Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 682/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_682/2012

Urteil vom 1. Mai 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Borella,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

CSS Kranken-Versicherung AG,
Recht & Compliance,
Tribschenstrasse 21, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin,

S.________, vertreten durch seine Eltern.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
29. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
Beim am 10. April 1998 geborenen S.________ wurde Ende des Jahres 2009 eine
Autismus-Spektrum-Störung (Asperger-Syndrom) diagnostiziert. Die IV-Stelle des
Kantons Aargau lehnte das Gesuch um medizinische Massnahmen ab. Die
Anspruchsvoraussetzung, wonach spezifische Symptome bis zum vollendeten 5.
Lebensjahr erkennbar gewesen sein mussten, sei nicht erfüllt (Verfügung vom 15.
November 2011).

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die Beschwerde des
obligatorischen Krankenversicherers (CSS Kranken-Versicherung AG) teilweise gut
und wies die Sache zu weiteren Abklärungen sowie zur neuen Verfügung im Sinne
der Erwägungen an die IV-Stelle zurück. Es hielt fest, die Asperger-Symptomatik
habe sich bei S.________ vor Vollendung des 5. Lebensjahrs bemerkbar gemacht;
daher bestehe gegenüber der Invalidenversicherung grundsätzlich Anspruch auf
medizinische Massnahmen (Entscheid vom 29. Mai 2012).

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Der Beschwerde
sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Der Krankenversicherer beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf
eingetreten werde. Der Versicherte, das kantonale Gericht und das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Rückweisungsentscheid ist letztinstanzlich anfechtbar: Die
Verwaltung wäre ansonsten an dessen materielle Vorgaben gebunden und gezwungen,
eine ihres Erachtens bundesrechtswidrige Verfügung zu erlassen; dies bedeutete
für sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG;
BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483).

2.
2.1 Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr haben unter den in der GgV
näher umschriebenen Voraussetzungen Anspruch auf die zur Behandlung von
Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG) notwendigen medizinischen Massnahmen
(Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG). Strittig ist, ob das unter die
Autismus-Spektrum-Störungen fallende Asperger-Syndrom im Sinne von Ziff. 405
des Anhangs zur GgV bis zum vollendeten 5. Lebensjahr (hier: bis zum 10. April
2003) erkennbar wurde. Der Zeitpunkt, in dem das Geburtsgebrechen als solches
tatsächlich erkannt wurde, ist derweil unerheblich (Art. 1 Abs. 1 GgV).

2.2 Das kantonale Gericht schloss, der Versicherte habe grundsätzlich Anspruch
auf medizinische Massnahmen nach Art. 13 IVG, weil sich die
Asperger-Symptomatik vor Vollendung des 5. Lebensjahrs bemerkbar gemacht habe.
Es stützte sich dabei auf einen Arztbericht der Psychiatrischen Dienste
X.________ vom 4. Dezember 2002 sowie auf spätere Berichte; Letztere liessen
Rückschlüsse auf die Erkennbarkeit der Asperger-Störung zu. Irrelevant sei,
dass die Fachleute bis April 2003 die betreffende Diagnose nicht gestellt
respektive ein psychoorganisches Syndrom (POS; alternativ:
Aufmerksamkeitsstörung) vermutet hätten.

3.
3.1 Als Geburtsgebrechen gelten Krankheiten, die bei vollendeter Geburt
bestehen (Art. 3 Abs. 2 ATSG). Die blosse Veranlagung zu einem Leiden gilt
nicht als Geburtsgebrechen (Art. 1 Abs. 1 GgV). Autistische Störungen sind
unter diesem Gesichtspunkt gegenüber erworbenen gleichartigen Syndromen
abzugrenzen: Die Medizin geht zwar von einer genetischen Ätiologie aus; sie
lässt aber offen, inwieweit lediglich eine Disposition vererbt und das Leiden
allenfalls erst manifest wird, wenn weitere Faktoren hinzugetreten sind
(Urteile 9C_244/2012 vom 25. April 2012 E. 2 und I 302/05 vom 31. Oktober 2005
E. 1.2 mit Hinweis). Indes setzt das wichtigste Kennzeichen des
Asperger-Syndroms, die Störung der Beziehungsfähigkeit (Urteil I 302/05 E.
2.2.2 mit Hinweis), in der Regel nicht so früh ein wie beim frühkindlichen
Autismus; sie erreicht zudem nicht denselben Schweregrad. Die Sozialentwicklung
dieser Kinder wird daher mehrheitlich erst im Schulalter problematisch (Urteil
8C_269/2010 vom 12. August 2010 E. 5.1.3). Andere Entwicklungsstörungen, etwa
die beim Versicherten ebenfalls diagnostizierte Aufmerksamkeitsstörung, können
im Übrigen zu vergleichbaren Erscheinungen führen, was die Diagnostizierbarkeit
des Asperger-Syndroms weiter erschwert (vgl. erwähntes Urteil I 302/05 E. 2.2.1
am Anfang).
3.2
3.2.1 Die Tragweite der Anspruchsvoraussetzung von Ziff. 405 Anhang GgV richtet
sich nach dieser medizinischen Ausgangslage. Das Merkmal der bis zur Vollendung
des 5. Lebensjahrs gegebenen Erkennbarkeit soll es ermöglichen, die prä- oder
perinatale Autismus-Spektrum-Störung von nachgeburtlich entstandenen
gleichartigen Leiden abzugrenzen (vgl. Art. 3 Abs. 2 ATSG). Daher ist die
Altersgrenze, bis zu welcher sich das Gebrechen manifestiert haben muss,
relativ tief angesetzt. Ziff. 405 Anhang GgV setzt aber keine diagnostische
Festlegung bis zum festgesetzten Alter voraus. Damit weicht die
Anspruchsvoraussetzung bei der Autismus-Spektrum-Störung etwa von derjenigen
bei psychoorganischen Syndromen ab. Diese müssen mit bereits gestellter
Diagnose als solche vor Vollendung des 9. Altersjahrs behandelt worden sein
(Ziff. 404 Anhang GgV; BGE 122 V 113 E. 3a/cc S. 120).
3.2.2 Die Voraussetzung einer erkennbaren Störung im Sinne von Ziff. 405 Anhang
GgV wird in einer Weisung zuhanden der Verwaltung konkretisiert (vgl. zur
Bedeutung von Verwaltungsweisungen BGE 133 V 587 E. 6.1 S. 591). Danach sind
hinreichend bestimmte Anhaltspunkte für eine autistische Störung gegeben, wenn
zum vollendeten 5. Lebensjahr "krankheitsspezifische, therapiebedürftige
Symptome" bestanden (Ziff. 405 des Kreisschreibens über die medizinischen
Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung [KSME]). Nach dem Gesagten
darf das Erfordernis "krankheitsspezifischer" Symptome nicht derweise
verstanden werden, die Symptomatik habe vor dem fünften Geburtstag so klar
ausgebildet gewesen sein müssen, dass bereits damals ohne Weiteres die
zutreffende spezifische Diagnose hätte gestellt werden können. Nach der
(gesetzmässigen; vgl. Urteil 9C_244/2012 E. 3.2.2) Konzeption der GgV besteht
bei nachträglicher Diagnose schon dann hinreichende Gewissheit darüber, dass
die Störung auf die Geburt zurückreicht, wenn bis zum 5. Geburtstag
autismustypische Symptome verzeichnet wurden, welche eine (auch noch nicht
endgültig spezifizierbare) Störung im fachmedizinischen Sinn auswiesen. Anhand
der vor vollendetem 5. Lebensjahr festgehaltenen Befunde muss davon ausgegangen
werden können, dass die nachträglich diagnostizierte Störung mit der damaligen
identisch ist. Mit vollendetem 5. Lebensjahr vorhandene Auffälligkeiten, die
weder für ein Asperger-Syndrom noch für eine aus damaliger Sicht alternativ in
Betracht gezogene Störung kennzeichnend sind, zeugen auch rückblickend, unter
Einbezug der späteren Entwicklung, nicht von einem seit Geburt bestehenden
Asperger-Syndrom.

Mithin ist das Vorhandensein einer bereits vollständig ausgebildeten, also
autismusspezifischen Symptomatik nicht notwendig. Die Erkennbarkeit eines
Asperger-Syndroms ist nicht schon deswegen zu verneinen, weil im Raum stehende
alternative Diagnosen (hier: eines psychoorganischen Syndroms) erst später
ausgeschlossen werden können. In dem von der Beschwerdeführerin angerufenen
Urteil I 302/05 wurde zwar - insoweit missverständlich - mit dem Fehlen einer
"eindeutigen Symptomatik, welche spezifisch auf ein Geburtsgebrechen im Sinne
der Ziff. 401 (heute: 405) GgV Anhang hingewiesen hätte" (a.a.O. E. 2.2.2 am
Ende), argumentiert; diese Wendung ist allerdings vor dem Hintergrund dessen zu
sehen, dass in jenem Fall selbst nachträglich kaum Beobachtungen namhaft
gemacht wurden, die den Kernsymptomen einer Autismus-Spektrum-Störung
(betreffend die Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, stereotype
Verhaltensmuster) entsprechen.
3.2.3 In beweisrechtlicher Hinsicht folgt aus der Möglichkeit einer
retrospektiven diagnostischen Festlegung, dass nicht nur sogenannt
"echtzeitlich" getroffene ärztliche Feststellungen massgebend sind, sondern
auch spätere, soweit sie Rückschlüsse auf eine rechtzeitige Erkennbarkeit der
Störung zulassen. Allerdings ist eine nachträgliche Schilderung von Symptomen
mit zunehmender zeitlicher Distanz kritisch zu würdigen, dürfte eine solche
doch oftmals von späteren Beobachtungen überlagert sein. Im Einzelfall muss
daher schlüssig dargetan sein, dass die betreffende Anamnese nicht bloss
aktuelle Feststellungen in die Vergangenheit projiziert.
3.3
3.3.1 Zu prüfen ist, ob beim Versicherten eine Autismus-Spektrum-Störung
erkennbar war, als er im April 2003 sein 5. Lebensjahr vollendet hat. Dabei ist
das Bundesgericht grundsätzlich an die Feststellungen gebunden, welche die
Vorinstanz nach Würdigung des medizinischen Dossiers getroffen und der
Beurteilung zugrunde gelegt hat (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Die Frage indes,
ob die tatsächlichen Feststellungen die fragliche Störung nach den in E. 3.2
hiervor umschriebenen Vorgaben erkennbar machten, ist rechtlicher Natur und
mithin bundesgerichtlich frei überprüfbar.
3.3.2 Die Universitären Psychiatrischen Dienste Y.________ (UPD Y.________)
haben das Asperger-Sydrom beim beigeladenen Versicherten erst am 3. Dezember
2009 diagnostiziert (Bericht des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes
B.________ vom 3. Februar 2011). Die Vorinstanz stützte sich zur Feststellung
der im April 2003 gegebenen Verhältnisse deshalb zu Recht vor allem auf einen
Arztbericht der Psychiatrischen Dienste X.________ vom 4. Dezember 2002. Aus
diesem werde ersichtlich, dass der Beigeladene vor dem 5. Lebensjahr gerne
alleine und lange gespielt und bereits zu dieser Zeit Probleme in der sozialen
Interaktion mit anderen Kinder gehabt habe. So habe er sich mit Eintritt in den
Kindergarten verbal und körperlich aggressiv gegenüber andern Kindern und
seinen Geschwistern verhalten. Zudem habe er sich schon als etwa Vierjähriger
vor allem seinen Spezialinteressen gewidmet. Dabei handle es sich allesamt um
Symptome einer Asperger-Störung, die vor dem 5. Lebensjahr manifest geworden
seien.
3.3.3 Im klinischen Beschwerdebild des Asperger-Syndroms stehen - neben
Störungen etwa im Bereich der Motorik - Einschränkungen der Beziehungsfähigkeit
und sozialen Interaktion im Vordergrund (vgl. erwähntes Urteil I 302/05 E.
2.2.2). Die im Jahr 2002 erhobenen Befunde weisen in Richtung solcher
autismustypischen Beeinträchtigungen. Entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin spielt nach dem Gesagten keine Rolle, dass die auffälligen
Verhaltensweisen auch anderen Störungen (so einem POS) zugeordnet werden
konnten. Die definitive diagnostische Festlegung kann wie erwähnt auch erst
jenseits der in Ziff. 405 Anhang GgV definierten Altersgrenze erfolgen;
ausschlaggebend ist, dass überhaupt eine Störung im fachmedizinischen Sinn mit
zumindest autismustypischen Symptomen dokumentiert wurde (vgl. oben E. 3.2.1
und 3.2.2). Die Psychiatrischen Dienste X.________ folgerten jedoch, die
weitere Entwicklung des Kindes werde zeigen, ob es lediglich einen sehr
temperamentvollen Charakter habe oder ob eine leichte hirnorganische Störung
sein Verhalten mit beeinflusse. Im Verlaufsbericht aus gleicher Quelle per Ende
2003 ist von einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten
und von Schwächen im Bereich der sozialen Wahrnehmung die Rede. Auch noch zu
diesem Zeitpunkt haben die Psychiatrischen Dienste X.________ offengelassen, ob
eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung wegen eines Geburtsgebrechens
(nach Ziff. 404 Anhang GgV) angezeigt sei; das sei von der weiteren Entwicklung
abhängig zu machen. Daraus erhellt, dass den Spezialisten auch nach dem 5.
Geburtstag des Versicherten nicht klar war, ob eine Störung im
fachmedizinischen Sinn vorliege. Unter diesen Umständen fehlt es an
Anknüpfungspunkten, aufgrund derer aus den Berichten des Kinder- und
Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) Z.________ vom 3. Februar 2011
("deutliche Beeinträchtigungen in Kommunikation, Interaktion und Verhalten seit
Geburt") und der UPD Y.________ vom 8. April 2011 (auf anamnestische Angaben
der Eltern gestützte Schlussfolgerung, es seien vor vollendetem 5. Lebensjahr
autismusspezifische Symptome feststellbar gewesen) auf die Erkennbarkeit eines
Asperger-Syndroms im Frühjahr 2003 rückgeschlossen werden könnte.

3.4 Insgesamt kann aus den aktenkundigen Anhaltspunkten nicht abgeleitet
werden, das Ende 2009 diagnostizierte Asperger-Syndrom sei bereits im April
2003 erkennbar gewesen. Eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung unter
dem Titel von Art. 13 IVG besteht nicht.

4.
Mit dem Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde gegenstandslos.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend werden die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 29. Mai 2012 wird aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, S.________, dem Versicherungsgericht des
Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 1. Mai 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Traub

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