Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 720/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_720/2012

Urteil vom 11. Februar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Advokat Dr. Peter Bohny,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 10. Mai
2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 25. Oktober 2010 sprach die IV-Stelle Basel-Landschaft dem
1962 geborenen A.________ für die Zeit von Juni 2009 bis Juni 2010 gestützt auf
einen Invaliditätsgrad von 50 % eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu.

B.
Die dagegen vom Versicherten erhobene Beschwerde mit dem Antrag, es sei ihm
entsprechend der effektiven Erwerbsunfähigkeit ab Juni 2009 eine unbefristete
Invalidenrente zuzusprechen, hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, nach Einholung eines Gerichtsgutachtens vom
23. Dezember 2011 mit Entscheid vom 10. Mai 2012 in dem Sinne gut, als es
befand, der Beschwerdeführer habe ab 1. Juni 2009 Anspruch auf eine
Dreiviertelrente und ab 1. Juli 2010 auf eine Viertelrente.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, ihre Verfügung sei wiederherzustellen, wobei der Beschwerde die
aufschiebende Wirkung zuzuerkennen sei.
In seiner Vernehmlassung schliesst der Beschwerdegegner auf Nichteintreten auf
die Beschwerde, eventualiter sei diese abzuweisen, so weit auf sie eingetreten
wird. Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und
wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein
kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht dem Versicherten zu Recht
ab 1. Juni 2009 Anspruch auf eine Dreiviertelrente und ab 1. Juli 2010 auf eine
Viertelrente zugesprochen hat.

2.1 Die IV-Stelle vertrat in ihrer Verfügung vom 25. Oktober 2010 und in ihrer
Vernehmlassung vom 6. Januar 2011 den Standpunkt, es bestehe der Anspruch auf
eine vom 1. Juni 2009 bis 30. Juni 2010 befristete halbe Invalidenrente. Bei
der Bezifferung des Invalideneinkommens ging sie davon aus, es könne auf das
tatsächlich erzielte Einkommen abgestellt werden bzw. es müsse dieses nach der
gesundheitlichen Zustandsverbesserung ab März 2010 auf das zumutbare 70%-Pensum
hochgerechnet werden. Dabei stützte sich die IV-Stelle auf den Umstand, dass in
einer ersten Phase bis Mai 2010 eine 50%ige Arbeitsunfähigkeit bestanden hatte.
Für die Zeit danach werde die medizinisch-theoretische Restarbeitsfähigkeit
durch den Versicherten nicht voll ausgeschöpft. Der tatsächlich erzielte
Verdienst müsse deshalb auf 70 % hochgerechnet werden, weil die bisherige
Tätigkeit in diesem Umfang zumutbar sei. Mit einem im Rahmen des
vorinstanzlichen Verfahrens eingeholten Gerichtsgutachten vom 23. Dezember 2011
und mit der darin enthaltenen medizinischen Beurteilung von Dr. med.
G.________, welcher ab März 2010 eine 70%ige Arbeitsfähigkeit attestiert hatte,
wobei sich die Reduktion der Arbeitsfähigkeit von 30 % durch die Notwendigkeit
der Einnahme von Pausen und Erholungsphasen begründen lasse, hat sich die
IV-Stelle bereits im Beschwerdeverfahren vor dem Kantonsgericht (Stellungnahme
vom 20. Januar 2012) einverstanden erklärt.

2.2 Das Kantonsgericht hat das Vorgehen der IV-Stelle als unzulässig erachtet.
Bei einer Person, die keine Erwerbstätigkeit mehr ausübe, sei das hypothetische
Invalideneinkommen gestützt auf die statistischen Lohnangaben der
Lohnstrukturerhebung (LSE) zu ermitteln. Die prozentuale Hochrechnung des
tatsächlichen Einkommens auf eine 70%ige restliche Arbeitsfähigkeit verbiete
sich deshalb, weil die verbleibende Arbeitsfähigkeit des Versicherten nicht in
zumutbarer Weise voll ausgeschöpft werde. Eine derartige Vorgehensweise würde
weiteren Hypothesen unterliegen. Insbesondere sei nicht klar, ob die
Arbeitgeberin den Versicherten auch im Umfang von 70 % beschäftigen würde.
2.3
2.3.1 Für die Zeit zwischen Juni 2009 und der Verbesserung des
Gesundheitszustandes im März 2010 ist die Vorinstanz davon ausgegangen, dass
der Versicherte seine Restarbeitsfähigkeit nicht optimal ausgeschöpft habe.
Damit hat sie den rechtserheblichen Sachverhalt aber insofern unrichtig
festgestellt, als Dr. med. G.________ im massgeblichen Gerichtsgutachten vom
23. Dezember 2011 festgehalten hatte, in diesem Zeitraum habe eine
Arbeitsfähigkeit von 50 % in der angestammten (und aktuellen) Tätigkeit
vorgelegen. Richtigerweise hat die Beschwerdeführerin diesbezüglich dargelegt,
dass der Beschwerdegegner in diesem Ausmass auch tatsächlich gearbeitet hatte.
Da im Zeitabschnitt von Juni 2009 bis März 2010 eine 50%ige Arbeitsfähigkeit
bestanden hatte und diese vom Versicherten auch so verwertet worden war, ist
das Abstellen auf einen LSE-Tabellenlohn beim Invalideneinkommen im Rahmen des
Einkommensvergleichs nicht zulässig. Entsprechend dem Arbeitspensum von 50 %
bzw. einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % beträgt das Invalideneinkommen die
Hälfte des Valideneinkommens und der Invaliditätsgrad 50 %, was den Anspruch
auf eine (befristete) halbe Rente ab 1. Juni 2009 ergibt.
2.3.2 Die Vorinstanz hat auch für die Zeit nach der Verbesserung des
Gesundheitszustandes des Versicherten im März 2010 das Invalideneinkommen
anhand eines Tabellenlohnes ermittelt. Die Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar
sind, ist eine frei überprüfbare Rechtsfrage (SVR 2009 IV Nr. 6 S. 11, 9C_189/
2008 E. 4.1 in Verbindung mit E. 1 mit Hinweisen).
Für die Bestimmung des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch
realisierbaren Einkommens ist nach der Rechtsprechung primär von der
beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person
konkret steht (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301). Das Kantonsgericht weicht von
dieser Rechtsprechung ab mit der Begründung, der Versicherte schöpfe die ihm
verbleibende Arbeitsfähigkeit nicht voll aus. Wie die Beschwerdeführerin zu
Recht geltend macht, verdient diese Auffassung jedoch keine Zustimmung. Das
Bundesgericht hat in seinem Urteil 8C_579/2009 vom 6. Januar 2010 in E. 2.3.2
ausgeführt, diese Argumentation laufe darauf hinaus, dass das hypothetische
Invalideneinkommen stets aufgrund statistischer Durchschnittswerte zu bestimmen
wäre, wenn der tatsächlich erzielte Verdienst unter dem gestützt auf das
zumutbare Pensum ermittelten Tabellenlohn liege, was offensichtlich der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung zuwiderlaufe. Die von der Vorinstanz
aufgeführte Begründung ist auch deshalb nicht einschlägig, weil dabei Sinn und
Zweck des Kriteriums der "voll ausgeschöpften Restarbeitsfähigkeit" verkannt
wird. Dabei ist zu beachten, dass das Kriterium "stabile Arbeitsverhältnisse"
verhindern soll, dass zu Ungunsten der versicherten Person von einem (zu) hohen
tatsächlichen Einkommen ausgegangen wird, welches sie nicht ohne weiteres auch
in Zukunft verdienen kann. Ebenfalls zum Vorteil der versicherten Person ist
das Kriterium "kein Soziallohn" ausgestaltet, wo desgleichen verhindert werden
soll, dass ein Einkommen angerechnet wird, welches nicht überwiegend
wahrscheinlich erzielt werden kann. Demgegenüber soll das Kriterium der "voll
ausgeschöpften Restarbeitsfähigkeit" nicht den Interessen der versicherten
Person, sondern denjenigen der Invalidenversicherung dienen, indem sich die
versicherte Person nicht auf ein tieferes Einkommen berufen kann, während ihr
die Erzielung eines höheren zumutbar wäre (SVR 2011 IV Nr. 37 S. 109, 9C_721/
2010 E. 4.1). Insofern ist die Erhöhung des 50%igen auf ein 70%iges-Pensum der
Arbeitsfähigkeit als Ausfluss aus der der versicherten Person obliegenden
Schadenminderungspflicht zu bezeichnen. Dies gilt hier umso mehr, als -
entgegen der vom Kantonsgericht erwähnten fehlenden Klarheit, ob die
Arbeitgeberin den Beschwerdegegner auch im Umfang von 70 % beschäftigen würde -
aus den vorliegenden Akten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hervorgeht,
dass die Weiterbeschäftigung in einem höheren Pensum nicht bloss möglich,
sondern sogar angestrebt worden ist. Die Arbeitgeberin des Versicherten hat
sich denn auch dahin gehend geäussert, sehr daran interessiert zu sein, den
Arbeitsplatz des seit über 20 Jahren bei ihr angestellten Beschwerdegegners zu
gewährleisten. Der Beschwerdegegner bestreitet die diesbezügliche Darlegung der
Beschwerdeführerin nicht. Insoweit er einen Soziallohn geltend macht, ist
darauf hinzuweisen, dass die Arbeitgeberfirma einen solchen verneint hat. Für
(spätere) Änderungen der Tatsachen bleibt die Möglichkeit einer Neuanmeldung
vorbehalten.
Weitere Hypothesen bzw. Gründe, die gegen eine Hochrechnung auf ein 70%-Pensum
sprechen würden, sind keine ersichtlich. Da der angefochtene Entscheid damit
Bundesrecht verletzt, kann er auch bezüglich des vorinstanzlich entschiedenen
Rentenanspruchs für die Zeit nach der Verbesserung des Gesundheitszustandes im
März 2010 nicht geschützt werden.

2.4 Die Beschwerde ist somit wegen Bundesrechtswidrigkeit des kantonalen
Entscheides begründet und gutzuheissen. Damit wird das Begehren um
aufschiebende Wirkung gegenstandslos.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 10. Mai 2012
aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, zurückgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Februar 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Scartazzini