Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 734/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   

9C_734/2012

Urteil vom 12. Juni 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
O.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Arthur Andermatt,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse
13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
11. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
Nachdem die AHV/IV-Rekurskommission bzw. das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau die Sache mehrfach zur weiteren oder erneuten Abklärung an die
IV-Stelle des Kantons Thurgau zurückgewiesen hatte (Entscheide vom 3. September
2007, 2. April 2008 und 23. Juni 2010), hielt die Verwaltung mit Verfügung vom
23. Februar 2012 unter anderem gestützt auf ein polydisziplinäres Gutachten der
medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) X.________ vom 3. November 2011 fest,
der 1958 geborene O.________ habe (bei einem Invaliditätsgrad von 6 Prozent)
keinen Anspruch auf eine Invalidenrente.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies die dagegen erhobene Beschwerde
ab (Entscheid vom 11. Juli 2012).

C.
O.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid und die strittige Verfügung
seien aufzuheben und die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit
dieses ein gerichtliches Gutachten einhole.

Die IV-Stelle, das Bundesamt für Sozialversicherungen und das kantonale Gericht
verzichten auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer leidet an einem rezidivierenden akuten bis subakuten
Ekzem an Handrücken, Unterarmen, Oberschenkeln, Abdomen (Bauch), Rücken und im
Bereich des Gesässes, an einer atopischen Diathese (genetisch bedingte Neigung
zu Überempfindlichkeitsreaktionen der Haut), einer peripheren
vestibulo-cochleären Funktionsstörung links (Gleichgewichtsstörung), Tinnitus
auris links, belastungsabhängigen Kniegelenksschmerzen und an Epicondylitis
humeri radialis links ("Tennisellenbogen") (Diagnosen mit Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit; Gutachten der MEDAS X.________ vom 3. November 2011).
Strittig ist, ob aufgrund dieser Gesundheitsschäden ein Anspruch auf
Invalidenrente besteht.

1.2.

1.2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2
BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann
offensichtlich unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie
eindeutig und augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Noch
keine offensichtliche Unrichtigkeit liegt vor, nur weil eine andere Lösung
ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene
(Urteil 9C_592/2012 vom 30. April 2013 E. 1.2.1; vgl. BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9).

1.2.2. Dem Sachgericht steht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher
Ermessensspielraum zu (BGE 120 Ia 31 E. 4b S. 40). Das Bundesgericht greift auf
Beschwerde hin ein, wenn das Sachgericht offensichtlich unhaltbare Schlüsse
zieht, erhebliche Beweise übersieht oder solche willkürlich ausser Acht lässt
(zum Begriff der Willkür BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5). Inwiefern das kantonale
Gericht sein Ermessen missbraucht haben soll, ist in der Beschwerde klar und
detailliert aufzuzeigen (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261; zum Ganzen: erwähntes
Urteil 9C_592/2012 E. 1.2.3).

2.
Das kantonale Gericht erwog, das Gutachten der MEDAS X.________ vom 3. November
2011 sei schlüssig. Es könne daher davon ausgegangen werden, der
Beschwerdeführer sei in einer körperlich leichten bis mittelschweren
adaptierten Tätigkeit vollständig arbeitsfähig. Was die Invaliditätsbemessung
angehe, seien an die Konkretisierung von Arbeitsgelegenheiten und
Verdienstaussichten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt keine übermässigen
Anforderungen zu stellen. Zumutbar seien etwa leichte Montagearbeiten oder
Überwachungsfunktionen in Industrie und Produktion. Bei einem auf den Zeitpunkt
eines allfälligen Rentenbeginns (2002) gelegten Vergleich des Valideneinkommens
(hypothetisches Einkommen ohne Gesundheitsschaden) von Fr. 60'933.90 mit dem
aufgrund von Tabellenlöhnen bemessenen, leidensbedingt um 15 Prozent gekürzten
(BGE 126 V 75) Invalideneinkommen von Fr. 48'573.10 ergebe sich ein nicht
rentenbegründender Invaliditätsgrad von rund 20 Prozent (vgl. Art. 16 ATSG und
Art. 28 Abs. 2 IVG). Berufliche Massnahmen seien derzeit nicht angezeigt,
nachdem sich der Beschwerdeführer für vollständig arbeitsunfähig halte.

3.

3.1. Der Beschwerdeführer rügt zunächst, das kantonale Gericht habe in seinem
Rückweisungsentscheid vom 23. Juni 2010 von der IV-Stelle verlangt, im
Anschluss an eine frühere fachmedizinische Stellungnahme des Dermatologen Dr.
A.________, Spital Z.________, vom 28. April 2009bei diesem Arzteine neue
Expertise einzuholen. Stattdessen habe die Verwaltung der MEDAS X.________ mit
der Erstellung eines polydisziplinären Gutachtens beauftragt. Eine gerichtliche
Anweisung dürfe indes nicht einfach abgeändert werden. Die Vorinstanz hält
dagegen, der IV-Stelle sei es unbenommen, Abklärungen vorzunehmen, die weiter
reichten als im Rückweisungsentscheid angeordnet. Nachdem neben der im
Vordergrund stehenden dermatologischen Problematik auch Schwindel- und
kognitive Beschwerden sowie eine Beeinträchtigung des Hörsinns hätten
berücksichtigt werden müssen, sei eine polydisziplinäre Begutachtung
gerechtfertigt. Dagegen wäre es nicht angezeigt gewesen, die medizinischen
Erhebungen auf verschiedene Abklärungsstellen zu verteilen. Dem ist
beizupflichten.

3.2. Was die Auffassung des Beschwerdeführers angeht, die Vorinstanz hätte mit
Blick auf die Wahrung der Verfahrensfairness im Sinne von BGE 137 V 210 E.
4.4.1.3 S. 264 eine gerichtliche Expertise anordnen müssen, so weist das
kantonale Gericht zutreffend darauf hin, dass die Auftragserteilung an die
MEDAS X.________ am 4. April 2011 und somit vor BGE 137 V 210 (Entscheid vom
28. Juni 2011) erfolgt ist. In Übergangssituationen wie dieser bildet ein nach
altem Standard (das heisst noch ohne Gewährung der in BGE 137 V 210 statuierten
Beteiligungsrechte) in Auftrag gegebenes Gutachten grundsätzlich zwar eine
massgebende Entscheidungsgrundlage. Das Manko wird jedoch bei der
Beweiswürdigung berücksichtigt; ähnlich wie bei versicherungsinternen
medizinischen Entscheidungsgrundlagen (BGE 135 V 465 E. 4.4-4.7 S. 469 ff.)
genügen schon relativ geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit
der (verwaltungsexternen) ärztlichen Feststellungen, um eine (neue)
Begutachtung anzuordnen (vgl. BGE 139 V 99 E. 2.3.2 S. 103 mit Hinweisen).

Eine solche Situation ist hier indessen nicht ersichtlich. Die Gutachter der
MEDAS X.________ führten aus, aus dermatologischer Sicht sei der Explorand
aufgrund einer akuten bis subakuten toxisch-irritativen Dermatitis und einer
atopischen Diathese für die angestammte Tätigkeit als Fassadenisoleur
vollständig arbeitsunfähig, für Arbeiten ohne physikalische, chemische sowie
mechanische Belastungen dagegen vollständig arbeitsfähig. Arbeiten mit
repetitivem Feuchtkontakt sowie direktem Kontakt zu Irritantien und den
nachgewiesenen Allergenen müsse strikt gemieden werden (Expertise vom 3.
November 2011). Im Bericht des Spitals Z.________ vom 28. April 2009 ist
derweil zu lesen, eine irritativfreie Arbeit ohne Feuchtsubstanzen oder grobem
Staubaufkommen sei grundsätzlich möglich, wenn es bei der eingetretenen
Abheilung bleibe und die Ekzeme nicht weiter florierten (vgl. auch das
Gutachten vom 2. Februar 2009). Die Abteilung Dermatologie am Spital Z.________
schätzte die Auswirkungen des Hautleidens auf das Leistungsvermögen des
Beschwerdeführers also grundsätzlich gleich ein wie die Gutachter der MEDAS
X.________. Es kann nicht gesagt werden, eine aktenkundige medizinische Meinung
sei unbegründeterweise zugunsten einer anderen Betrachtungsweise zurückgestellt
worden.

4.
Zur Frage, ob die von den Vorinstanzen bezeichneten (vgl. oben E. 1.2)
Verweisungstätigkeiten eine ausreichende Grundlage zur Bemessung des
Invalideneinkommens abgeben, macht der Beschwerdeführer geltend, es seien nicht
genügend konkret zumutbare Tätigkeiten genannt worden, mit denen er eine
allfällige Restarbeitsfähigkeit verwerten könnte.

4.1. Die Arbeitsmöglichkeiten, die mit der gesundheitlichen Beeinträchtigung
vereinbar und nach den objektiven und subjektiven Umständen zumutbar sind,
bilden strukturell nur dann den in Art. 16 ATSG vorausgesetzten Arbeitsmarkt,
wenn sie in verschiedenen Ausformungen und hinreichender Zahl, also in
ausreichender qualitativer und quantitativer Bandbreite, tatsächlich vorhanden
sind. Je enger umschrieben das Anforderungsprofil und damit der Kreis der
geeigneten Verweisungstätigkeiten ist, desto weiter geht die
Substantiierungspflicht der Verwaltung bei der Bezeichnung entsprechender
Arbeitsgelegenheiten (Urteil 9C_364/2011 vom 5. April 2012 E. 3.1 mit
Hinweisen).

4.2. Nach dem Gutachten der MEDAS X.________ vom 3. November 2011 ist der
Beschwerdeführer insgesamt für leichte bis mittelschwere, wechselbelastende
Tätigkeiten ohne häufige Überkopfverrichtungen, ohne repetitiven Feuchtkontakt
sowie direkten Kontakt zu Irritantien und kritischen Allergenen, "ohne
physikalische, chemische sowie mechanische Belastungen, ohne sturzgefährdende
Tätigkeiten und ohne Tätigkeiten mit Eigen- oder Fremdgefährdung sowie ohne
erhöhte Lärmexposition" vollständig arbeitsfähig. Diese Rahmenbedingungen engen
den Kreis der Verweisungstätigkeiten in ihrer Summe zwar deutlich ein; die
gutachtlich ausgewiesenen Beeinträchtigungen betreffen verschiedene erwerblich
relevante Funktionen (eingeschränkte physische Belastbarkeit einerseits durch
die Hauterkrankung, anderseits durch die Einschränkungen im Bereich der
Extremitäten [Knie und Ellenbogen]; Gleichgewicht, Gehör). Die vorinstanzliche
Bezeichnung möglicher Arbeiten (oben E. 2) ist gleichwohl ausreichend, zumal
die spezifischen dermatologischen Vorgaben in den angeführten Tätigkeitsfeldern
(vgl. auch die detailliertere Aufzählung in der strittigen Verfügung vom 23.
Februar 2012) ohne Weiteres eingehalten sein dürften.

4.3. Diese Schlussfolgerung entbindet die Verwaltung im Übrigen - gerade auch
mit Blick auf die Vielgestaltigkeit der funktionellen Einschränkungen - nicht
davon, im Falle eines entsprechenden Begehrens Eingliederungsleistungen zu
prüfen. Mit ihrer Feststellung, berufliche Massnahmen könnten nicht empfohlen
werden, weil sich der Versicherte vor allem aufgrund seiner Hautveränderungen
keiner Erwerbstätigkeit mehr gewachsen fühle, verkennen die Gutachter der MEDAS
X.________, dass berufliche Massnahmen auch zum Zweck haben, subjektive
Eingliederungshindernisse zu beseitigen, die auf einer (objektiv nicht
begründeten) Krankheitsüberzeugung beruhen. Dem Gutachten kann nicht entnommen
werden, dass vom Versicherten von vornherein keine eingliederungsbezogene
Kooperation zu erwarten wäre.

5.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das vorinstanzliche Erkenntnis, ein
rentenbegründender Invaliditätsgrad sei nicht erreicht, kein Bundesrecht
verletzt.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend trägt der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege kann entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202).
Nach Art. 64 Abs. 4 BGG hat die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu
leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen. Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt Andermatt, St.
Gallen, als Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Juni 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Traub

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