Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 784/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_784/2012 {T 0/2}

Urteil vom 7. Dezember 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

D.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Ehrenzeller,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 30. August 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 22. Februar 2010 verneinte die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen u.a. in Berücksichtigung der Expertise des Zentrums X.________ vom 17.
August 2009 den Anspruch des D.________ auf eine Rente der
Invalidenversicherung.

B.
In Gutheissung der Beschwerde des D.________ hob das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 30. August 2012 die angefochtene Verfügung
auf und sprach dem Versicherten eine halbe Rente ab 1. Januar 2005 zu.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 30. August 2012 sei aufzuheben.

D.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das kantonale
Versicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz ist bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades durch
Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG)
gestützt auf die Einschätzung im Gutachten des Zentrums X.________ vom 17.
August 2009 von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % in einer körperlich leichten,
angepassten Tätigkeit ausgegangen. Die Beschwerde führende IV-Stelle rügt, die
Annahme einer psychisch bedingten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bzw. die
Bejahung der invalidisierenden Wirkung der psychiatrischen Diagnosen verletze
Bundesrecht.

2.
Im Gutachten des Zentrums X.________ vom 17. August 2009 wurden im Wesentlichen
ein chronisches lumbo- und zervikovertebrales Schmerzsyndrom ohne radikuläre
Ausfälle, eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F32.0) und eine
anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) diagnostiziert. Bei diesem
Krankheitsbild beurteilt sich die Frage, inwieweit eine Arbeitsunfähigkeit aus
medizinisch-psychiatrischer Sicht als invalidisierend auch im rechtlichen Sinne
(Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 ATSG) anzuerkennen ist, nach
der mit BGE 130 V 352 begründeten Rechtsprechung (vgl. auch BGE 136 V 279 E.
3.2.3 S. 283). Das ist unbestritten. Entscheidend ist somit, ob und inwiefern
die versicherte Person über psychische Ressourcen verfügt, die es ihr erlauben,
trotz den subjektiv erlebten Schmerzen einer Arbeit nachzugehen (BGE 130 V 352
E. 2.2.4 S. 355; 127 V 294 E. 4b/cc in fine und E. 5a S. 299 unten). Dabei gilt
die Vermutung der Überwindbarkeit der Schmerzstörung (SVR 2005 IV Nr. 6 S. 21,
I 457/02 E. 7.3 [nicht publ. in: BGE 130 V 396]; Urteil 9C_148/2012 vom 13.
August 2012 E. 2.1). Für die ausnahmsweise Bejahung der Unzumutbarkeit, die
verbliebene Arbeitsfähigkeit erwerblich zu verwerten, spricht in erster Linie
ein vom Schmerzgeschehen losgelöstes eigenständiges psychisches Leiden
(Komorbidität) von bestimmter Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer (BGE
130 V 352 E. 2.2.3 S. 354; Urteil 9C_266/2012 vom 29. August 2012 E. 4.2.1).

Rechtsfrage ist und somit letztlich von den rechtsanwendenden Behörden zu
entscheiden, ob eine festgestellte psychische Komorbidität hinreichend
erheblich ist und/oder ob einzelne oder mehrere der festgestellten weiteren
Kriterien (vgl. BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f.) in genügender Intensität und
Konstanz vorliegen, um gesamthaft den Schluss auf eine im Hinblick auf eine
erwerbliche Tätigkeit nicht mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbare
Schmerzstörung zu erlauben (Urteil 9C_936/2011 vom 21. März 2012 E. 3.1). Die
Prüfung schliesst die Beurteilung der Frage ein, inwiefern die ärztliche
Einschätzung der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit invaliditätsfremde
Gesichtspunkte (insbesondere psychosoziale und soziokulturelle
Belastungsfaktoren) mitberücksichtigt (Urteil 9C_302/2012 vom 13. August 2012
E. 4.2.2 mit Hinweisen [nicht publ. in: BGE 138 V 339]). Nach der
Rechtsprechung sind solche invaliditätsfremde Faktoren nur (mittelbar)
invaliditätsbegründend, wenn und soweit sie den Wirkungsgrad des unabhängig
davon bestehenden, von einer allfälligen Schmerzstörung losgelösten psychischen
Gesundheitsschadens beeinflussen (SVR 2012 IV Nr. 1 S. 1, 9C_1040/2010 E. 3.2
und Nr. 32 S. 127, 9C_776/2010 E. 2.3.3).

3.
3.1 Die Vorinstanz hat erwogen, der Versicherte leide nicht nur an einer
Depression oder an einer somatoformen Schmerzstörung, sondern an einer
Kombination aus diesen beiden Krankheiten. Es erscheine deshalb plausibel, dass
er seine Arbeitsunfähigkeitsüberzeugung nur zum Teil durch eine objektiv
zumutbare Willensanstrengung überwinden könnte und die Gutachter die
Überwindung der psychischen Einschränkungen insgesamt nur im Ausmass von 50 %
für zumutbar erachteten. Im Übrigen hätten die früher mit dem Versicherten
befassten psychiatrischen Fachärzte Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit im
Wesentlichen gleich wie die Gutachter des Zentrums X.________ beurteilt. Dieser
Umstand lasse auf eine Chronifizierung des Krankheitsbildes schliessen ebenso
wie auf die Verselbständigung der Depression. Es sei daher von einer vom
Schmerzsyndrom losgelösten psychischen Komorbidität auszugehen, welche die
Arbeitsfähigkeit (auch rechtlich) in relevanter Weise einschränke.

3.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet in erster Linie das Vorliegen eines vom
Schmerzgeschehen losgelösten eigenständigen psychischen Leidens. Zur Begründung
verweist sie auf die Gerichtspraxis, wonach mittelgradige depressive Episoden
in der Regel keine von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare
andauernde Depression im Sinne eines verselbständigten Gesundheitsschadens
bilden, die es der betroffenen Person verunmöglichten, die Folgen der
Schmerzproblematik zu überwinden (Urteil 8C_183/2012 vom 5. Juni 2012 E. 7 mit
Hinweisen). Selbst wenn eine psychische Komorbidität vorläge, würde sie nicht
die Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer erreichen, um als invalidisierend
auch im rechtlichen Sinne anerkannt zu werden. Dieser Schluss ergebe sich aus
den Feststellungen im psychiatrischen Teilgutachten des Zentrums X.________.
Konkret führt die Beschwerdeführerin die vom Experten erwähnten psychosozialen
und emotionalen Belastungsfaktoren an, die deutlich ausgeprägt seien und sich
durch den dadurch hervorgerufenen unangenehmen Affekt auch in den Schmerzen
ausdrücken würden.
3.2.1 Gemäss dem psychiatrischen Experten hatten die psychosozialen und
emotionalen Belastungen seit der Arbeitsniederlegung Ende 2003 zusätzlich zu
depressiven Symptomen geführt. Die betreffenden Umstände waren somit nicht nur
mitursächlich für die Schmerzausweitung, sondern auch für die Entwicklung der
Depression. Die Vorinstanz hat sich nicht dazu geäussert, ob und gegebenenfalls
in welchem frühesten Zeitpunkt die Belastungen jegliche ursächliche Bedeutung
für die Herausbildung und Chronifizierung der mittelgradigen depressiven
Episode verloren hatten, was für die Frage nach dem invalidisierenden Charakter
der Störung indessen von Bedeutung ist (vorne E. 2 in fine).
3.2.2 Im psychiatrischen Teilgutachten des Zentrums X.________ wurde
ausgeführt, wie bei einer anhaltenden somatoformen Schmerstörung häufig, seien
auch beim Exploranden affektive Symptome vorhanden. Diese seien genügend
ausgeprägt für die zusätzliche Diagnose einer mittelgradigen depressiven
Episode. Die Affekte werden indessen, wie in E. 3.2 dargelegt, auch
hervorgerufen durch die deutlich ausgeprägten psychosozialen und emotionalen
Belastungsfaktoren, die dadurch in den Schmerzen zum Ausdruck kommen. Diese
Wirkungsweise spricht gegen ein von der Schmerzstörung klar losgelöstes
depressives Geschehen und gegen wiederum davon klar abgrenzbare
invaliditätsfremde Faktoren, was gegen den invalidisierenden Charakter der
Störung spricht. Jedenfalls kann nicht eine psychische Komorbidität von
erheblicher Schwere angenommen werden, wie auch der Psychiater des Zentrums
X.________ ausdrücklich festhielt.
3.2.3 Weitere relevante Gesichtspunkte sprechen ebenfalls dagegen, dass bei
zumutbarer Willensanstrengung die Ausübung einer körperlich leichten,
angepassten Tätigkeit trotz den subjektiv erlebten Schmerzen nicht vollzeitlich
zu 100 % möglich wäre, wie die Beschwerdeführerin vorbringt. Zunächst liegt
keine schwere somatische Erkrankung vor. Sodann ist gemäss dem psychiatrischen
Gutachter des Zentrums X.________ der Verlauf vor allem aufgrund der
ausgeprägten subjektiven Krankheitsüberzeugung chronifiziert; die
therapeutischen Möglichkeiten sind grundsätzlich nicht ausgeschöpft; ein
primärer Krankheitsgewinn ist nicht gegeben, ein sekundärer in Form vermehrter
Zuwendung seitens der Familie nicht auszuschliessen. Endlich bestand eine
erhebliche Diskrepanz im (Schmerzäusserungs-)Verhalten bei der orthopädischen
Untersuchung in beobachteten und abgelenkten Situationen (BGE 131 V 49 E. 2.1
S. 51; Urteil 9C_266/2012 vom 29. August 2012 E. 4.2.1 in fine; vgl. Urteil
9C_673/2012 vom 28. November 2012 E. 3.1 und 3.3). Ob von einem sozialen
Rückzug in allen Belangen des Lebens gesprochen werden kann, kann offenbleiben.
Selbst wenn die Frage mit dem Beschwerdegegner bejaht wird, änderte sich nichts
am Ergebnis, dass eine rechtlich relevante psychisch bedingte
Arbeitsunfähigkeit zu verneinen ist. Dasselbe gilt in Bezug auf die weiteren
Vorbringen in seiner Vernehmlassung.

4.
Die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung ist weiter nicht bestritten. Bei
einer Arbeitsfähigkeit von 100 % in körperlich leichten, adaptierten
Tätigkeiten ergibt sich bei im Übrigen unveränderten Berechnungsfaktoren ein
Invaliditätsgrad von 12 %, was für den Anspruch auf eine Rente nicht ausreicht
(Art. 28 Abs. 2 IVG). Die Beschwerde ist begründet.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 30. August 2012 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. Dezember 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler