standhält (zur bundesgerichtlichen Überprüfungsbefugnis oben E. 1
und BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). Die Beschwerdeführerin macht geltend, das
Valideneinkommen, welches die Vorinstanz der Invaliditätsbemessung zugrunde
gelegt habe, werde ihrem mutmasslichen beruflichen Werdegang im Gesundheitsfall
nicht gerecht.

2.1.1. Nach der Rechtsprechung kann eine hypothetische berufliche
Weiterentwicklung nur berücksichtigt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür
bestehen, dass sich ohne Eintritt der Invalidität ein beruflicher Aufstieg
tatsächlich realisiert hätte. Auch bei jungen Versicherten müssen grundsätzlich
solche Indizien vorliegen, damit von einem späteren Abschluss der Ausbildung
und einem entsprechenden Einkommen ausgegangen werden kann. Absichtserklärungen
der versicherten Person genügen nicht (zum Ganzen Urteil 8C_954/2010 vom 11.
März 2011 E. 3.1 und 3.2 mit Hinweisen).

2.1.2. Das kantonale Gericht erkannte, es sei überwiegend wahrscheinlich, dass
die Beschwerdeführerin - ohne den im Dezember 2005 erlittenen Hirninfarkt und
dessen Folgen - im Sommer 2006 die Maturität erlangt hätte. Dies treffe aber
nicht auch für das Vorbringen zu, sie hätte im Gesundheitsfall anschliessend
das Fach Ethnologie studiert. Jedenfalls erscheine zweifelhaft, ob sie, wie
geltend gemacht, nach dem Studienabschluss einen Anfangsverdienst von Fr.
90'000.- hätte erzielen können. In den Akten fänden sich auch nicht genügend
konkrete Anhaltspunkte für eine anderweitige akademische Laufbahn. Der Besuch
der Kantonsschule gelte als erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 Abs. 1
IVG; Art. 5 Abs. 1 IVV; Urteil 9C_457/2008 vom 3. Februar 2009 E. 3.2; Silvia
Bucher, Eingliederungsrecht der Invalidenversicherung, Bern 2011, Rz. 615).
Somit komme Art. 26 Abs. 2 IVV zum Zuge; danach entspricht das
Erwerbseinkommen, das ein Versicherter, welcher eine begonnene berufliche
Ausbildung wegen der Invalidität nicht abschliessen konnte, als Nichtinvalider
erzielen könnte, dem durchschnittlichen Einkommen eines Erwerbstätigen im
Beruf, für den die Ausbildung begonnen wurde. Es könne davon ausgegangen
werden, dass die Beschwerdeführerin als Gesunde mit Matura eine qualifizierte
Arbeit verrichten würde. Weiter sei aufgrund ihrer intellektuellen
Voraussetzungen und sonstigen persönlichen Ressourcen anzunehmen, dass sie ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung nach der Matura eine höhere Berufsausbildung
in Angriff genommen hätte, zumal der Mittelschulabschluss allein noch keine
abschliessenden Berufskenntnisse vermittle. Dafür sprächen auch ihre
Anstrengungen im Hinblick auf einen Handelsschulabschluss. Nach der Tabelle A11
(Lohnstrukturerhebung [LSE] des Bundesamtes für Statistik, Monatlicher
Bruttolohn [Zentralwert und Quartilbereich] nach Ausbildung, beruflicher
Stellung und Geschlecht, privater Sektor und öffentlicher Sektor [Bund]
zusammen) hätte die Beschwerdeführerin mit Matura und höherer Berufsausbildung
(Fachschule) im Jahr 2010 monatlich Fr. 6'965.- verdient, was umgerechnet auf
die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,7 Wochenstunden und der bis
zum mutmasslichen Rentenbeginn im Jahr 2011 eingetretenen
Nominallohnentwicklung angepasst ein Jahreseinkommen von Fr. 88'003.-ergebe.

2.1.3. Die Beschwerdeführerin wendet ein, das kantonale Gericht habe das
Valideneinkommen auf willkürlicher Grundlage bemessen. Ihre Bemühungen, trotz
der gesundheitlichen Einschränkungen die Matura zu absolvieren, zeugten davon,
dass sie über grosse Willenskraft verfüge; ohne den Gesundheitsschaden hätte
sie damit zweifellos das zuvor angestrebte Ethnologiestudium durchlaufen. Ob
die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen ist, die Beschwerdeführerin hätte
überwiegend wahrscheinlich weder ein ethnologisches noch ein anderes Studium
ergriffen (und abgeschlossen), kann indes offen bleiben: In der
letztinstanzlichen Beschwerde betont die Beschwerdeführerin wiederum ihr
ursprüngliches Interesse am Ethnologiestudium. Aus dem angefochtenen Entscheid
geht hervor, dass ihr eine anschliessende Tätigkeit im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit vorschwebte. Die Vorinstanz zweifelte zu Recht an,
ob die Beschwerdeführerin in einem solchen Beruf, der gerichtsnotorisch -
verglichen mit anderen akademischen Tätigkeiten - eher gering entlöhnt wird,
ein höheres Einkommen hätte erzielen können als jenes, das ihr als
Valideneinkommen (Fr. 88'003.-) angerechnet worden ist.

2.1.4. Im Eventualstandpunkt macht die Beschwerdeführerin geltend, es sei ihr
nicht bloss ein Einkommen gemäss TA11 "Höhere Berufsausbildung, Fachschule"
anzurechnen, sondern ein auf der Position "Fachhochschule (FH), PH" beruhendes;
demnach betrage das Valideneinkommen rund Fr. 94'400.-. Ob dieses Vorbringen
angesichts der auf Beweiswürdigung beruhenden und nicht offensichtlich
unrichtigen Feststellungen des kantonalen Gerichts zum hypothetischen
beruflichen Werdegang überhaupt noch zu hören ist (zur bundesgerichtlichen
Kognition: SVR 2009 IV Nr. 34 S. 95, 9C_24/2009 E. 1.2), kann dahingestellt
bleiben: Falls es beim vorinstanzlich angenommenen Invalideneinkommen bleibt
(dazu nachfolgend E. 2.2), resultierte in dieser Variante immer noch ein nicht
rentenbegründender Invaliditätsgrad von 31 Prozent.

2.2.

2.2.1. Hinsichtlich des anrechenbaren Invalideneinkommenserwog das kantonale
Gericht, dafür sei ebenfalls auf die LSE abzustellen; mit dem Monatslohn von
Fr. 3'500.-, den sie seit August 2011 als Servicepraktikantin erziele, schöpfe
die Beschwerdeführerin ihre erwerblichen Möglichkeiten nicht aus. Den
anbegehrten sog. leidensbedingten Abzug (BGE 129 V 472 E. 4.2.3 S. 481; 126 V
75) verweigerte die Vorinstanz mit der Begründung, es sei nicht einzusehen,
weshalb die in diesem Zusammenhang angeführten Gründe, die Erleichterungen bei
der kaufmännischen Abschlussprüfung rechtfertigten, auch zu einer dauerhaften
Minderung des erzielbaren Verdienstes führen sollten. Während der
kaufmännischen Ausbildung hätten Einschränkungen neuropsychologischer und
motorischer Art vorgelegen; heute indes rechtfertige die gesundheitliche
Situation nicht mehr eine Korrektur des Invalideneinkommens, zumal allfälligen
lohnmindernden kognitiven Einschränkungen mit der Anwendung des niedrigsten
Tabellenlohn-Anforderungsniveaus 4 Rechnung getragen werden könne. In einer
kaufmännisch-administrativen Tätigkeit habe die Beschwerdeführerin (unter
Berücksichtigung der Nominallohnentwicklung bis 2011) ein Invalideneinkommen
von Fr. 65'197.- zu erwarten (TA7 der LSE 2010: Monatlicher Bruttolohn
[Zentralwert und Quartilbereich] nach Tätigkeit, Anforderungsniveau des
Arbeitsplatzes und Geschlecht, privater Sektor und öffentlicher Sektor [Bund]
zusammen; bei 41,7 Wochenstunden). Gemessen am Valideneinkommen von Fr.
88'003.- ergebe sich ein Invaliditätsgrad von 26 Prozent.

2.2.2. Die Beschwerdeführerin hat eine kaufmännische Ausbildung an einer
privaten Handelsschule erfolgreich abgeschlossen. Vor diesem Hintergrund ist
zunächst nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das Invalideneinkommen nicht
aufgrund der Angaben des Branchenverbandes, sondern auf der Grundlage von
statistischen Tabellenlöhnen (LSE) bemessen hat. Nach der Rechtsprechung ist
das Invalideneinkommen bei Fehlen eines tatsächlich erzielten Erwerbseinkommens
grundsätzlich nicht anhand der unverbindlichen Empfehlungen des Kaufmännischen
Verbandes Schweiz (KV) zu ermitteln, sondern aufgrund der (auf tatsächlich
erzielten Gehältern beruhenden) Tabellenlöhne gemäss LSE. Die Salärempfehlungen
des KV hat das Bundesgericht lediglich in Ausnahmefällen beigezogen, namentlich
wenn diese (ausnahmsweise) bereits Grundlage für die Ermittlung des
Valideneinkommens bildeten (Urteil I 708/06 vom 23. November 2006 E. 4.6 mit
Hinweisen).

Werden dem Invalideneinkommen somit Tabellenlöhne der LSE zugrundegelegt, so
ist dabei von der Tabellengruppe A (standardisierte Bruttolöhne) auszugehen (
BGE 124 V 321). Welche Tabelle zur Anwendung zu bringen ist, bestimmt sich nach
den konkreten Umständen des Einzelfalls. Dabei kann es sich durchaus
rechtfertigen, statt auf den Zentralwert des gesamten privaten Sektors, eines
bestimmten Wirtschaftszweiges oder eines Teils hiervon (Tabelle A1) auf
denjenigen für eine bestimmte Tätigkeit (Tabelle A7 [privater und öffentlicher
Sektor]) abzustellen, wenn dies eine genauere Festsetzung des
Invalideneinkommens erlaubt (vgl. RKUV 2000 Nr. U 405 S. 399, U 66/00 E. 3b).
Die Vorinstanz hat die notwendige Spezifität der Bemessungsgrundlage
ausreichend gewährleistet, indem sie die nach Tätigkeiten differenzierende
Tabelle A7 beigezogen hat.

2.2.3. Den zu erwartenden lohnmässigen Auswirkungen des Umstandes, dass die
Beschwerdeführerin während der Ausbildung offenbar in einen weniger
anspruchsvollen Lehrgang wechseln musste, hat das kantonale Gericht mit der
Wahl der massgeblichen Stufe (Anforderungsniveau 4) Rechnung getragen; eine
Verletzung von Bundesrecht ist auch hier nicht ersichtlich. Dasselbe gilt
bezüglich der vorinstanzlichen Feststellung, die Zugrundelegung des
Anforderungsniveaus 4 berücksichtige zugleich die allfällig verbliebenen
lohnmindernden kognitiven Einschränkungen ausreichend; daher bedürfe es nicht
zusätzlich einer Herabsetzung des statistischen Invalidenlohns. Die von der
Beschwerdeführerin angerufenen Einträge im Protokoll der IV-Stelle vom 14.
Dezember 2007, 18. Juni 2008 und 16. November 2011 belegen nicht, dass die
vorinstanzliche Feststellung, es seien keine stärker behindernden funktionellen
Einschränkungen (mehr) gegeben, offensichtlich unrichtig wäre. Immerhin lag
bereits im Frühjahr 2008, gut zwei Jahre nach dem Hirninfarkt, nur mehr eine
leichte linkshemisphärische neuropsychische Funktionsstörung vor, die von
mnestischen Einschränkungen und leichten exekutiven Dysfunktionen (betreffend
Strategienanwendung, Strukturierungsfähigkeit) dominiert wurde. Die Ergebnisse
der neuropsychologischen Untersuchung zeigten gemessen an der Bildungsnorm zwar
eine klare Einschränkung, gemessen an der Altersnorm indes waren sie immerhin
weitgehend knapp durchschnittlich. Die Sachverständigen hielten damals fest,
die "nur" noch leicht ausgeprägten Dysfunktionen wirkten sich in einer
anspruchsvollen Ausbildungsphase viel deutlicher aus als es in einem geregelten
Berufsalltag der Fall sein dürfte (Verlaufsbericht der Neuropsychologinnen lic.
phil. O.________ und lic. phil. K.________, Luzern, vom 7. März 2008).

2.3. Nach dem Gesagten verletzt die vorinstanzliche Festlegung des
Invaliditätsgrades auf 26 Prozent kein Bundesrecht. Es besteht kein Anspruch
auf eine Invalidenrente (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG).

3.
Dem Verfahrensausgang entsprechend trägt die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Juli 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Traub

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