Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 698/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_698/2012 {T 0/2}

Urteil vom 3. Mai 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
L.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Gabriela Gwerder,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 26. Juni 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1961 geborene L.________ bezieht seit November 2003 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung (Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 4. März
2005). Die Leistungszusprechung beruhte im Wesentlichen auf einem
psychiatrischen Gutachten des Dr. R.________ vom 28. Juni 2004. Im Rahmen eines
Rentenrevisionsverfahrens holte die IV-Stelle ein psychiatrisches Gutachten des
Dr. P.________ vom 24. Februar 2010 ein. Mit Verfügung vom 15. November 2010
hob sie die Invalidenrente auf Ende Dezember 2010 hin auf.

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene
Beschwerde ab (Entscheid vom 26. Juni 2012).

C.
L.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, es sei ihm, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids,
weiterhin eine ganze Invalidenrente auszurichten. Eventuell bestehe ein
Anspruch auf eine Viertelsrente. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche
Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung).
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
1.1 Strittig ist, ob der Beschwerdeführer über Dezember 2010 hinaus eine ganze
Invalidenrente beanspruchen kann. Dies trifft nicht zu, falls sich sein
Gesundheitszustand seit der letzten rechtskräftigen Verfügung (hier vom 4. März
2005), die auf einer rechtskonformen Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und
Durchführung eines Einkommensvergleichs beruht (BGE 133 V 108),
leistungswirksam verbessert hat (Art. 17 Abs. 1 ATSG; vgl. auch Art. 87 ff.
IVV). Eine abweichende medizinische oder rechtliche Einschätzung von im
Wesentlichen unveränderten tatsächlichen Verhältnissen begründet keine
materielle Revision (BGE 115 V 308 E. 4a/bb S. 313; SVR 2012 IV Nr. 18 S. 81,
9C_418/2010 E. 4.1; SVR 2004 IV Nr. 5 S. 13, I 574/02 E. 2). Für die
Beurteilung massgebend sind die Verhältnisse bis zum Abschluss des
Verwaltungsverfahrens (Verfügung vom 15. November 2010).

1.2 Das kantonale Gericht schloss, die psychiatrische Expertise, auf welche
sich die Verwaltung bei der Aufhebung der Rente gestützt hat, sei
beweistauglich und weise eine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes
des Beschwerdeführers aus. Für (mit Blick auf Einschränkungen im Bereich des
Rückens und der Knie) angepasste Tätigkeiten bestehe vollständige
Arbeitsfähigkeit. Der Invaliditätsgrad belaufe sich nurmehr auf 30 Prozent. Die
IV-Stelle habe die Invalidenrente damit zulässigerweise eingestellt (vgl. Art.
28 Abs. 2 IVG).
Für den Beschwerdeführer liegt kein Revisionsgrund vor. Der Gutachter Dr.
P.________ ziehe aus einem unverändert bestehenden Gesundheitsschaden bloss
andere Schlussfolgerungen. Er dokumentiere Beobachtungen, welche sich mit
denjenigen im früheren Gutachten von Dr. R.________ deckten.

1.3 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Verletzung u.a. von Bundesrecht
beruht (Art. 95 lit. a, Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1
2.1.1 Grundlage der Verfügungen vom 4. März 2005, in welchen die IV-Stelle auf
eine ganze Invalidenrente erkannte, war das psychiatrische Gutachten des Dr.
R.________ vom 28. Juni 2004. Der Sachverständige diagnostizierte eine
somatoforme Schmerzstörung, eine generalisierte Angststörung, Panikattacken,
hypochondrische Ängste und eine depressive Entwicklung. Zudem bestehe der
Verdacht auf eine ängstliche und anankastische (zwanghafte)
Persönlichkeitsstörung. Vorbestehende Ängste und Persönlichkeitsstörungen
hätten zusammen mit Knie- und Rückenschmerzen nach einem 1999 erlittenen Unfall
zu einer Schmerzverarbeitungsstörung und Symptomausweitung geführt. Es sei ein
somatoformes Schmerzsyndrom entstanden, das zusammen mit der ängstlichen
Haltung und depressiven Entwicklung ein pathologisches Ausmass annehme, eine
Fixierung und Chronifizierung und damit eine psychisch mitbedingte generelle
Arbeitsunfähigkeit von deutlich über 70 Prozent bewirke. Der Patient sei nach
einer Hospitalisierung im Jahr 2002 bis jetzt psychiatrisch behandelt worden.
Das somatoforme Schmerzsyndrom habe sich jedoch als nicht therapeutisch
angehbar erwiesen. Der Patient verfüge nicht über die hierfür notwendigen
psychischen, vor allem kognitiven, Ressourcen. Berufliche Massnahmen seien
wegen "des allzu pathologischen Ausmasses der chronifizierten Symptomatik"
nicht angezeigt.
2.1.2 Der rentenaufhebenden Verfügung vom 15. November 2010 liegt das
psychiatrische Gutachten des Dr. P.________ vom 24. Februar 2010 zugrunde.
Dieser fand bei der Untersuchung keine psychopathologischen Befunde im Sinne
von Zeichen einer depressiven Störung, einer Angsterkrankung, einer
hypochondrischen Störung oder einer anankastischen Persönlichkeitsstörung. Der
Versicherte habe seit der Rentenzusprechung 2003 keine psychiatrische oder
psychotherapeutische Behandlung beansprucht. Die somatischen Beschwerden seien
als somatische Störung respektive als chronische Schmerzstörung mit
dysfunktionalem Bewältigungsverhalten zu verstehen. Für (dem Knie- und
Rückenleiden) angepasste Tätigkeiten bestehe aus psychiatrischer Sicht keine
Arbeitsunfähigkeit. Die im Gutachten vom 28. Juni 2004 gestellten Diagnosen
hätten sich in der aktuellen Untersuchung nicht bestätigt. Wohl sei dankbar,
dass damals eine depressive Affektlage bestanden habe; die weiteren Diagnosen
(Angststörung, Panikattacken, hypochondrische Ängste, anankastische
Persönlichkeitsstörung) erschienen indes auch retrospektiv als schwer
nachvollziehbar. Wahrscheinlich habe die aktuell beschriebene Situation auch
während der letzten Jahre bestanden. In psychischer Hinsicht sei somit von
einer gleichbleibenden Situation auszugehen; auch während der letzten Jahre
habe keine über die somatoforme Störung hinausgehende psychische Störung von
Krankheitswert bestanden.
2.1.3 Der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) der Invalidenversicherung konnte im
Vergleich der beiden Gutachten denn auch keine wesentliche Veränderung der
gesundheitlichen Situation erkennen. Bei der ursprünglich aus einer
Somatisierungsstörung abgeleiteten Arbeitsunfähigkeit von 70 Prozent habe es
sich um einen Fehlentscheid gehandelt (Stellungnahme vom 18. Mai 2010). Sollte
die 2004 attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht nur auf der
Somatisierungsstörung, sondern (auch) auf den Ängsten und der Depressivität
beruht haben, sei indes von einer eindeutigen Verbesserung des
Gesundheitszustandes auszugehen (Stellungnahme vom 30. August 2010).

2.2 Die vergleichende Würdigung der Gutachten durch den RAD legt nahe, dass die
Unterschiede in den fachärztlichen Beurteilungen im Wesentlichen nicht auf eine
tatsächliche Veränderung des Gesundheitszustandes zurückzuführen, sondern einer
- im Zusammenhang mit der Rentenrevision nach Art. 17 ATSG nicht erheblichen
(vgl. oben E. 1.1) - Veränderung von versicherungsmedizinischen
Beurteilungsmassstäben geschuldet sind. Eine inzwischen veränderte Rechtspraxis
(bezüglich einer Invalidität bei psychosomatischen Leiden: BGE 131 V 49; 130 V
352; vgl. auch BGE 136 V 279 und 132 V 65) darf erst im Rahmen einer
erheblichen Tatsachenänderung berücksichtigt werden (SVR 2012 IV Nr. 18 S. 81,
9C_418/2010 E. 4.1). Vorbehalten ist die unabhängig von Art. 17 Abs. 1 ATSG
gegebene Revidierbarkeit von Invalidenrenten im Geltungsbereich der - hier noch
nicht anwendbaren - Schlussbestimmung a Abs. 1 der auf den 1. Januar 2012 in
Kraft getretenen Änderung des IVG vom 18. März 2011 (vgl. die Botschaft zur
Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [6. IV-Revision,
erstes Massnahmenpaket] vom 24. Februar 2010, BBl 2010 S. 1911 f.). Im Hinblick
auf die notwendige Unterscheidung einer bloss abweichenden Beurteilung von der
tatsächlich eingetretenen Veränderung ist im Übrigen zu berücksichtigen, dass
bei psychiatrischen Beurteilungen praktisch immer ein Spielraum besteht,
innerhalb dessen verschiedene medizinische Interpretationen möglich, zulässig
und zu respektieren sind, sofern der Experte lege artis vorgegangen ist (vgl.
dazu die Leitlinien der Schweizerischen Gesellschaft für
Versicherungspsychiatrie für die Begutachtung psychischer Störungen, in: SAeZ
2004 S. 1050 f.).

2.3 Aus dem Gutachten von 2004 wird nicht vollends klar, inwieweit Dr.
R.________ die attestierte Arbeitsunfähigkeit allein aus dem Befund einer
somatoformen Schmerzstörung herleitete oder aber wie weit er sich dabei auch
auf die weiteren Diagnosen (generalisierte Angststörung, depressive
Entwicklung) stützte (vgl. die Stellungnahme des RAD vom 30. August 2010);
hinsichtlich der depressiven Entwicklung weist das Gutachten des Dr. P.________
nach Einschätzung des RAD eine Zustandsverbesserung aus. Angesichts der
Feststellung dieses Sachverständigen, der psychische Zustand sei seit der
Begutachtung im Jahr 2004 insgesamt gleich geblieben, kann die Frage indes
offen bleiben. Der Gutachter geht selber davon aus, dass er im Wesentlichen
unveränderte tatsächliche Verhältnisse abweichend bewertet. Dies erklärt sich
jedenfalls bezüglich der Schmerzstörung gutenteils mit den 2004 installierten
neuen Beurteilungsparametern (vgl. E. 2.2). Ist daher eine anspruchserhebliche
Änderung des Sachverhalts nicht überwiegend wahrscheinlich, bleibt es nach dem
Grundsatz der materiellen Beweislast beim bisherigen Rechtszustand (vgl. aber
SVR 2010 IV Nr. 30 S. 94, 9C_961/2008 E. 6.3). Die vorinstanzliche
Schlussfolgerung, eine revisionsbegründende Verbesserung des
Gesundheitszustandes sei ausgewiesen, beruht insofern auf einer Verletzung von
Bundesrecht (vgl. oben E. 1.3).

3.
3.1 Unabhängig von einem materiellen Revisionsgrund kann der
Versicherungsträger nach Art. 53 Abs. 2 ATSG wiedererwägungsweise auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese
zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist.
Wird die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung erst vom
Gericht festgestellt, kann es ein (zu Unrecht) auf Art. 17 ATSG gestütztes
Rückkommen mit dieser substituierten Begründung schützen (BGE 125 V 368 E. 2 S.
369; SVR 2011 IV Nr. 20 S. 53, 9C_303/2010 E. 4). Vorausgesetzt ist, dass kein
vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also nur
dieser einzige Schluss denkbar ist (SVR 2010 IV Nr. 5 S. 10, 8C_1012/2008 E.
4.1; Urteile 9C_587/2010 vom 29. Oktober 2010 E. 3.3.1 und 9C_575/2007 vom 18.
Oktober 2007 E. 2.2). Dieses Erfordernis ist in der Regel erfüllt, wenn eine
Leistungszusprechung aufgrund falscher Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn
massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt wurden. Erscheint
indessen die Beurteilung einzelner ermessensgeprägter Schritte der
Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage einschliesslich
der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung (BGE 125
V 383 E. 3 S. 389) als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser
Unrichtigkeit aus (vgl. Urteil I 222/02 vom 19. Dezember 2002 E. 3.2).

3.2 Im seinerzeitigen Aktenkontext war das Gutachten des Dr. R.________ auch
unter Berücksichtigung der damals neuen Rechtsprechung (vgl. oben E. 2.2) nicht
zu beanstanden; der Sachverständige legte dar, inwiefern das Schmerzleiden eine
Arbeitsfähigkeit begründen sollte (vgl. zu den einzelnen Kriterien BGE 131 V 49
S. 50). So wirke sich die Schmerzstörung im Verbund mit den psychischen und
körperlichen Komorbiditäten aus; dadurch sei es zu einer Fixierung und
Chronifizierung des Zustandsbildes gekommen; der Versicherte spreche zudem
nicht mehr auf Therapien an, weil es ihm an den hierfür notwendigen
psychischen, vor allem kognitiven, "Bewältigungsfähigkeiten" mangle. Es kann
daher nicht gesagt werden, die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente
(Verfügungen vom 4. März 2005) sei zweifellos unrichtig gewesen, weil sie
entweder auf einem offenkundig nicht beweistauglichen Gutachten beruhe oder
weil sie dessen Schlussfolgerungen offensichtlich unzutreffend umgesetzt habe.

4.
Sind nach dem Gesagten weder die Voraussetzungen einer materiellen Revision
(Art. 17 Abs. 1 ATSG) noch diejenigen einer Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2
ATSG) erfüllt, so bleibt es insoweit beim bisherigen Leistungsanspruch des
Beschwerdeführers.

5.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem obsiegenden,
anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer steht eine Parteientschädigung zu (Art.
68 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist damit
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 26. Juni 2012 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Zürich vom 15. November 2010 werden aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der AXA Stiftung Berufliche
Vorsorge Winterthur, Winterthur, schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. Mai 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Traub

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