Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 678/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_678/2012, 9C_679/2012 {T 0/2}

Urteil vom 30. Januar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Borella,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
9C_678/2012
K.________, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Niggli,
Beschwerdeführer,

und

9C_679/2012
O.________, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Niggli,
Beschwerdeführerin,

gegen

Ausgleichskasse Luzern, Würzenbachstrasse 8, 6006 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV (Rückerstattung),

Beschwerden gegen die Entscheide des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 28. Juni 2012.

Sachverhalt:

A.
Die Ausgleichskasse Luzern (nachfolgend: Ausgleichskasse) richtete dem am (...)
verstorbenen A.________ sel., Vater von K.________ und O.________,
Ergänzungsleistungen zur AHV aus. Das öffentliche Inventar über den Nachlass
wies einen Aktivenüberschuss von Fr. 1'681.50 aus. K.________ und O.________
akzeptierten die Einsetzung der Lebenspartnerin von A.________ als
Universalerbin, welche die Erbschaft antrat. Nachdem das Teilungsamt Kenntnis
von neuen Vermögenswerten erhalten hatte, erstellte es am (...) einen Nachtrag
zum Inventar vom (...), der neu einen Aktivenüberschuss von Fr. 257'911.50
auswies. Am 10. August 2006 forderte die Ausgleichskasse verfügungsweise von
K.________ und O.________ (unter solidarischer Haftung) zu viel bezahlte
Ergänzungsleistungen im Betrag von Fr. 20'795.- zurück. Das darauf eingeleitete
Einspracheverfahren blieb bis zum Entscheid über eine güter- resp.
erbrechtliche Klage betreffend den Nachlass von A.________ sel. sistiert. Mit
Einspracheentscheiden vom 6. Juli 2011 bestätigte die Ausgleichskasse die
Rückforderung.

B.
Die von K.________ und O.________ dagegen erhobenen Beschwerden wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheiden vom 28. Juni 2012 ab. In
der Begründung führte es u.a. aus, beide hätten die Erbschaft nicht
ausgeschlagen.

C.
K.________ und O.________ lassen mit Beschwerden in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten die Aufhebung der Entscheide vom 28. Juni 2012 und der
Verfügungen vom 10. August 2006 beantragen.

Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerden. Das kantonale
Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Da beiden Beschwerden derselbe Sachverhalt zu Grunde liegt, es um einen
identischen (Rückforderungs-)Anspruch geht und die vorinstanzlichen Entscheide
(abgesehen von den jeweiligen Beschwerdeführern) kongruent sind, rechtfertigt
es sich, die zwei Verfahren zu vereinigen und in einem einzigen Urteil zu
erledigen (BGE 128 V 124 E. 1 S. 126 mit Hinweisen; PHILIPP GELZER, in: Basler
Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl., 2011, N. 10 zu Art. 71 BGG).

2.
2.1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig bedeutet dabei
willkürlich (BGE 135 III 397 E. 1.5). Überdies muss die Behebung des Mangels
für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.2 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden
Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S.
140).

3.
Die Rückforderungsverfügungen vom 10. August 2006 und die Einspracheentscheide
vom 6. Juli 2011 haben die sozialversicherungsrechtlichen Rückerstattungsregeln
als Rechtsgrundlage.

3.1 Gemäss Art. 25 ATSG (SR 830.1), der auch auf Ergänzungsleistungen Anwendung
findet (Art. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 ELG [SR 831.30]), sind
unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Wer Leistungen in gutem
Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte
vorliegt (Abs. 1). Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem Ablauf eines
Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat,
spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der
einzelnen Leistung (Abs. 2 Satz 2). Dabei handelt es sich um Verwirkungsfristen
(BGE 138 V 74 E. 4.1 S. 77 mit Hinweisen).

3.2 Rückerstattungspflichtig sind der Bezüger oder die Bezügerin der
unrechtmässig gewährten Leistungen und seine oder ihre Erben (Art. 2 Abs. 1
lit. a ATSV [SR 830.11]).

4.
4.1 K.________ und O.________ sind als Nachkommen des A.________ sel.
gesetzliche Erben (Art. 457 Abs. 1 ZGB). Dieser setzte in seinem Testament
seine Lebenspartnerin als Alleinerbin ein. Die Beschwerdeführer bestritten in
der Folge deren Erbberechtigung nicht. Ebenso steht fest, dass sie - anders als
die getrennt lebende Ehefrau und zwei weitere Nachkommen - von einer
Herabsetzungsklage (Art. 522 ff. ZGB) absahen. Mit anderen Worten akzeptierten
die Beschwerdeführer, dass ihnen ihr Vater den Pflichtteil (vgl. Art. 470 Abs.
1 ZGB) als Ganzes entzogen hatte.

4.2 Der Erblasser ist befugt, durch Verfügung von Todes wegen einem Erben den
Pflichtteil zu entziehen, wenn der Erbe gegen den Erblasser oder gegen eine
diesem nahe verbundene Person eine schwere Straftat begangen hat oder wenn er
gegenüber dem Erblasser oder einem von dessen Angehörigen die ihm obliegenden
familienrechtlichen Pflichten schwer verletzt hat (Art. 477 ZGB). Bei fehlender
oder ungenügender Angabe oder aber bei Unrichtigkeit des Grundes bzw. wenn der
Grund die Enterbung nicht rechtfertigt, kann der Enterbte die Verfügung
prinzipiell mittels der Herabsetzungsklage anfechten (Art. 479 ZGB; BGE 86 II
340 E. 1 S. 342; 85 II 597 E. 3 S. 600; ROUSSIANOS/AUBERSON, in: Commentaire du
droit des successions, 2012, N. 4 zu Art. 479 ZGB; BALTHASAR BESSENICH, in:
Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch Bd. II, 4. Aufl. 2011, N. 5 zu Art. 479 ZGB;
ROLAND FANKHAUSER, in: Praxiskommentar Erbrecht, 2. Aufl. 2011, N. 8 zu Art.
479 ZGB; TUOR/SCHNYDER/SCHMID/RUMO-JUNGO, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch,
13. Aufl. 2009, S. 671 Rz. 65; PETER WEIMAR, Berner Kommentar, 4. Aufl. 2009,
N. 9 und 12 zu Art. 479 ZGB; PAUL-HENRI STEINAUER, Le droit des successions,
2006, S. 212 Rz. 390; JEAN NICOLAS DRUEY, Grundriss des Erbrechts, 5. Aufl.,
2002, S. 70 Rz. 68; ARNOLD ESCHER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1959, N. 3 zu
Art. 479 ZGB). Darüber hinaus bleibt ihm die Herabsetzungsklage verwehrt
(insoweit ist Art. 478 Abs. 1 zweiter Satzteil ZGB missverständlich
[FANKHAUSER, a.a.O., N. 1 zu Art. 478 ZGB]).
Der vollständig Enterbte besitzt keinen Pflichtteilsanspruch, keinen
gesetzlichen Erbanspruch und auch keine Erbenstellung. Diese Konsequenz geht
unmissverständlich aus der Formulierung von Art. 478 Abs. 1 erster Satzteil ZGB
hervor und ergibt sich auch aus der Rechtsprechung (Urteil 5C.81/2003 vom 21.
Januar 2004 E. 5.2 mit Hinweisen auf BGE 115 II 211 E. 4 S. 212; 110 II 228 E.
7c S. 233, 104 II 75 E. II 3b/bb S. 84 f.; 102 II 329 E. 2a S. 333 und 86 II
340 E. 5 S. 344 sowie auf eine Vielzahl von Autoren).

4.3 In concreto erfolgte keine Enterbung im Rechtssinne. Die Beschwerdeführer
wurden einfach übergangen. Im Endeffekt macht es jedoch keinen Unterschied, ob
ein gesetzlicher Nachkomme im (handschriftlichen) Testament explizit ohne
Grundangabe oder implizit mit der Einsetzung eines alleinigen Erben gänzlich
von der Erbschaft ausgeschlossen wird. Es gibt keinen sachlichen Grund, nur im
ersten Fall den Verlust der Erbenstellung anzunehmen. Auch der überwiegende
Teil der Lehre trifft diesfalls keine Unterscheidung (ANTOINE EIGENMANN, in:
Commentaire du droit des successions, 2012, N. 9 zu Art. 522 ZGB; FORNI/PIATTI,
in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4. Aufl. 2011, N. 2
Vorbemerkungen zu Art. 522-533 ZGB; FANKHAUSER, a.a.O., N. 1 zu Art. 478 ZGB;
WEIMAR, a.a.O., N. 15 Vorbemerkungen vor Art. 470 ZGB; DRUEY, a.a.O., S. 57 Rz.
12; PAUL PIOTET, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. IV/1, 1978, S. 415,
differenziert: der Enterbte ist grundsätzlich in keinem Fall an der Erbschaft
beteiligt, während der übergangene Erbe unter der Bedingung von der Erbschaft
ausgeschlossen ist, dass die eingesetzten Erben definitiv alle erben). Soweit
BGE 125 III 35 E. 3b/bb S. 40 f. etwas Gegenteiliges entnommen werden kann,
vermag dies hier nicht als Massstab zu dienen. Einerseits handelt es sich um
ein obiter dictum im Rahmen eines Auslegungsstreits, in welchem es um die Frage
nach dem auf einen Nachlass anwendbaren Recht (deutsches oder schweizerisches
Recht) ging. Dabei bildete ein öffentliches Testament Ausgangspunkt. Anderseits
wurde in der fraglichen Erwägung ausdrücklich erwähnt, dass die Erbenqualität
eines pflichtteilsberechtigten Erben, der mittels Testament von der Erbschaft
ausgeschlossen wurde, "kürzlich" (BGE 104 II 75 E. II 3b/bb und cc S. 84 f.) -
wie letztlich auch in BGE 125 III 35 - offengelassen wurde. Schliesslich blieb
BGE 115 II 211 E. 4 S. 212 vollkommen ausser Betracht, obwohl das Bundesgericht
darin unzweideutig erwogen hatte, dass der (ausgeschlossene)
pflichtteilberechtigte Erbe die Erbeneigenschaft erst mit dem
Herabsetzungsurteil verliehen bekommt. Dies ergibt sich - wie der zitierten
Stelle weiter entnommen werden kann - aus der Natur des Herabsetzungsurteils
als Gestaltungsurteil, wodurch die Verfügung, die den Pflichtteil verletzt,
erst ihre Wirkung verliert (bestätigt in BGE 138 III 354 E. 5 S. 357 mit
weiteren Hinweisen).

4.4 Das Teilungsamt hielt in seinen Schlussbemerkungen zum öffentlichen
Inventar vom (...) somit korrekt fest, dass die Beschwerdeführer, da "im
jetzigen Zeitpunkt nicht erbberechtigt", keine Erklärungspflicht in Bezug auf
den Erwerb der Erbschaft bzw. deren allfällige Ausschlagung treffe. An der
mangelnden Erbeneigenschaft ändert der am verfasste Nachtrag zum öffentlichen
Inventar nichts, da die Beschwerdeführer weiterhin von einer
Testamentsanfechtung resp. Herabsetzungsklage absahen. Im Übrigen wies das
Teilungsamt im Begleitschreiben zum Nachtrag erneut darauf hin, dass die
Beschwerdeführer "heute keine Erbenstellung" besässen und ohne Gegenbericht
innert 20 Tagen davon ausgegangen werde, dass sie stillschweigend auf eine
solche verzichteten. Insoweit die Vorinstanz dazu erwog, der Verzicht auf die
Erbenstellung sei abschliessend im ZGB geregelt und könne nicht stillschweigend
angenommen werden, lässt sie ausser Acht, dass eine Verfügung von Todes wegen
weder im Falle eines formellen noch in jenem eines inhaltlichen Mangels eo ipso
nichtig ist. Sie besteht zunächst zu Recht, wird aber vom Gericht als ungültig
erklärt, falls innerhalb bestimmter Zeit ein daran interessierter Erbe oder
Bedachter klagt. Unterbleibt die Erhebung der Ungültigkeits- oder
Herabsetzungsklage (Art. 519 ff. und 522 ff. ZGB), behält die Verfügung von
Todes wegen ihre Wirksamkeit (vgl. E. 4.3 in fine; BGE 138 III 354 E. 5 S. 357
f.; 115 II 211 E. 4 S. 212; 91 II 327 E. 4 S. 332; 86 II 340 E. 5 S. 344;
DANIEL STAEHELIN, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4. Aufl. 2011,
N. 4 zu Art. 470 ZGB). Wird eine allfällige Herabsetzungsklage gutgeheissen,
verschafft dies lediglich dem klagenden Pflichtteilserben die Erbenstellung (
BGE 115 II 211 E. 4 S. 212; STAEHELIN, a.a.O.).

4.5 Nach dem Gesagten verfügen die Beschwerdeführer über keine Erbenqualität.
Sie sind daher für die durch ihren Vater unrechtmässig bezogenen
Ergänzungsleistungen nicht rückerstattungspflichtig (vgl. E. 3.2).

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und es ist den
Beschwerdeführern eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1 BGG).
Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die
Parteientschädigungen für die kantonalen Verfahren festsetze (Art. 61 lit. g
ATSG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verfahren 9C_678/2012 und 9C_679/2012 werden vereinigt.

2.
Die Beschwerden werden gutgeheissen. Die Entscheide des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 28. Juni 2012
sowie die Einspracheentscheide der Ausgleichskasse Luzern vom 6. Juli 2011
werden aufgehoben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

4.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit je Fr. 1'500.- zu entschädigen.

5.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, hat die Parteientschädigungen für die vorangegangenen Verfahren
festzusetzen.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. Januar 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Die Gerichtsschreiberin: Dormann