Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 704/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_704/2012

Urteil vom 8. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Sebastian Lorentz,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 31. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
K.________, Jahrgang 1975, geschieden, Mutter einer 1994 geborenen Tochter,
arbeitete vollzeitlich in einem Tankstellen-Verkaufsladen. Am 6. März 2005
erlitt sie einen Autounfall, für dessen Folgen die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) aufkam. Seit dem Unfall erwerbslos und in
ärztlichen Behandlungen stehend, meldete sie sich im September 2006 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich
klärte die Verhältnisse in medizinischer und beruflich-erwerblicher Hinsicht ab
und gelangte mit Vorbescheid vom 18. Mai 2007 zum Schluss, es bestehe ein
Invaliditätsgrad von 31 %. Das seitens der Versicherten im Einwandverfahren
beigebrachte neurologisch-neuropsychologische Gutachten des Dr. med.
M.________, Spezialarzt für Neurologie FMH, vom 25. Juli 2007 veranlasste die
IV-Stelle, bei der medizinischen Akademie X.________ des Spitals Y.________ ein
vom 31. Dezember 2008 datierendes Gutachten beizuziehen. Gestützt darauf lehnte
die IV-Stelle den Rentenanspruch ab (Invaliditätsgrad von 25 %, Verfügung vom
23. April 2009).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich nach Beizug der SUVA-Akten, welche ein weiteres von der
medizinischen Akademie X.________ zuhanden der Anstalt erstattetes
polydisziplinäres Gutachten vom 31. Dezember 2010 enthielten, mit Entscheid vom
31. Mai 2012 ab.

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und
es seien ihr die gesetzlichen Leistungen, insbesondere mindestens eine
Viertelsrente zuzusprechen. Auf die Begründung der Beschwerde wird, soweit
erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat in den Erwägungen 2.2 und 2.3 des angefochtenen
Entscheides (Art. 90 BGG) die zur Beurteilung des streitigen Rentenanspruchs
massgeblichen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt.

2.
Die Begründung der Beschwerde beschränkt sich, vorbehältlich der Abzugsfrage
(E. 3), auf eine Kritik an der mit BGE 130 V 352 begründeten Rechtsprechung zu
anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen und damit vergleichbaren
ätiologisch-pathogenetisch unklaren Beschwerdebildern (vgl. zuletzt BGE 137 V
64).

2.1 Nach ständiger Rechtsprechung beurteilt das Sozialversicherungsgericht die
Rechtmässigkeit angefochtener Verwaltungsverfügungen aufgrund der tatsächlichen
Verhältnisse, wie sie sich bis zu deren Erlass verwirklicht haben (BGE 132 V
215 E. 3.1.1 S. 320). Entsprechend dieser Regel über den zeitlich massgebenden
Sachverhalt hat das kantonale Gericht seine Beurteilung zu Recht auf den
Zeitraum zwischen dem virtuellen Rentenbeginn von Anfang März 2006 bis zur
angefochtenen Verfügung (welche vom 23. April 2009 datiert) beschränkt. Davon
abzuweichen besteht schon deswegen kein Anlass, weil die zweite Expertise der
medizinischen Akademie X.________ von Ende 2010 gegenüber dem von Sylvester
2008 datierenden Vorgutachten in mehrfacher Hinsicht gesundheitliche
Verschlechterungen ausweist.

2.2 Somit ist die zweite Expertise der medizinischen Akademie X.________ für
die auf die Zeit bis April 2009 beschränkte sozialversicherungsgerichtliche
Beurteilung nicht von Bedeutung. Vielmehr ist auf das zeitlich weitaus näher
liegende erste Gutachten der medizinischen Akademie X.________ vom 31. Dezember
2008 abzustellen, welches unter rheumatologischem, neurologischem,
neuropsychologischem und psychiatrischem Blickwinkel die Arbeitsfähigkeit wie
folgt einschätzte:
"(...) Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf
In der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Verkäuferin einer Tankstelle, welche
als körperlich leichte bis intermittierend wechselbelastende Tätigkeit
angesehen werden kann, besteht sowohl aus somatischer wie auch aus
psychiatrischer Sicht eine zumutbare Arbeitsfähigkeit von 80 %. Die leichte
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ist durch eine verminderte psychische
Belastbarkeit mit verminderter Schmerz- und Stresstoleranz (Verlangsamung und
Bedarf nach vermehrten Pausen) bedingt. Sofern das Einschalten regelmässiger
Pausen möglich ist, ist diese zu 80 % zumutbare Arbeitstätigkeit ganztags
verwertbar.
(...) Arbeitsfähigkeit in anderen Berufen
Für sämtliche körperlich leichte bis intermittierend mittelschwere Tätigkeiten
mit Möglichkeit zur Einnahme von Wechselpositionen zur Einhaltung eines
rückenergonomischen Verhaltens, mit der Möglichkeit für kurze vermehrte Pausen
zur Durchführung von Lockerungs-, Entlastungs- und Dehnübungen und Vermeidung
von wiederholten oder dauerhaften Arbeiten mit Rumpf- oder Kopfbeugung,
-überstreckungen, -torsion, mit Tragarbeiten von maximal 5 kg ab Boden bis
Hüfte und von maximal 10 kg zwischen Hüft- und Schulterhöhe ohne dauerhafte
oder ständig wiederholte Arbeiten über Schulterhöhe, mit Vermeidung von
mechanischen Vibrationen und Erschütterungen des Achselskelettes besteht eine
zumutbare Arbeitsfähigkeit von 80 % (die auch im Haushalt gilt). Körperlich
mittelschwere und schwere Tätigkeiten sind der Explorandin nicht zuzumuten."
(Gutachten der medizinischen Akademie X.________ vom 31. Dezember 2008 Seite 19
unten f.)

2.3 Auf diese aus einer multidisziplinären Abklärung resultierende Schätzung
der Arbeitsfähigkeit ist abzustellen. Die Beschwerde enthält nichts, was diese
fachmedizinische Einschätzung der erfahrenen Abklärungsstelle als
offensichtlich unrichtig (unhaltbar, willkürlich; Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 133
II 249 E. 1 S. 255) erscheinen liesse. Damit ist das in der Beschwerde
aufgeworfene Problem, wie die auf dem Hintergrund der zweiten Expertise der
medizinischen Akademie X.________ postulierte ganzheitliche Betrachtungsweise
sozialversicherungsrechtlich zu qualifizieren sei, gegenstandslos. Denn im
massgebenden Zeitpunkt bis zum Verfügungserlass ist keine Komorbidität
ausgewiesen. Auch entfällt die Beurteilung der Frage, ob die Vorinstanz
Bundesrecht verletzt hat (Art. 95 lit. a BGG), wenn sie der neuropsychologisch
attestierten aktuellen Unmöglichkeit, auf dem freien Markt eine Arbeit
aufzunehmen, im Lichte der Rechtsprechung BGE 130 V 352 invalidisierende
Wirkung abgesprochen hat.

3.
Besteht nach dem Gesagten nicht nur in einer zumutbaren Verweisungstätigkeit,
sondern selbst im angestammten Beruf als Verkäuferin in einem Tankstellenshop
eine 80%ige Arbeitsfähigkeit, ist die Frage eines höheren als des
vorinstanzlich gewährten Abzuges von 5 % vom Invalideneinkommen (BGE 126 V 75)
obsolet. Im massgeblichen Prüfungszeitraum (E. 2.1) verfügte die
Beschwerdeführerin medizinisch und rechtlich über eine rentenausschliessende
Arbeitsfähigkeit. Ob sich seither daran etwas geändert hat, ist nicht
Gegenstand des Verfahrens.

4.
Der nachgesuchten unentgeltlichen Rechtspflege ist zu entsprechen, da die
hiefür erforderlichen Vorlaussetzungen (Art. 65 BGG) als erfüllt betrachtet
werden können. Die Beschwerdeführerin wird jedoch darauf aufmerksam gemacht,
dass sie dem Gericht die Kosten zu ersetzen haben wird, wenn sie künftig zur
Bezahlung der Anwalts- und Gerichtskosten in der Lage sein sollte.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Rechtsanwalt Sebastian Lorentz wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung
von Fr. 2'000.- ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. November 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann