Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 76/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_76/2012

Urteil vom 11. Juni 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
J.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Diggelmann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 5. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
Die 1965 geborene J.________ leidet an chronischen Kopfschmerzen, an einem
chronischen zerviko- und lumbospondylogenen Syndrom sowie an einer
Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion (Gutachten der Zentrum X.________ AG
vom 14. November 2007 sowie der Klinik T.________ [psychiatrisches Konsilium]
vom 17. März 2008). Mit Verfügung vom 24. September 2009 stellte die IV-Stelle
des Kantons St. Gallen einen nicht rentenbegründenden Invaliditätsgrad von 16
Prozent fest.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die hiergegen erhobene
Beschwerde ab (Entscheid vom 5. Dezember 2011).

C.
J.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Rechtsbegehren, es sei ihr, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids,
eine halbe Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur weiteren
Abklärung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben
werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe den Sachverhalt mit Bezug auf
die Frage der Arbeitsfähigkeit offensichtlich unrichtig, unvollständig sowie
unter Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG)
festgestellt.

2.1 Zuhanden der Krankentaggeldversicherung ging das Begutachtungsinstitut
X.________ AG gestützt auf eine rheumatologische Untersuchung, eine Evaluation
der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL) und eine psychiatrische Beurteilung
zunächst davon aus, die Beschwerdeführerin sei aus psychiatrischen Gründen zu
50 Prozent arbeitsfähig (ganztägige Arbeit bei einer Leistungsminderung von 50
Prozent). Die psychiatrische Einschätzung floss über eine Konsensbesprechung
vom 25. September 2007 in die gutachtlichen Schlussfolgerungen ein. Die
schriftliche psychiatrische Teilexpertise, auf welche im Hauptgutachten vom 14.
November 2007 vorab Bezug genommen worden war, folgte am 17. März 2008. Darin
wird eine somatoforme Schmerzstörung als eher unwahrscheinlich angesehen, weil
die Schmerzen nicht, wie in ICD-10 Ziff. F45.4 gefordert, dauernd im Fokus der
Aufmerksamkeit der Explorandin ständen. "Am ehesten" sei von einer
Schmerzverarbeitungsstörung und -ausweitung (mit längerer depressiver Reaktion)
auszugehen. Es sollte der Versicherten "gelingen, konzentriert, ordentlich und
ausdauernd, mit zufriedenstellendem Tempo und Mass ausreichend genau zu
arbeiten"; lediglich die affektive Belastbarkeit und Motivation wirkten leicht
beeinträchtigt. Aus psychiatrischer Sicht bestehe daher in allen (den
körperlichen Beeinträchtigungen angepassten) Tätigkeiten eine
Arbeitsunfähigkeit von höchstens 20 Prozent.

Mit Schreiben vom 14. April 2008 teilten die Gutachter der X.________ AG der
Auftraggeberin ihre definitive Einschätzung mit. Für eine angepasste Tätigkeit
"gemäss Beschreibung in der Evaluation der arbeitsbezogenen Leistungsfähigkeit
(= bis knapp mittelschwer, wechselpositioniert, nicht hoch repetitiv und keine
Zwangshaltungen mit dem Nacken)" bestehe aus rein rheumatologischer Sicht keine
Einschränkung. Aus psychiatrischer Sicht sei die Arbeitsfähigkeit aufgrund
einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (ICD-10: F43.21) um
20 Prozent eingeschränkt. Eine solchermassen angepasste Tätigkeit sei
"theoretisch ganztags mit zusätzlicher Leistungsminderung von 20 % zumutbar".
2.2
2.2.1 Die Beschwerdeführerin macht zunächst geltend, die Vorinstanz habe
erkannt, angesichts dieses Hergangs der Begutachtung könne nicht ohne Weiteres
darauf abgestellt werden. Dennoch habe sie das Gutachten der X.________ AG
faktisch zur Grundlage ihres Entscheids gemacht, indem sie ausgeführt habe, im
gesamten medizinischen Dossier fänden sich keine Hinweise für eine
(weitergehende) psychische Störung. Diese Beweiswürdigung verletze den
Untersuchungsgrundsatz: Werde mit Bezug auf die Arbeitsunfähigkeit in
psychiatrischer Hinsicht nicht auf die Expertise der X.________ AG abgestellt,
so sei diesbezüglich keine hinreichende Abklärung gegeben.
2.2.2 Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Der Umstand, dass die
Vorinstanz trotz ihres auf das Zustandekommen der Expertise zurückzuführenden
Vorbehalts auf deren Ergebnisse abgestellt hat, ist nicht zu beanstanden. Die
vom kantonalen Gericht festgestellte Einschränkung des Beweiswerts wäre nur
bedeutsam geworden, wenn sich in den Akten Hinweise fänden, dass es sich anders
als im Gutachten dargestellt verhalten könnte. Soweit dies nicht der Fall ist,
kann der Mangel des Gutachtens als geheilt gelten, zumal das psychiatrische
Konsilium vom 17. März 2008 die psychischen Verhältnisse umfassend darstellt
und gut nachvollziehbare funktionelle Folgerungen enthält. Die weiteren
medizinischen Stellungnahmen geben keine Anhaltspunkte für eine erhebliche
psychische Störung. Der Umstand, dass die betreffenden Schriftstücke kurz
ausgefallen sind (Schreiben der behandelnden Psychiaterin Dr. S.________ vom
15. Juni 2009) oder fachfremd und bereits relativ älteren Datums sind (Bericht
des Neurologen Dr. B.________ vom 18. September 2007), schmälert daher nicht
die Begründetheit der Schlussfolgerung, es bestehe keine schwerer wiegende
psychische Problematik. Des Weiteren ist auch nicht ersichtlich, dass das nach
dem Gutachten vom 14. November 2007 erstattete psychiatrische Konsilium vom 17.
März 2008 in der Zwischenzeit sachfremd beeinflusst worden sein könnte.
Vielmehr war der psychiatrische Aspekt im Zeitpunkt der Konsensbesprechung vom
25. September 2007 noch nicht abschliessend behandelt gewesen (vgl. Schreiben
der X.________ AG vom 14. April 2008).

Schliesslich ist die nirgends in Frage gestellte Diagnose der Anpassungsstörung
mit längerer depressiver Reaktion (nebst einem sekundären schädlichen Gebrauch
von opiathaltigen Schmerzmitteln) besser mit einer Einschränkung um 20 Prozent
(so das Konsilium vom 17. März 2008) vereinbar als mit der - offenbar noch
unbesehen der Gesamtakten erfolgten und somit vorläufigen - Einschätzung, die
Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin sei um die Hälfte reduziert
(Gutachten vom 14. November 2007). Eine Anpassungsstörung wird diagnostiziert,
sofern selbst die Diagnose einer leichten depressiven Episode nicht möglich ist
(SVR 2008 IV Nr. 15 S. 43, I 514/06 E. 2.2.2.2 mit Hinweis). Auch der von der
Beschwerdeführerin angerufene Bericht der Klinik für Neurologie im Spital
Y.________ vom 12. August 2009 ("depressive Verstimmung") deutet nicht auf
einen schwerer wiegenden Befund hin. Die im Bericht des Allgemeinmediziners Dr.
M.________ vom 14. September 2009 erwähnte Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent gibt
letztlich nur eine im Arbeitsversuch tatsächlich erzielte Leistung wieder;
indes berücksichtigt diese Einschätzung nicht die versicherungsmedizinisch
wesentlichen Aspekte der Zuordnung zum versicherten Gesundheitsschaden (Art. 4
Abs. 1 IVG) sowie der Zumutbarkeit (BGE 132 V 393 S. 398).

2.3 Was die körperliche Beeinträchtigung angeht, so kann die Beschwerdeführerin
aus der Feststellung im Gutachten vom 14. November 2007, die effektive
Leistungsfähigkeit sei nicht abschliessend beurteilbar, nicht ableiten, der
Sachverhalt sei ungenügend abgeklärt. Einmal geht aus der zitierten Stelle
(Ziff. 3.2/3 S. 3) hervor, dass eine "teilweise Selbstlimitierung" der
Beschwerdeführerin bei der EFL zu dieser Ungewissheit geführt hat.
Ausschlaggebend ist, dass sämtliche ärztlichen Einschätzungen aus
rheumatologischer oder neurologischer Sicht eine uneingeschränkte Leistung in
angepassten Tätigkeiten ausweisen. Die Aussage im Austrittsbericht der Klinik
V.________ vom 20. April 2009, gemäss welcher nach einem stationären Aufenthalt
(vom 4. bis 24. März 2009) eine Arbeitsfähigkeit von bloss 50 Prozent bestehe,
ist im Zusammenhang mit der Festlegung der längerfristigen Arbeitsfähigkeit
nicht einschlägig: Wie das kantonale Gericht treffend festgestellt hat, hatte
dieses Attest seinem Zweck entsprechend nur die unmittelbare Folgezeit im
Blick, während welcher die ambulante Rehabilitation fortzuführen war.

2.4 Schliesslich ist die Rüge der Beschwerdeführerin, die ihr überlassenen
Akten seien unvollständig, weshalb ihr rechtliches Gehör verletzt sei,
unbegründet. Der von der Verwaltung auf Seite 4 unten des (eingescannten)
Gutachtens der X.________ AG vom 14. November 2007 angebrachte Vermerk, in
welchem von einem "Schreiben X.________ vom 14.03.2008" die Rede ist, beruht
offensichtlich auf einem Versehen in der Datumsnennung; tatsächlich kann sich
der Hinweis nur auf das aktenkundige Schreiben der Gutachterstelle vom 14.
April 2008 beziehen (vgl. oben E. 2.1).

2.5 Nach dem Gesagten ist nicht ersichtlich, inwiefern die Vorinstanz den
Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin unvollständig oder offensichtlich
unrichtig festgestellt oder die getroffenen Feststellungen nicht auf
hinreichende Abklärungen abgestützt haben sollte (vgl. oben E. 1).

3.
Mit Bezug auf die Invaliditätsbemessung erkannte das kantonale Gericht, für
Validen- und Invalideneinkommen gelte der gleiche Ausgangswert, so dass der
Invaliditätsgrad dem - allenfalls um einen Abzug vom Tabellenlohn korrigierten
- Arbeitsunfähigkeitsgrad entspreche (vgl. Art. 16 ATSG). Die
Beschwerdeführerin macht geltend, es sei beim Invalideneinkommen ein
erheblicher Abzug vorzunehmen. Andere Parameter der Invaliditätsbemessung sind
nicht strittig.

Die Vorinstanz hielt fest, es lägen keine besonderen Umstände vor, die einen
nennenswerten Abzug vom Tabellenlohn rechtfertigten; ohnehin resultierte nur
bei Anwendung des maximalen Abzugs von 25 Prozent ein rentenbegründender
Invaliditätsgrad. Damit hat die Vorinstanz im Ergebnis kein Bundesrecht
verletzt. Bei einer vollzeitlichen Tätigkeit mit eingeschränkter
Leistungsfähigkeit (vgl. E. 2.1 in fine) verbietet es sich
rechtsprechungsgemäss, einen darüber hinausgehenden Abzug zu berücksichtigen
(zuletzt bestätigt in Ur- teil 8C_20/2012 vom 4. April 2012 E. 3.3).

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Juni 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Traub