Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 739/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_739/2012

Urteil vom 7. Februar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
Erbinnen des Prof. Dr. H.________, sel. nämlich:
1. A.________,
2. B.________,
beide vertreten durch Rechtsanwalt David Providoli,
Beschwerdeführerinnen,

gegen

EGK-Gesundheitskasse,
Brislachstrasse 2, 4242 Laufen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Wallis
vom 12. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1938 geborene H.________ erkrankte Anfang 2009 an einem Kehlkopftumor. Er
beabsichtigte, den Tumor mittels Protonentherapie am Protonentherapie Center
X._________/DE behandeln zu lassen. Die EGK-Gesundheitskasse, bei welcher
H.________ obligatorisch für Krankenpflege versichert war, lehnte es mit
Verfügung vom 30. März 2011 ab, die Kosten der von H.________ von November 2009
bis Februar 2010 im Protonentherapie Center X._________/DE durchgeführten
Protonenstrahlentherapie im Betrag von 69'704.59 Euro zu übernehmen, woran sie
auf Einsprache hin mit Entscheid vom 15. September 2011 festhielt.

B.
H.________ liess Beschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des
Einspracheentscheids sei die EGK zu verpflichten, ihm einen Betrag von Fr.
103'251.-, entsprechend dem Gegenwert vom 69'704.59 Euro am 18. Februar 2009,
zu bezahlen. H.________ verstarb am ... April 2012. Seine Erbinnen, die Ehefrau
A.________ und seine Tochter B.________, traten in den Prozess ein. Mit
Entscheid vom 12. Juli 2012 wies das Kantonsgericht Wallis die Beschwerde ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lassen die Erbinnen
von H.________, A.________ und B.________, das vorinstanzlich gestellte
Rechtsbegehren erneuern; eventuell sei die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.
Die EGK und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Gemäss Art. 34 Abs. 2 KVG kann der Bundesrat bestimmen, dass die
obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten von Leistungen nach Art. 25
Abs. 2 oder 29 KVG übernimmt, die aus medizinischen Gründen im Ausland erbracht
werden (Satz 1). Gestützt auf diese Kompetenzdelegation wurde Art. 36 KVV mit
dem Titel "Leistungen ins Ausland" erlassen. Gemäss dem ersten Absatz der
Bestimmung bezeichnet das Eidgenössische Departement des Innern nach Anhören
der zuständigen Kommission die Leistungen nach den Artikeln 25 Absatz 2 und 29
des Gesetzes, deren Kosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung im
Ausland übernommen werden, wenn sie in der Schweiz nicht erbracht werden können
(wobei ein Verzeichnis der Leistungen bisher nicht erstellt worden ist; vgl.
BGE 134 V 330 E. 2.1 S. 332; 131 V 271 E. 3 S. 274; Gebhard Eugster,
Bundesgesetz über die Krankenversicherung [KVG], 2010, N. 4 zu Art. 34 KVG).

2.2 Die Leistungen nach den Art. 25-31 KVG müssen wirksam, zweckmässig und
wirtschaftlich sein; die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden
nachgewiesen sein (Art. 32 Abs. 1 KVG). Die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und
Wirtschaftlichkeit der in der Schweiz geleisteten ärztlichen Behandlungen
werden vermutet. Eine Ausnahme vom Territorialitätsgrundsatz gemäss Art. 36
Abs. 1 KVV in Verbindung mit Art. 34 Abs. 2 KVG ist unter dem Gesichtswinkel
des KVG nur möglich, wenn keine Möglichkeit der Behandlung in der Schweiz
besteht oder in einem besonderen Fall feststeht, dass eine therapeutische
Massnahme in der Schweiz im Vergleich mit einer alternativen Behandlung im
Ausland für den Patienten bedeutende und erheblich höhere Risiken mit sich
bringt und dass daher unter Berücksichtigung des Erfolges, den man mit der
Behandlung zu erreichen beabsichtigt, eine verantwortbare und aus ärztlicher
Sicht nötige Behandlung in der Schweiz nicht konkret gewährleistet ist (BGE 134
V 330 E. 2.2 S. 332 f.; 131 V 271 E. 3.2 S. 275).

2.3 Nur schwerwiegende Lücken im Behandlungsangebot ("Versorgungslücken")
rechtfertigen es, vom Territorialitätsgrundsatz abzuweichen. Dabei handelt es
sich in der Regel um Behandlungen, die hoch spezialisierte Techniken verlangen
oder um seltene Krankheiten, für welche die Schweiz nicht über eine genügende
diagnostische oder therapeutische Erfahrung verfügt (Gebhard Eugster,
Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale
Sicherheit, 2. Aufl. 2007, S. 562 N. 482). Wenn hingegen die angemessene
Behandlung geläufig in der Schweiz vorgenommen werden kann und breit
anerkannten Formen entspricht, hat der Versicherte keinen Anspruch auf
Erstattung der Kosten für eine im Ausland vorgenommene Behandlung. Minimale,
schwer zu gewichtende oder gar bestrittene Vorteile können keinen gültigen
Grund darstellen, um den Eingriff im Ausland der Grundversicherung zu belasten,
ebenso wenig wie der Umstand, dass eine spezialisierte Klinik im Ausland
grössere Erfahrung auf dem Fachgebiet hat (BGE 134 V 330 E. 2.3 S. 333; 131 V
271 E. 3.2 S. 275; Eugster, Krankenversicherung, S. 562 N. 482). In diesem
Sinne sind medizinische Gründe im Sinne von Art. 34 Abs. 2 KVG nur mit
Zurückhaltung anzunehmen (BGE 134 V 330 E. 2.4 S. 333 f.; 131 V 271 E. 3.2 S.
275 f.; Eugster, KVG, N. 5 zu Art. 34 KVG).

2.4 Voraussetzung für die Übernahme einer Auslandbehandlung ist somit zunächst,
dass die mögliche Behandlung in der Schweiz mit einem wesentlichen und deutlich
höheren Risiko verbunden ist als diejenige im Ausland. Dies ist
rechtsprechungsgemäss nur bei einer schwerwiegenden Lücke im Behandlungsangebot
der Fall, weshalb der Begriff des medizinischen Grundes streng zu
interpretieren ist. Existiert in der Schweiz eine allgemein anerkannte
Behandlungsmethode, so liegt kein medizinischer Grund vor, und es besteht kein
Anspruch auf Übernahme der Kosten durch die Krankenpflegeversicherung. Gleich
verhält es sich, wenn die Vorteile im Ausland gering, schwer abschätzbar oder
gar bestritten sind. Es besteht auch kein Anspruch im Umfange dessen, was eine
Behandlung in der Schweiz gekostet hätte (BGE 134 V 330 E. 2.4 S. 334).

2.5 Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, muss auch eine im Ausland
durchgeführte Behandlung gemäss Art. 25-31 KVG eine Pflichtleistung nach
Massgabe der in Art. 32-34 KVG festgelegten Voraussetzungen darstellen, das
heisst, sie muss wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Schliesslich
sind die KLV und ihre Anhänge nur beschränkt gerichtlich überprüfbar (BGE 130 V
472 E. 6.2 S. 474). Auf die entsprechenden Darlegungen des kantonalen Gerichts
wird verwiesen.

3.
3.1 Die Vorinstanz stellte fest, dass die Protonentherapie in der Schweiz am
Paul Scherrer-Institut Villigen durchgeführt werde, allerdings nicht zur
Behandlung von Kehlkopfkarzinomen (Ziff. 9.3 Anhang 1 KLV). Gestützt auf die
Stellungnahmen des Vertrauensarztes der EGK, Dr. med. S.________, verneinte sie
sodann auch die Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Protonentherapie zur
Behandlung des Kehlkopfkrebses. Dass diese Behandlungsart versehentlich nicht
auf der Liste figuriert und deshalb eine eindeutige Lücke vorliegt, könne als
ausgeschlossen gelten. Die Vollständigkeit der KLV sei nicht in Zweifel zu
ziehen, zumal die Protonentherapie seit 1986 zur Behandlung verschiedener
Karzinome angewendet werde. Weil die Schweiz bezüglich Protonentherapie
nachweislich zu den Pionieren und nach wie vor führenden Nationen im Bereich
dieser Behandlungsart zähle, sei die Entscheidung der Fachkommission, welche
diese Therapie bei Kehlkopfkrebs weiterhin ausschliesst, glaubwürdig und
nachvollziehbar. Das Vorliegen eines medizinischen Grundes sei auch deshalb
auszuschliessen, weil in der Schweiz bei der vorliegend gestellten Diagnose
seit Jahren die Photonenstrahlentherapie als konventionelle und adäquate
Therapieform anerkannt sei, angewandt und von der Krankenversicherung
übernommen werde.

3.2 Die Beschwerdeführerinnen wenden im Wesentlichen ein, die Frage, ob die
Protonentherapie einen erheblichen therapeutischen Mehrwert bedeutet, müsse
mittels Expertise geklärt werden. Die Vorinstanz sei in Willkür verfallen,
indem sie unverhältnismässig hohe Anforderungen an den therapeutischen Vorteil
der Behandlung im Ausland gestellt und damit dem verstorbenen Versicherten den
Zugang zur Heilung verwehrt habe. Sodann sei die in der Schweiz durchgeführte
Photonentherapie mit hohen Risiken, wie einem möglichen Verlust von Stimme und
Geschmacksinn, einer Schilddrüsenunterfunktion, chronischen Schluckbeschwerden
und eventuell dem Verlust des Kehlkopfs, behaftet.

4.
4.1 Die Vorbringen der Beschwerdeführerinnen sind nicht geeignet, den
angefochtenen Entscheid als in tatsächlicher Hinsicht offensichtlich unrichtig
oder anderweitig bundesrechtswidrig (E. 1 hievor) erscheinen zu lassen. Die
Tatsache, dass die Protonen-Strahlentherapie gemäss Ziff. 9.3 Anhang 1 KLV nur
bei ausgewählten Tumorarten (bei intraokulären Melanomen bereits seit 1986, bei
Tumoren im Bereich des Schädels, des Hirns und der Hirnhäute seit 2002 sowie
bei Mammakarzinomen seit 2012 [Ziff. 9.03 KLV-Anhang 1 in der Fassung vom 12.
Juni 2012]) eingesetzt wird, zeigt, dass der KLV-Anhang keine Lücke aufweist
und nicht versehentlich gewisse Tumorarten von dieser Behandlung ausgenommen
sind. Vielmehr ist aufgrund der sukzessiven Erweiterung der Indikation einer
Protonen-Strahlentherapie, die am Paul Scherrer-Institut Villigen durchgeführt
wird, klar erkennbar, dass hinsichtlich des Kehlkopfkarzinoms ein
qualifiziertes Schweigen des EDI als Verordnungsgeber vorliegt; das
Kehlkopfkarzinom fehlt auf der Liste derjenigen Tumorarten, deren Behandlung
mittels Protonen-Strahlentherapie allein als wirksam, zweckmässig und
wirtschaftlich anerkannt und von der obligatorischen Krankenversicherung zu
übernehmen ist.

4.2 Mit Blick auf die dargestellte Rechtslage, insbesondere die Entwicklung bei
der Übernahme der Protonen-Strahlentherapie gemäss Ziff. 9.3 Anhang 1 KLV,
erübrigt sich die Anordnung einer Expertise zur Frage nach einem erheblichen
therapeutischen Mehrwert dieser Behandlungsart bei Kehlkopfkrebs. Eine
Behandlung im Ausland entfällt schon mangels Erfüllung der Grundkriterien für
eine Kostenvergütung durch die Krankenversicherung, die auch bei einer
Behandlung in der Schweiz gegeben sein müssen. Die Entscheidung, bei welchen
Tumorarten die Protonen-Strahlentherapie als Pflichtleistung gilt, obliegt der
Fachkommission (Leistungs- und Grundsatzkommission: vgl. Art. 1 KLV in
Verbindung mit Art. 33 lit. a und c KLV). Begründete Zweifel an deren
fachlichem Urteil, bei mehreren Tumorarten die Protonentherapie zur
Pflichtleistung zu erklären, bei andern hingegen (noch) nicht, sind nicht
ersichtlich und lassen sich auch der Beschwerde nicht entnehmen. Dass die von
der Krankenversicherung als Pflichtleistung zu übernehmende Photonentherapie
Nebenwirkungen aufweist und Risiken in sich birgt, wie die
Beschwerdeführerinnen vorbringen, wird durch die (verbindliche) vorinstanzliche
Feststellung, dass eine mit Blick auf den angestrebten Heilungserfolg
medizinisch verantwortbare und in zumutbarer Weise durchführbare Behandlung in
der Schweiz konkret gewährleistet ist, stark relativiert.

4.3 Inwiefern die Vorinstanz in Willkür verfallen sein soll, wie die
Beschwerdeführerinnen geltend machen, vermag nicht einzuleuchten. Eine
Entscheidung ist nach der Rechtsprechung willkürlich, wenn sie eine Norm oder
einen klaren und unumstrittenen Rechtsgrundsatz offensichtlich schwer verletzt,
sich mit sachlichen Gründen schlechthin nicht vertreten lässt oder in
stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Hingegen liegt
willkürliche Rechtsanwendung nicht schon vor, wenn eine andere Lösung
vertretbar oder gar vorzuziehen wäre (BGE 134 II 124 E. 4.1 S. 133; 133 I 149
E. 3.1 S. 153 mit Hinweisen). Dass der angefochtene Entscheid, der sich auf die
vom kantonalen Gericht vollständig dargestellte Rechtslage stützt und
einlässlich begründet ist, als willkürlich im Sinne dieser Rechtsprechung
bezeichnet werden könnte, lässt sich ohne weiteres ausschliessen.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten den unterliegenden
Beschwerdeführerinnen aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden den Beschwerdeführerinnen je zur Hälfte
auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Wallis,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. Februar 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Widmer