Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 773/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_773/2012

Urteil vom 11. Januar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
Beschwerdeführer,

gegen

CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG, Bundesplatz 15,
6003 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 24. Oktober 2011.

Sachverhalt:

A.
S.________ war im Rahmen der freiwilligen Taggeldversicherung bei der CONCORDIA
Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG (nachfolgend: Concordia)
versichert. Ab 15. Mai 2007 war er zu 50 % arbeitsunfähig. Nach Ablauf der
vereinbarten Wartefrist von 180 Tagen richtete ihm die Concordia 540 Taggelder
aus. Mit Verfügung vom 22. Juni 2010 verneinte sie eine Leistungspflicht für
weitere 180 Tage; daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 27. Dezember 2010
fest.

B.
Die Beschwerde des S.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden
mit Entscheid vom 24. Oktober 2011 (zugestellt am 21. August 2012) ab.

C.
S.________ beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten,
die Angelegenheit sei zur Neubeurteilung an das kantonale Gericht
zurückzuweisen; eventuell sei die Concordia zu verpflichten, ihm für weitere
180 Tage ein Taggeld auszuzahlen.

Erwägungen:

1.
Es steht fest, dass der Beschwerdeführer seit Ablauf von 180 Tagen nach
Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im Umfang von 50 % Anspruch auf ein Taggeld von
Fr. 40.- hatte. Streitig und zu prüfen ist einzig die Frage, ob die Wartezeit
von 180 Tagen an die Gesamt-Bezugsdauer von mindestens 720 Tagen anzurechnen
(Art. 72 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 KVG) und daher der
Taggeldanspruch erschöpft ist.

2.
2.1 Vorab ist auf die Rüge einer Verletzung der Begründungspflicht durch die
Vorinstanz einzugehen. Diese hat die als wesentlich und erstellt erachteten
Tatsachen und die daraus gezogenen rechtlichen Schlüsse nachvollziehbar
dargelegt. Darin kann keine Verletzung der aus dem Anspruch auf rechtliches
Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 61 lit. h ATSG (SR 830.1) und Art. 112
Abs. 1 lit. b BGG abgeleiteten Prüfungs- und Begründungspflicht (Urteil 5A_368/
2007 vom 18. September 2007 E. 2; vgl. auch BGE 135 V 353 E. 5.3 S. 357 ff.)
oder des Willkürverbotes (Art. 9 BV) erblickt werden (Urteil 9C_215/2010 vom
20. April 2010 E. 3). Entscheidend ist, dass es den Parteien möglich ist, das
vorinstanzliche Erkenntnis - unter Berücksichtigung der Kognition des
Bundesgerichts (HANSJÖRG SEILER und andere, Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007,
N. 9 f. zu Art. 112 BGG) - sachgerecht anzufechten (BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88;
133 III 439 E. 3.3 S. 445; 124 V 180 E. 1a S. 181). Dies trifft hier zu.

Abgesehen davon wäre auch nicht von einer schwerwiegenden, eine Rückweisung
rechtfertigenden Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auszugehen
(vgl. BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390 mit Hinweis), zumal die Rechtsmittelinstanz,
die auf die Rechtmässigkeit einer Leistungseinstellung schliesst, damit in der
Regel einen geltend gemachten Rechtsmissbrauch resp. Verstoss gegen Treu und
Glauben implizite verneint.
2.2
2.2.1 Das Taggeld ist für eine oder mehrere Erkrankungen während mindestens 720
Tagen innerhalb von 900 Tagen zu leisten (Art. 72 Abs. 3 Satz 1 KVG). Wird für
den Anspruch auf Taggeld eine Wartefrist vereinbart, während welcher der
Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist, so kann die
Mindestbezugsdauer des Taggeldes um diese Frist verkürzt werden (Art. 72 Abs. 2
Satz 4 KVG; vgl. auch SVR 2008 KV Nr. 6 S. 23, K 58/05 E. 6.2.2). Die
Vorinstanz hat zutreffend darauf hingewiesen, dass diese Bestimmungen auch auf
Krankentaggeldversicherungen Anwendung finden, die vor Inkrafttreten des KVG am
1. Januar 1996 abgeschlossen wurden (Art. 102 Abs. 1 KVG).
2.2.2 Es steht fest, dass der Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung während der
Wartezeit verpflichtet war. Aus den Gesetzesbestimmungen allein lässt sich der
geltend gemachte Anspruch somit nicht ableiten. Zu prüfen ist, ob er sich aus
einer vertraglichen Grundlage ergibt (vgl. BGE 129 V 51 E. 1.1 S. 53; SVR 2008
KV Nr. 6 S. 23, K 58/05 E. 3.2).

2.3 Zu welchem Zeitpunkt und zu welchen Bedingungen die
Krankentaggeldversicherung ursprünglich abgeschlossen wurde, geht aus den
Unterlagen nicht hervor. Aktenkundig ist lediglich der Nachdruck der ab 1.
Januar 2007 geltenden Versicherungspolice. Darin verwies die Concordia in Bezug
auf die Versicherungen nach KVG - somit namentlich die abgeschlossene
Taggeldversicherung bei Krankheit und Unfall (Fr. 80.- ab 181. Tag) - auf die
Anwendbarkeit der "entsprechenden Versicherungsreglemente". Nach Ziff. 21.2 des
Reglements zur freiwilligen Taggeldversicherung, Ausgabe 2007 (nachfolgend:
Reglement), werden Wartefristen, während welchen der Arbeitgeber zur
Lohnfortzahlung verpflichtet ist, an die maximale Leistungsdauer angerechnet.

2.4 Der Beschwerdeführer stellt weder den Inhalt der genannten
Versicherungspolice in Abrede, noch macht er geltend, das Reglement sei ihm
nicht zur Kenntnis gebracht worden (vgl. Reglement Ziff. 49; BGE 129 V 51 E.
2.2 und 2.4 S. 55 f.). Er bringt im Wesentlichen vor, bei Abschluss der
Versicherung - mithin vor Inkrafttreten des KVG - seien für die Verwirklichung
des Risikos 720 Taggelder vereinbart worden; die nachträgliche Änderung der
reglementarischen Versicherungsbedingungen sei unzulässig und die Anwendung von
Reglement Ziff. 21.2 sei rechtsmissbräuchlich.
2.5
2.5.1 In der ab 1. Januar 2007 geltenden Police wurde der Versicherte
aufgefordert, sich umgehend zu melden, wenn ihr Inhalt nicht mit den
getroffenen Vereinbarungen übereinstimme. Wenn die Berichtigung nicht innerhalb
von vier Wochen nach Empfang der Police verlangt werde, gelte deren Inhalt als
genehmigt. Der Beschwerdeführer behauptet nicht, je eine Berichtigung in dem
Sinn, dass für ihn ein älteres Reglement gelte, verlangt zu haben. Ob bereits
damit für ihn die am 1. Januar 1997 in Kraft getretene Bestimmung von Reglement
Ziff. 21.2 anwendbar ist, kann indessen offen bleiben.
2.5.2 Die Rechtsprechung räumt den Krankenversicherern - sowohl unter Geltung
des KVG als auch nach früherem Recht - die Möglichkeit ein, jederzeit die über
das gesetzliche Minimum hinausgehenden Leistungen auch zu Ungunsten der
Versicherten anzupassen (BGE 124 V 201 E. 4d S. 207; GEBHARD EUGSTER,
Krankenversicherung, in: Meyer [Hrsg.], Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht
[SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl. 2007, S. 774 Rz. 1098; vgl. auch BGE 129 V
51 E. 2.4 S. 56). Immerhin kann eine solche Regelung nicht einzelfallweise
erfolgen (vgl. BGE 129 V 51 E. 1.1 S. 53; SVR 2008 KV Nr. 6 S. 23, K 58/05 E.
3.2), sondern ist durch Änderung oder Ergänzung der Versicherungsbedingungen zu
bewerkstelligen. Auch wenn angesichts des vertraglichen Charakters des
Rechtsverhältnisses (vgl. SVR 2002 KV Nr. 2 S. 5, K 171/98 E. 2c/bb) die
Aufnahme eines einseitigen Änderungsvorbehalts in die Versicherungsbedingungen
zwar wünschbar wäre, ist ein solcher nicht erforderlich, und überzeugende
Gründe für eine Praxisänderung (vgl. BGE 136 III 6 E. 3 S. 8; 135 I 79 E. 3 S.
82; 134 V 72 E. 3.3 S. 76) werden nicht vorgebracht und sind auch nicht
ersichtlich. Die Bestimmung von Reglement Ziff. 21.2 (E. 2.3) ist somit
grundsätzlich auch auf Versicherungsverhältnisse anwendbar, die auf einem vor
deren Inkrafttreten erfolgten Vertragsschluss beruhen.
2.5.3 Inwiefern im konkreten Fall die Anwendung von Reglement Ziff. 21.2
rechtsmissbräuchlich sein oder sonstwie gegen Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3
und Art. 9 BV) verstossen soll, ist nicht nachvollziehbar (vgl. BGE 134 II 124
E. 4.1 S. 133; 133 I 149 E. 3.1 S. 153 mit Hinweisen). Dass die
Krankenversicherung bei unveränderten Prämien von einer allfälligen
Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers profitieren kann, betrifft Aspekte der
Leistungskoordination und beruht auf einer bewussten Entscheidung des
Gesetzgebers (SVR 2008 KV Nr. 6 S. 23, K 58/05 E. 6.2.2). Sodann kommt der
Vorteil für die Krankenversicherung nur in jenen Fällen zum Tragen, wo der
Versicherte bereits mindestens 540 Tage arbeitsunfähig ist. Zudem ist mit Blick
auf die Anwendbarkeit von Versicherungsbedingungen nicht ausschlaggebend, in
welchem Umfang sich im Einzelfall ein Risiko verwirklicht und Kostenfolgen für
den Versicherer nach sich zieht. So sind etwa die Höhe und Dauer der
Arbeitsunfähigkeit oder das Vorhandensein weiterer Leistungspflichtiger (vgl.
Art. 78 KVG und Art. 72 ATSG) nicht individuell vorhersehbare Parameter, die
sich trotz unveränderter Prämienzahlungen auf die Aufwendungen des
Krankentaggeldversicherers auswirken. Die Prämienberechnung erfolgt daher nach
versicherungsmathematischen Grundsätzen über das gesamte Versichertenkollektiv
und unabhängig davon, ob der Arbeitgeber des einzelnen Versicherten zur
Lohnfortzahlung verpflichtet ist. Es ist deshalb auch nicht von Belang, dass
die Versicherung ohne Zutun und finanzielle Beteiligung des Arbeitgebers
abgeschlossen wurde. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde unbegründet.

2.6 Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Verfahrenskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 2 und 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Januar 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Die Gerichtsschreiberin: Dormann