Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 703/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_703/2012

Urteil vom 11. Juli 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Pierre Heusser,
Beschwerdeführerin,

gegen

Easy Sana Krankenversicherung AG,
Rechtsdienst, Rue des Cèdres 5, 1920 Martigny,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 13. Juni 2012.

Sachverhalt:

A.
K.________ war bei der Hermes Krankenversicherung (ab 1. Januar 2011 Easy Sana
Krankenversicherung AG; nachfolgend: Krankenversicherung) im Rahmen der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung versichert, als sie sich am 8. Mai
2009 einer zahnmedizinischen Behandlung unter Vollnarkose unterzog. Mit
Verfügung vom 9. Dezember 2010 verweigerte die Krankenversicherung die
Übernahme der Kosten für die Narkose. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid
vom 4. April 2011 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 13. Juni 2012 ab.

C.
K.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 13. Juni 2012 sei die
Krankenversicherung zu verpflichten, ihr die Kosten für die Narkosebehandlung
vom 8. Mai 2009 in Höhe von Fr. 1'684.40 zu ersetzen, zuzüglich Verzugszins
gemäss Art. 26 Abs. 2 ATSG. Ferner lässt sie um unentgeltliche Rechtspflege
ersuchen.
Die Krankenversicherung schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das kantonale
Gericht und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde kann u.a. wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140).

2.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die durchgeführte Zahnbehandlung an
sich nicht unter die Leistungspflicht der Krankenversicherung (vgl. Art. 31
KVG) fällt. Die Vorinstanz ist der Auffassung, jede mit einer solchen, nicht
kassenpflichtigen Leistung in Zusammenhang stehende Einzelmassnahme zähle von
vornherein ebenfalls zu den Nichtpflichtleistungen. Ob die Narkose erforderlich
gewesen sei, könne offengelassen werden; die Frage der Wirtschaftlichkeit (vgl.
Art. 32 Abs. 1 KVG) stelle sich gar nicht erst.
Die Beschwerdeführerin hält die Vollnarkose ausnahmsweise für eine
Pflichtleistung der Krankenversicherung, weil sie aufgrund einer ausgeprägten
Oralophobie - mithin einer psychischen Krankheit gemäss ICD-10 F40.2 - für die
Zahnbehandlung unabdingbar gewesen sei.

3.

3.1. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung deckt grundsätzlich keine
zahnärztlichen Behandlungen; ausnahmsweise besteht eine Leistungspflicht für
die in Art. 31 KVG vorgesehenen und in Art. 17 bis 19a der Verordnung vom 29.
September 1995 über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
(KLV; SR 832.112.31) konkretisierten Fälle. Bedarf die zahnärztliche Behandlung
medizinischer Vorbereitungsmassnahmen, stellen auch diese Vorkehren, unabhängig
von der ausführenden Person, keine Pflichtleistung der Krankenkassen dar. Dabei
ist nicht massgeblich, dass eine Behandlung - für sich allein betrachtet - eine
rein medizinische Massnahme darstellt. Ebenso wenig kommt es darauf an, dass
der Eingriff nicht in einer Zahnarztpraxis und nur von einem Arzt mit
Spezialausbildung durchgeführt werden kann (Urteil K 129/94 vom 30. Mai 1995 E.
2 mit Hinweis auf RKUV 1991 Nr. K 877 S. 252, K 51/90 E. 3). An dieser, unter
Geltung des mit Inkrafttreten des KVG aufgehobenen Bundesgesetzes vom 13. Juni
2011 über die Krankenversicherung (KUVG) entwickelten Rechtsprechung ist,
zumindest im Grundsatz (vgl. E. 3.2), weiterhin festzuhalten (vgl. Urteil K 64/
04 vom 14. April 2005 E. 3.1; GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale
Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 609 Rz. 634).

3.2. Fraglich kann sein, ob dennoch eine Leistungspflicht der
Krankenversicherung besteht, wenn zum Zweck der nicht versicherten
zahnmedizinischen Behandlung die ärztliche Behandlung einer Krankheit notwendig
ist ( EUGSTER, a.a.O., insbesondere Fussnote 928). Das Eidg.
Versicherungsgericht verneinte die Leistungspflicht für Anästhesie- und
Klinikkosten, obwohl bei früheren zahnärztlichen Eingriffen schwere kardiale
Komplikationen auftraten (Urteil K 129/94 vom 30. Mai 1995) oder sich der
Patient in allgemein schlechtem Gesundheitszustand befand (Urteil K 64/04 vom
14. April 2005).
Im konkreten Fall ist die Anästhesie angesichts der ihr zugrunde liegenden
therapeutischen Zielsetzung als zahnärztliche Behandlung zu betrachten (BGE 128
V 143 E. 4b S. 143 f.; EUGSTER, a.a.O., S. 548 Rz. 448); weiter spricht der
Umstand, dass sie nicht der Behandlung des psychischen Leidens dient, eher
gegen eine Leistungspflicht. In diesem Zusammenhang zielt die Argumentation,
eine psychotherapeutische Behandlung komme teurer zu stehen als die Narkose,
ins Leere: Einerseits fällt eine Austauschbefugnis von vornherein ausser
Betracht, wenn die psychische Beeinträchtigung für sich allein nicht
behandlungsbedürftig ist; anderseits können Pflichtleistungen nicht durch
Nichtpflichtleistungen ersetzt werden (BGE 131 V 107 E. 3.2.2 S. 111 f.; Urteil
9C_1009/2010 vom 29. Juli 2011 E. 2.4).
Die Frage, ob die umstrittene Massnahme zum Leistungskatalog der sozialen
Krankenversicherung gehört, kann indessen letztlich offenbleiben. Selbst wenn
sie zu bejahen wäre, bestünde im hier zu beurteilenden Fall keine
Leistungspflicht der Krankenversicherung (E. 3.3).

3.3.

3.3.1. Die soziale Krankenversicherung hat nur für wirtschaftliche Leistungen
aufzukommen (Art. 32 Abs. 1 KVG). Die Wirtschaftlichkeit im Sinne von Art. 32
Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1 KVG bezieht sich nicht nur auf Art und Umfang der
durchzuführenden diagnostischen und therapeutischen Massnahmen, sondern auch
auf die Behandlungsform, so etwa auf die Frage, ob eine bestimmte Massnahme
ambulant oder (teil-) stationär durchzuführen ist (BGE 126 V 334 E. 2b S. 339).
Geprüft wird unter diesem Kriterium das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen
einer Massnahme, wobei die Krankenversicherer das Recht haben, die Übernahme
von unnötigen therapeutischen Vorkehren oder von solchen Massnahmen, die durch
weniger kostspielige ersetzt werden können, abzulehnen (BGE 130 V 532 E. 2.2 S.
536; RKUV 2004 Nr. KV 272 S. 111, K 156/01 E. 3.1.2).

3.3.2. Die Leistungs- und Grundsatzkommission (vgl. Art. 37d KVV [SR 832.102])
prüfte die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der
Allgemeinnarkose zur Ermöglichung von diagnostischen und therapeutischen
Eingriffen (inkl. zahnmedizinischen Eingriffen) und bejahte sie - mit
Gültigkeit ab 1. Juli 2010 -, sofern die Eingriffe wegen einer schweren
geistigen oder körperlichen Behinderung ohne Narkose nicht möglich sind (Art. 1
KLV in Verbindung mit Ziff. 2.3 Anhang 1 KLV).
Unbesehen, ob sich diese Regelung auf alle zahnmedizinischen Behandlungen oder
lediglich auf solche gemäss Art. 31 KVG bezieht, kann die Beschwerdeführerin
daraus nichts für sich ableiten. Nicht jede gesundheitliche Beeinträchtigung
mit Krankheitswert stellt eine schwere Behinderung dar. Aus den Akten ergibt
sich (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG), dass die Beschwerdeführerin an einer
ausgeprägten Oralophobie, d.h. Angst vor Zahnärzten und deren Behandlung,
verbunden mit übermässig starkem Würgereflex, leidet. Laut Bericht des Dr. med.
dent. R.________ vom 28. Januar 2011 sind kleinere Manipulationen im Mund
kurzzeitig möglich, findet die tägliche Mundhygiene statt und ist der
Reinigungszustand des Gebisses klinisch betrachtet sehr gut; gemäss Patientin
könnte eine Karies am Zahn 23 eventuell ohne Narkose saniert werden. Nach
verbindlicher (vgl. Art. 97 Abs. 1 und 105 Abs. 1 BGG) vorinstanzlicher
Feststellung fand keine (vorgängige) ärztliche Behandlung der Oralophobie
statt. Anhaltspunkte für weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen mit
Krankheitswert sind nicht ersichtlich und werden auch nicht geltend gemacht.
Unter diesen Umständen kann nicht von einer schweren Behinderung im Sinne von
Ziff. 2.3 Anhang 1 KLV gesprochen werden.

3.3.3. Ängstlichkeit stellt in der Regel keine medizinische Indikation für eine
Narkose dar; eine solche ist mit Blick auf das Wirtschaftlichkeitserfordernis
erst zu rechtfertigen, wenn nachweisbar alle Möglichkeiten der Sedation
ausgeschöpft sind und der Eingriff trotzdem nicht durchführbar ist. Wünscht
eine Patientin von vornherein eine Narkose, hat sie für die daraus
resultierenden Mehrkosten selber aufzukommen (Urteile K 164/03 vom 18. März
2005 E. 4.6; K 42/02 vom 21. Januar 2003 E. 4).
Auch wenn im konkreten Fall die Narkose medizinisch indiziert war, geht damit
noch nicht deren Wirtschaftlichkeit einher. In den medizinischen Unterlagen
wird nicht nachvollziehbar und einleuchtend dargelegt (vgl. BGE 125 V 351 E. 3a
S. 352), weshalb den psychischen Beeinträchtigungen ausschliesslich mit der
Narkose und nicht mit anderen Mitteln hätte Rechnung getragen werden können.
Denkbar wäre etwa eine Medikation mit einem Anxiolyticum oder Sedativum; ein
entsprechender Versuch ist nicht aktenkundig und wurde resp. wird auch nicht
geltend gemacht. Somit ist die Wirtschaftlichkeit der Narkose nicht erwiesen,
was die Leistungspflicht der sozialen Krankenversicherung auch aus diesem Grund
ausschliesst. Die Beschwerde ist unbegründet.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege kann entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202).
Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später
dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Dr. Pierre Heusser wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Juli 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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