Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 693/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_693/2012

Urteil vom 8. Juli 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
handelnd durch J.________,
und dieser vertreten durch lic. iur. Christian Boras,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA, Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203
Genf,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. August
2012.

Sachverhalt:

A.
C.________ meldete sich 2010 von seinem Heimatland aus bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach seinem Tod am xxx setze seine
Ehefrau S.________ als Alleinerbin das Verfahren vor der IV-Stelle für
Versicherte im Ausland fort. Diese verneinte nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 28. September 2011 einen Rentenanspruch
des Verstorbenen.

B.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde von S.________ hob das
Bundesverwaltungsgericht mit Entscheid vom 15. August 2012 die Verfügung vom
28. September 2011 auf und sprach der Witwe des verstorbenen Versicherten eine
ganze Rente für die Monate Januar bis April 2011 zu (Dispositiv-Ziffer 1).

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt S.________,
es sei ihr "für die Periode vom 1.1.2007 bis zum xxx die in der Person des
verstorbenen Ehemannes (...) entstandenen Rentenansprüche gemäss IVG
auszuzahlen und dies im Umfang einer ganzen Rente"; eventualiter sei ein
medizinisches Gutachten zu erstellen, damit der Beginn und die Höhe (recte: der
Umfang) des Rentenanspruchs bestimmt werden könnten.

Erwägungen:

1.
Die Regelung der Entstehung des Rentenanspruchs und des Rentenbeginns haben im
Rahmen der 5. IV-Revision gemäss Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 (AS 2007 5129
ff.) eine Änderung erfahren:

1.1. Bis 31. Dezember 2007 galt Folgendes: Der Rentenanspruch nach Artikel 28
entsteht frühestens in dem Zeitpunkt, in dem der Versicherte u.a. während eines
Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 Prozent
arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen war. Die Rente wird vom Beginn des Monats
an ausgerichtet, in dem der Anspruch entsteht, jedoch frühestens von jenem
Monat an, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt (aArt. 29 Abs. 1
lit. b und Abs. 2 Satz 1 IVG). Meldet sich ein Versicherter mehr als zwölf
Monate nach Entstehen des Anspruchs an, so werden die Leistungen in Abweichung
von Artikel 24 Absatz 1 ATSG lediglich für die zwölf der Anmeldung
vorangehenden Monate ausgerichtet (aArt. 48 Abs. 2 Satz 1 IVG).

1.2. Seit 1. Januar 2008 gilt demgegenüber: Anspruch auf eine Rente haben
Versicherte, die u.a. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch
durchschnittlich mindestens zu 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen
sind (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG). Der Rentenanspruch entsteht frühestens nach
Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach
Artikel 29 Absatz 1 ATSG, jedoch frühestens im Monat, der auf die Vollendung
des 18. Altersjahres folgt. Die Rente wird vom Beginn des Monats an ausbezahlt,
in dem der Rentenanspruch entsteht (Art. 29 Abs. 1 und 3 IVG).

2.
Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich, im Übrigen
unwidersprochen festgestellt (Art. 105 Abs. 2 BGG), der verstorbene Versicherte
habe sich im Juli 2010 bei der Invalidenversicherung angemeldet. Aufgrund der
Akten habe der Gesundheitsschaden im Zeitpunkt der Anmeldung bereits seit über
einem Jahr bestanden. Vor seinem Tod am xxx sei er zu 70 % arbeitsunfähig
gewesen. Daraus, dass die Anmeldung nach dem 31. Dezember 2008 erfolgt war, hat
die Vorinstanz gefolgert, ungeachtet des Zeitpunkts des Eintritts der
Invalidität sei Art. 29 Abs. 1 IVG, in der seit 1. Januar 2008 geltenden
Fassung, anwendbar. Der Anspruch auf eine ganze Rente habe somit frühestens im
Januar 2011 entstehen können.
Die Beschwerdeführerin bestreitet die Anwendbarkeit von Art. 29 Abs. 1 IVG.
Aufgrund der medizinischen Unterlagen sei der Rentenanspruch gemäss aArt. 29
Abs. 1 lit. b IVG vor dem 1. Januar 2008 entstanden. Es könne daher bei der
Beantwortung der Frage nach dem anwendbaren Recht nicht auf den Zeitpunkt der
Anmeldung ankommen bzw. das alte Recht sei massgebend.

3.
Die Vorinstanz hat zur Begründung der Anwendbarkeit von Art. 29 Abs. 1 IVG im
Wesentlichen auf die Urteile 8C_312/2009 vom 1. Dezember 2009 E. 5 und 8C_419/
2009 vom 3. November 2009 E. 3.2 sowie auf das vom BSV herausgegebene
Rundschreiben Nr. 253 vom 12. Dezember 2007 hingewiesen. Daraus ergibt sich
indessen, gerade umgekehrt, die Massgeblichkeit der altrechtlichen Regelung der
Entstehung des Rentenanspruchs und des Rentenbeginns, wenn ein vor dem 1.
Januar 2008 eingetretener Versicherungsfall (= Entstehung des Rentenanspruchs
unmittelbar nach Ablauf der Wartezeit nach aArt. 29 Abs. 1 lit. b IVG bzw. Art.
28 Abs. 1 lit. b IVG; BGE 138 V 475 E. 3 S. 478) zur Diskussion steht. Ein
solcher Sachverhalt ist hier streitig. Die Beschwerdeführerin beantragte schon
im vorinstanzlichen Verfahren eine ganze Rente für die Zeit ab 1. Januar 2007
(bis zum Tod ihres versicherten Ehemannes am 23. April 2011; Art. 30 IVG).

4.
Zur Frage des Beginns der Wartezeit (aArt. 29 Abs. 1 lit. b IVG) vor dem 1.
Januar 2007 hat die Vorinstanz keine Feststellungen getroffen. Sie hat einzig
festgehalten, die Beschwerdeführerin halte dafür, der Gesundheitsschaden sei
bereits 2006 eingetreten, während nach Auffassung der Beschwerdegegnerin vor
Herbst 2008 noch keine relevante Arbeitsunfähigkeit bestanden habe. Nach Art.
105 Abs. 2 BGG kann zwar das Bundesgericht die Sachverhaltsfeststellung der
Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht.
Unter letzteren Tatbestand fällt namentlich die unvollständige Feststellung der
rechtserheblichen Tatsachen (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 2C_80/2012 vom 16.
Januar 2013 E. 3.1; SVR 2010 IV Nr. 32 S. 102, 9C_210/2009 E. 3.4). Eine
Ergänzung des vorinstanzlich festgestellten Sachverhalts setzt indessen voraus,
dass sich die unberücksichtigt gebliebenen Tatsachen klar aus den Akten
ergeben und unbestritten sind (SJ 2011 I S. 58, 4A_269/2010 E. 1.3 mit Hinweis
auf die Lehre; vgl. auch Ulrich Meyer/Johanna Dormann, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 65 zu Art. 105 BGG), was vorliegend
nicht zutrifft.

5.
Im dargelegten Sinne ist die Beschwerde begründet, der angefochtene Entscheid -
ohne Schriftenwechsel (vgl. BGE 133 IV 293 E. 3.4.2 in fine S. 296) -
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine
nach Massgabe des Vertretungsaufwandes bemessene Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Bundesverwaltungsgerichts vom 15. August 2012 wird aufgehoben. Die Sache wird
zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung II,
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. Juli 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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