Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 730/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_730/2012

Urteil vom 4. Juni 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
M.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Fäh,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 5. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
M.________, geboren 1964, gelernter Elektromechaniker, meldete sich am 1.
Februar 2005 unter Angabe eines Handgelenkbruchs und von Rückenschmerzen bei
der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen klärte die medizinischen und beruflich-erwerblichen Verhältnisse ab. In
diesem Rahmen veranlasste sie eine bidisziplinäre
psychiatrisch-rheumatologische Begutachtung (Teilgutachten Dr. med. K.________,
Chefarzt Klinik T.________, vom 13. April 2007 sowie Gutachten des Zentrums
A.________, vom 2. Mai 2007). Mit Vorbescheiden vom 13. Januar 2010 kündigte
sie M.________ die Abweisung der Begehren auf berufliche
Eingliederungsmassnahmen und auf Invalidenrente an. Auf den Einwand gegen die
Bescheide hin verfügte die IV-Stelle am 22. Juni 2010, es bestehe kein
Rentenanspruch (Invaliditätsgrad von 20 %). Sie begründete es damit, aus
medizinischer Sicht bestehe sowohl in der angestammten als auch jeder dem
Leiden angepassten Tätigkeit bei voller Leistung eine Arbeitsfähigkeit von 80
%.

B.
Die gegen die Verfügung vom 22. Juni 2010 eingereichte Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 5. Juli 2012 ab.

C.
M.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Er
beantragt Aufhebung des kantonalen Entscheides und Rückweisung der Sache zur
Vornahme weiterer Abklärungen und zum Neuentscheid "im Sinne der Erwägungen".

IV-Stelle, Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art.
82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht nur dann von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl.
auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzlichen Feststellungen zum
Gesundheitszustand sowie die aufgrund der medizinischen Untersuchungen
gerichtlich konstatierte Arbeits (un) fähigkeit betreffen Tatfragen (BGE 132 V
393 E. 3.2 S. 398), welche sich nach der gesetzlichen Regelung der Kognition
einer freien Überprüfung durch das Bundesgericht entziehen und die es seiner
Urteilsfindung zugrunde zu legen hat. Dagegen ist die Beachtung des
Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG Rechtsfrage (132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.), die das Bundesgericht im
Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs.
2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei
überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist die vorinstanzlich bestätigte Ablehnung des
Anspruchs auf eine Invalidenrente. Über die mit Vorbescheid vom 13. Januar 2010
abschlägig beantwortete Frage nach beruflichen Eingliederungsmassnahmen ist in
der Folge trotz erhobenem Einwand nicht verfügt worden. Indes wurde in den
Einwandschreiben und der vor- und letztinstanzlichen Beschwerde der Anspruch
auf eine solche Massnahme nicht angesprochen, sondern nur die Rentenfrage. Es
erübrigen sich hier Weiterungen.

3.

3.1. Die Vorinstanz ging von der Annahme aus, der Beschwerdeführer sei zu 70 %
bis 80 % arbeitsfähig (vgl. angefochtener Entscheid S. 14), was in der
Beschwerde nicht substanziiert in Frage gestellt wird. Das Gericht erwog, der
ausgeglichene Arbeitsmarkt weise für den gelernten und berufserfahrenen
Elektriker mit Zusatzqualifikation Stellen auf, die behinderungsadaptiert seien
und an denen Löhne wie in der früheren Tätigkeit für die Firma X.________
erzielt werden könnten. Darum entspreche das Einkommenspotenzial in der
Validenkarriere demjenigen in der qualitativ gleichwertigen Invalidenkarriere.
Bei dem in dieser Situation anwendbaren Prozentvergleich resultiere, selbst
wenn man allfälligen indirekt behinderungsbedingten Nachteilen des
Beschwerdeführers mit einem zusätzlichen Abzug von praxisgemäss 10 % Rechnung
tragen wolle, ein Invaliditätsgrad von maximal 37 %.

3.2. Der Beschwerdeführer rügt, die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung
sei willkürlich und falsch. Er sei in der Firma X.________ als Servicetechniker
für Lasergeräte angestellt gewesen. Dabei habe es sich um eine hoch
qualifizierte und spezifizierte Tätigkeit gehandelt, die auf ein einziges
Produkt ausgerichtet gewesen sei; für diese Tätigkeit gebe es in der Schweiz
keine weitere Arbeitsstelle. Als Elektromonteur sei er aufgrund des
komplizierten Handgelenkbruchs nicht mehr arbeitsfähig, was letztlich auch zur
Ausrichtung einer SUVA-Rente geführt habe. Bei der Berechnung der Invalidität
sei darum auf ein Invalideneinkommen als "qualifizierter Hilfsarbeiter"
abzustellen.

4.
Nach dem überzeugenden Gutachten des Zentrums A.________ vom 2. Mai 2007 ist
der Beschwerdeführer aus orthopädischer Sicht in einer körperlich
mittelschweren, wechselbelastenden Tätigkeit ganztags arbeitsfähig. Entgegen
der Aussage des Beschwerdeführers ist es demnach nicht so, dass aufgrund der
auf die 1998 erlittene Radiusfraktur zurückzuführenden Funktionsstörung des
linken Handgelenks eine Arbeitsfähigkeit als Elektromonteur
nachgewiesenermassen nicht mehr bestehen soll. Es war ihm nach den Angaben der
Arbeitgeberfirma X.________ vom 15. Februar 2005 trotz der Unfallfolgen
möglich, 2001 ohne gesundheitsbedingte Absenzen im Vollzeitpensum tätig zu
sein. Auch der Hinweis auf die SUVA-Rente (aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit
von 10 % ) verfängt nicht. Hingegen trifft zu, dass der Beschwerdeführer bei
der X.________ sein Valideneinkommen in einer sehr spezialisierten
Arbeitsstelle erzielte. Er muss sich nach ihrem Verlust auf dem Arbeitsmarkt
neu orientieren, was objektiv schwierig ist. Der ausgeglichene Arbeitsmarkt
weist aber für den gelernten und berufserfahrenen Elektriker mit
Zusatzqualifikation Stellen auf, die behinderungsadaptiert sind und an denen
auch entsprechende Löhne erzielt werden können (vgl. E. 4.1 2. Absatz).

4.1. Im Hinblick auf die Invaliditätsbemessung ist zunächst festzuhalten, dass
das hypothetische Valideneinkommen 2008 von der Beschwerdegegnerin mit Fr.
91'800.- zu hoch angesetzt worden ist. Sie stützte sich dabei auf die am 25.
Oktober 2007 von der damaligen Arbeitgeberin X.________ gemachte Angabe, dass
der Beschwerdeführer dort "bei 100%igem Einsatz Fr. 7'500.-" verdienen könnte.
Die sprunghafte Erhöhung des 2002 ausbezahlten Monatslohns von Fr. 5'400.-
(Arbeitgeberfragebogen vom 15. Februar 2005) auf Fr. 7'500.-, was einem Zuwachs
um 39 % in fünf Jahren entspricht, ist indes nicht nachvollziehbar. Die
Arbeitgeberin erklärte im Gegenteil mit Schreiben vom 7. November 2009, da der
Beschwerdeführer durch seine Krankheit bedingt nicht die volle Arbeitsleistung
habe erbringen können, sei er entsprechend der verminderten Performance
entlöhnt worden. Nach dem Anstellungsvertrag (Version 20. Januar 2009; Ziff. 4)
betrug der effektive Lohn bei voller Beschäftigung Fr. 2'000.-.
Es ist somit das nach Abschluss der beruflichen Spezialisierung bei der
X.________ erzielte Einkommen zur Bestimmung des Validenlohns beizuziehen. Laut
Auszug aus den individuellen Konten (IK) erzielte der Beschwerdeführer dort
2001 ein Jahreseinkommen von Fr. 72'762.-. Nach dem Nominallohnindex ( DIE
VOLKSWIRTSCHAFT 1/2-2013, Tabelle B 10.3) ergibt sich ein auf das Jahr des
Verfügungserlasses 2010 aufgerechneter Betrag von Fr. 84'288.- (Fr. 72'762.- :
1856 [2000] x 2150 [2010]). Der hypothetische Validenlohn liegt damit höher als
ein statistisches Durchschnittseinkommen: Laut Lohnstrukturerhebung (LSE) des
Bundesamtes für Statistik, Tabelle TA 1, erzielte ein Mann in der
Wirtschaftsabteilung "Reparatur und Installation von Maschinen und
Ausrüstungen" (Pos. 33; Anforderungsniveau 3: Berufs- und Fachkenntnisse
vorausgesetzt) im Jahr 2010 ein Einkommen von Fr. 5'715.- (40 Arbeitsstunden);
auf die durchschnittliche betriebsübliche Arbeitszeit im Sektor "Erbringung von
sonstigen Dienstleistungen" von 41.8 Stunden ( DIE VOLKSWIRTSCHAFT 1/2-2013,
Tabelle B 9.2) hochgerechnet, resultiert ein Einkommen von bloss Fr. 5'972.-
(oder Fr. 71'664.- im Jahr). Da konkreter, ist der höhere Wert von Fr. 84'288.-
als Valideneinkommen zu betrachten.

4.2. Was die Bestimmung des Invalideneinkommens betrifft, ist zu
berücksichtigen, dass die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich (E. 1)
festgestellt hat, die verbleibende Arbeitsfähigkeit betrage aufgrund einer im
Ermessensbereich einer fachärztlichen Beurteilung liegenden Abweichung 70 %
bzw. 80 %. Es rechtfertigt sich, hier den Mittelwert von 75 % heranzuziehen. Ob
ein Mittelwert zu berücksichtigen ist, ist als Rechtsfrage durch das
Bundesgericht frei überprüfbar. Es hat wie zuvor das Eidgenössische
Versicherungsgericht in vergleichbaren Konstellationen regelmässig auf einen
solchen abgestellt (vgl. Urteil 9C_226/2009 vom 19. August 2009 E. 3.2 mit
zahlreichen Hinweisen).
Auf der Basis des statistischen Jahreseinkommens von Fr. 71'664.- (E. 4.1 in
fine) ergibt sich bei einer Arbeitsfähigkeit von 75 % ein Betrag von Fr.
53'748.-. Reduziert um den von der Vorinstanz (für das Bundesgericht
verbindlich) zuerkannten Abzug von 10 % (vorinstanzlicher Entscheid S. 14
unten) resultiert ein hypothetisches Invalideneinkommen von Fr. 48'373.- (= Fr.
53'748.- x 0,9). Bezogen auf das hypothetische Valideneinkommen von Fr.
84'288.- (E. 4.1 zweiter Absatz) leitet sich ein Invaliditätsgrad von 43 %
(42,609 %; zum Runden vgl. BGE 130 V 121) und damit der Anspruch auf eine
Viertelsrente ab. Nach der im Zeitpunkt der Anmeldung zum Leistungsbezug am 1.
Februar 2005 noch gültigen (altrechtlichen) Fassung von Art. 29 IVG (ersetzt im
Rahmen der 5. IV-Revision auf der 1. Januar 2008) begann der Rentenanspruch
noch ohne die inzwischen eingeführte Wartezeit nach Geltendmachung des
Anspruchs (Art. 29 Abs. 1 IVG).

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Überdies hat sie dem obsiegenden
Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 5. Juli 2012 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons
St. Gallen vom 22. Juni 2010 werden aufgehoben, und es wird festgestellt, dass
der Beschwerdeführer ab 1. Februar 2004 Anspruch auf eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Juni 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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