Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 677/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_677/2012        
{T 0/2}

Urteil vom 3. Juli 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Robert Baumann,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 29. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.

A.a. S.________, geboren 1963, arbeitete zuletzt vom 1. Mai 2001 bis 25. Mai
2002 (letzter Arbeitstag) als Hilfsschlosser in der Firma X.________ AG. Er
meldete sich am 3. Juni 2002, 1. Oktober 2002 und 27. Januar 2003 wegen einer
Schulterproblematik rechts bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen zum Bezug
von Leistungen der Invalidenversicherung an. Am 3. August 2002 verfügte die
IV-Stelle die Ablehnung des Anspruchs auf berufliche Massnahmen und am 9. Juli
2003 auch auf eine Invalidenrente (Invaliditätsgrad von 8 %). Nach Einsprache
des Versicherten hob sie diese Verfügung am 5. Dezember 2003 auf und
beauftragte das Institut H.________ mit einer bidisziplinären (orthopädisch,
psychiatrischen) Abklärung (Gutachten vom 5. November 2004). Am 11. Januar 2005
verfügte sie erneut die Ablehnung des Rentenanspruchs (Invaliditätsgrad von 16
%). Auf nochmalige Einsprache hin holte die IV-Stelle eine Stellungnahme des
Instituts H.________ (vom 20. Juni 2005) ein. Hierauf verfügte sie am 4. Juli
2005 den Widerruf der Verfügung vom 11. Januar 2005 und veranlasste beim
Institut H.________ ein Folgegutachten (vom 8. Juni 2006). Nach Beizug weiterer
Berichte und Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach die IV-Stelle
S.________ mit Verfügung vom 10. Juli 2007 ab 1. August 2007 eine ganze
Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad von 100 %). Für die davor liegende Zeit
gewährte sie ihm mit Verfügungen vom 14. August 2007 für den Monat Juni 2006
eine Viertelsrente (Invaliditätsgrad von 41 %) und ab 1. Juli 2006 bis 31. Juli
2007 eine ganze Invalidenrente (Invaliditätsgrad von 100 %).

A.b. Gegen die Verfügungen vom 10. Juli 2007 und 14. August 2007 reichte
S.________ Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ein. Er
beantragte deren Aufhebung und die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab
einem früheren Zeitpunkt, spätestens ab 1. Mai 2003. Das Versicherungsgericht
wies die Sache mit Entscheid vom 20. Januar 2009 zur weiteren Abklärung an die
IV-Stelle zurück.

A.c. Die IV-Stelle beauftragte das Institut H.________ am 25. März 2009 mit
einer Verlaufsbegutachtung (vom 23. September 2009). Mit Vorbescheid vom 5.
November 2009 stellte sie dem Versicherten einen ablehnenden Entscheid in
Aussicht und wies mit Verfügung vom 26. Januar 2010 das Rentengesuch ab
(Invaliditätsgrad von 32 %).

B.
S.________ erhob erneut Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und beantragte die Zusprache einer ganzen Invalidenrente ab wann
rechtens, spätestens ab 1. Mai 2003; eventualiter sei die Sache zur weiteren
medizinischen Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen. Das Gericht hiess die
Beschwerde mit Entscheid vom 29. Februar 2012 dahingehend gut, dass es
S.________ ab 1. Januar 2006 eine Viertelsrente, ab 1. Juli 2006 eine ganze
Rente, ab 1. Dezember 2006 eine Viertelsrente, ab 1. Oktober 2007 eine ganze
Rente und ab 1. März 2008 eine Viertelsrente zusprach.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie
beantragt Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Bestätigung der Verfügung
vom 26. Januar 2010.

S.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde; das Gesuch um Erteilung der
aufschiebenden Wirkung sei abzuweisen; zudem beantragt er unentgeltliche
Rechtspflege. Das Bundesamt für Sozialversicherungen beantragt Gutheissung der
Beschwerde, das kantonale Gericht verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Streitig ist, ob der Beschwerdegegner Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung hat. Laut dem Gutachten des Instituts H.________ vom 23.
September 2009 litt er (mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit) (1.) an
chronischen Schulterschmerzen rechts (ICD-10 M79.61), (2.) an einem chronischen
thorakolumbovertebralen Schmerzsyndrom ohne radikuläre Symptomatik (ICD-10
M54.85), (3.) an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig leichte
bis mittelgradige Episode (ICD-10 F33.0, F33.1) und (4.) an einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4). Das Versicherungsgericht ging davon
aus, dass die rezidivierende depressive Störung nicht als Begleiterscheinung
der somatoformen Schmerzstörung aufzufassen ist, sondern als selbstständige,
vom Schmerzsyndrom losgelöste psychische Komorbidität. Für die
Arbeitsunfähigkeit in einer adaptierten Erwerbstätigkeit bis 2005 von 10 % und
ab Januar 2006 von 30 % seien sowohl die chronischen somatischen
Beeinträchtigungen, als auch die direkt aus der psychischen Erkrankung
fliessenden Nachteile verantwortlich.

2.

2.1. Das kantonale Gericht hat sich eingehend mit den medizinischen Akten
auseinandergesetzt und einlässlich dargelegt, weshalb auf das Gutachten des
Instituts H.________ abzustellen sei. Zum gleichen Ergebnis gelangte auch der
Regionale Ärztliche Dienst der Invalidenversicherung, der dem Gutachten mit
Stellungnahme vom 22. Oktober 2009, bestätigt am 26. Januar 2010, attestierte,
es sei in sich widerspruchsfrei und die medizinischen Schlussfolgerungen seien
gut nachvollziehbar. Auch die Beschwerdeführerin bringt gegen die
gutachterlichen Abklärungen und Schlüsse nichts vor. Sie rügt jedoch, die
Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie die invalidisierende Wirkung
der dem Beschwerdegegner attestierten psychischen Gesundheitsbeeinträchtigung
bejaht habe.

2.2. Diese Frage kann indes offen bleiben; denn bei einer Arbeitsfähigkeit von
70 % in einer adaptierten Erwerbstätigkeit würde ein anspruchsbegründender
Invaliditätsgrad (von mindestens 40 %) nur erreicht, wenn dem Beschwerdegegner
ein leidensbedingter Abzug auf dem Tabellenlohn gewährt werden könnte. Die
Frage, ob ein solcher Abzug nach Massgabe der Grundsätze von BGE 126 V 75
vorzunehmen ist, ist rechtlicher Natur. Für die Vorinstanz rechtfertigte sich
die Gewährung eines Abzuges (von 15 %) vorab wegen der fehlenden Flexibilität
des Beschwerdegegners am Arbeitsplatz, der Gefahr überdurchschnittlicher
Krankheitsabsenzen, der kurzfristig schwankenden Leistungsfähigkeit sowie des
Bedarfs nach besonderer Rücksichtnahme. Hiegegen hat die Beschwerdeführerin mit
Recht die bundesgerichtliche Rechtsprechung angerufen, wonach die von der
Vorinstanz berücksichtigten Umstände nicht zu einem Tabellenlohnabzug
berechtigen (Urteil 9C_708/2009 vom 19. November 2009 E. 2.3.2). Da dem
Versicherten eine ganztägige Arbeit (mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit)
zumutbar ist, besteht rechtsprechungsgemäss kein Raum für einen Abzug, weil der
Umstand, dass eine grundsätzlich vollzeitlich arbeitsfähige versicherte Person
gesundheitlich bedingt lediglich reduziert leistungsfähig ist, an sich keinen
Abzug vom Tabellenlohn rechtfertigt (Urteil 9C_40/2011 vom 1. April 2011 E.
2.3.1 mit Hinweisen). Die Berücksichtigung eines Abzuges von 15 % vom
Tabellenlohn durch die Vorinstanz ist somit bundesrechtswidrig. Ein
Rentenanspruch konnte per 1. Januar 2006 mangels eines anspruchsbegründenden
Invaliditätsgrades nicht entstehen.

2.3. Es bleibt zu prüfen, ob sich für die späteren Phasen einer 100%igen
Arbeitsunfähigkeit (stationärer Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik
Y.________ vom 24. April bis 15. September 2006; Verkehrsunfall am 24. Juli
2007; urologische Operation im November 2007) allenfalls eine vorübergehende
Zusprechung einer Rente rechtfertigte:
Praxisgemäss wird die Wartezeit nach aArt. 29 Abs. 1 lit. b IVG (gültig bis 31.
Dezember 2007; seither: Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) schon bei einer
Einschränkung von 20 % eröffnet (AHI 1998 124; I 411/96). Gestützt auf das
Gutachten des Instituts H.________ vom 5. November 2004 ist davon auszugehen,
dass in der angestammten Tätigkeit des Hilfsschlossers und Spritzlackierers
seit Mai 2002 eine volle Arbeitsunfähigkeit gegeben war. Dass die Vorinstanz
den Ablauf der Wartezeit erst auf den 31. Juli 2002 terminierte, ist ohne
Relevanz, weil für körperlich leichte bis mittelschwere leidensadaptierte
Tätigkeiten eine Arbeitsfähigkeit von 90 % bestand, sodass der Rentenanspruch
im Mai 2003 nicht entstehen konnte. Die Wirkung der Erfüllung der Wartezeit
hält indes nicht zeitlich unbeschränkt an: Art. 29bis IVV regelt, dass früher
zurückgelegte Zeiten bei der Berechnung der Wartezeit anzurechnen sind, wenn
nach der Aufhebung der Rente infolge einer Verminderung des Invaliditätsgrades
dieser in den folgenden drei Jahren wegen einer auf dasselbe Leiden
zurückzuführenden Arbeitsunfähigkeit wieder ein rentenbegründendes Ausmass
erreicht. Dies hat analog erst recht zu gelten, wenn, wie hier, nach der
Erfüllung einer früheren Wartezeit gar nie ein Rentenanspruch bestand, und der
Ablauf der ersten Wartezeit zudem bereits dreieinhalb Jahre zurücklag. Ab dem
von der Vorinstanz bestimmten Stichdatum vom 1. Januar 2006 (Eintritt einer
Arbeitsunfähigkeit von 30 %) war darum die Wartezeit erneut ganz zu
durchlaufen.
In das neue Wartejahr fiel die ganze Periode einer vollen Arbeitsunfähigkeit
während des Aufenthalts in der Psychiatrischen Klinik Y.________ vom 24. April
bis 15. September 2006, weshalb ein Rentenanspruch nicht entstehen konnte. Nach
dem Ablauf der Wartezeit Ende 2006 war die Erwerbsunfähigkeit indes bereits
wieder auf unter 40 % gesunken (Arbeitsunfähigkeit von 30 % gemäss
Verlaufsgutachten des Instituts H.________ vom 23. September 2009). Damit
konnte der Rentenanspruch erneut nicht entstehen (oben E. 2.2). Die zwei
weiteren Phasen einer vollständigen Arbeits- (und Erwerbsunfähigkeit), jeweils
während mehrerer Wochen nach einem Verkehrsunfall am 24. Juli 2007 und aufgrund
einer urologischen Operation im November 2007, waren hingegen wieder zu kurz,
um einen vorübergehenden Rentenanspruch auszulösen; denn gemäss Art. 8 Abs. 1
ATSG ist Invalidität die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde
ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit. Davon kann bei den geschilderten
zeitlichen Verhältnissen nicht die Rede sein.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten grundsätzlich dem
Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Es
wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 29. Februar 2012 aufgehoben.

2.
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdegegner
Rechtsanwalt Robert Baumann als Rechtsbeistand beigegeben. Es wird ihm aus der
Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.- ausgerichtet.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat die Gerichtskosten und die
Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen und über
das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege zu befinden.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. Juli 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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