Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 676/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_676/2012

Urteil vom 21. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung
(Berichtigung des Dispositivs)

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
H.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Biedermann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde betreffend die Entscheide des Verwaltungs-gerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrecht-liche Abteilung, vom 20. Juli 2007 und 22. Juli 2011.

Sachverhalt:

A.
A.a H.________ meldete sich im Juni 2004 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Mit Vorbescheid vom 21. September 2006 teilte ihr die
IV-Stelle Bern mit, es bestehe Anspruch auf eine halbe Rente für die Zeit vom
1. Oktober 2004 bis 30. September 2006. Nachdem sie am 29. November 2006 das
Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren abgewiesen
hatte, erliess sie am 5. Januar 2007 eine in diesem Sinne lautende Verfügung.

Mit Entscheid vom 20. Juli 2007 hob des Verwaltungsgericht des Kantons Bern die
Verfügung vom 5. Januar 2007 auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung im
Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück; die ebenfalls angefochtene
Verfügung vom 29. November 2006 bestätigte es. Auf die dagegen erhobene
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten trat das Bundesgericht mit
Urteil 9C_551/2007 vom 19. Juni 2008 nicht ein.
A.b Mit Vorbescheid vom 15. September 2010 teilte die IV-Stelle der
Versicherten mit, es bestehe Anspruch auf eine halbe Rente für die Zeit vom 1.
Oktober 2004 bis 30. September 2006 und auf eine Viertelsrente ab 1. Oktober
2006. Nachdem sie am 6. Dezember 2010 das Gesuch um unentgeltliche
Verbeiständung im Verwaltungsverfahren seit dem Rückweisungsentscheid vom 20.
Juli 2007 abgewiesen hatte, erliess sie am 5. Januar 2011 eine in diesem Sinne
lautende Verfügung.

Mit Entscheid vom 22. Juli 2011 hob des Verwaltungsgericht des Kantons Bern die
Verfügung vom 5. Januar 2011 auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung im
Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück; die ebenfalls angefochtene
Verfügung vom 6. Dezember 2010 bestätigte es.

B.
Mit Verfügung vom 4. Juli 2012 hat die IV-Stelle H.________ eine unbefristete
halbe Rente ab 1. Oktober 2004 zugesprochen.

C.
H.________ hat am 5. September 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten eingereicht mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr die
unentgeltliche Verbeiständung für das Verwaltungsverfahren vor der IV-Stelle
zuzusprechen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale
Verwaltungsgericht verzichtet auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Die innert dreissig Tagen seit der Eröffnung der Verfügung vom 4. Juli 2012
erhobene Beschwerde (Art. 100 Abs. 1 BGG) gegen die vorinstanzlich bestätigte
Verweigerung der unentgeltlichen Verbeiständung für das Verfahren vor der
IV-Stelle betreffend eine Rente (Entscheide vom 20. Juli 2007 und 22. Juli
2011) ist zulässig (Art. 93 Abs. 3 BGG; BGE 133 V 645 E. 2.2 S. 648 und Urteil
9C_567/2008 vom 30. Oktober 2008 E. 4.2; vgl. auch Urteil 2C_759/2008 vom 6.
März 2009 E. 2.6 und 2.7).

2.
In den Entscheiden vom 20. Juli 2007 und 22. Juli 2011 werden die allgemein
gültigen Voraussetzungen für den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung
(Bedürftigkeit, Nichtaussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche
Gebotenheit der Vertretung) und deren Konkretisierung im Verwaltungsverfahren
vor der IV-Stelle (Art. 37 Abs. 4 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1
Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen (vgl. etwa BGE 132 V
200 E. 4.1 S. 200 f. und SVR 2009 IV Nr. 3 S. 4, I 415/06 E. 4.2).

3.
3.1 Da die Beschwerden gegen die Verfügungen vom 5. Januar 2007 und 6. Dezember
2010 teilweise erfolgreich waren und zur zweimaligen Rückweisung der Sache zu
weiterer Abklärung des medizinischen Sachverhalts führten, können die
diesbezüglichen Einwände gegen die in den Vorbescheiden vom 21. September 2006
und 15. September 2010 in Aussicht gestellte Leistungszusprechung (halbe Rente
vom 1. Oktober 2004 bis 30. September 2006 bzw. halbe Rente vom 1. Oktober 2004
bis 30. September 2006 und Viertelsrente ab 1. Oktober 2006) nicht als
aussichtslos bezeichnet werden (SVR 2009 IV Nr. 48 S. 144, 9C_991/2008 E. 4.4.2
in fine; vgl. auch Urteil 9C_196/2012 vom 20. April 2012 E. 6.2).

3.2 Die sachliche Gebotenheit einer anwaltlichen Vertretung der
Beschwerdeführerin im Verwaltungsverfahren hat die Vorinstanz verneint, sowohl
für die Zeit bis zur Beschwerde gegen die Verfügung vom 5. Januar 2007 als auch
für die Zeit nach dem Entscheid vom 20. Juli 2007 bis zur Beschwerde gegen die
Verfügung vom 5. Januar 2011:

Im Entscheid vom 22. Juli 2007 führte sie aus, die Beschwerdeführerin hätte
ihre Einwände im Vorbescheidverfahren, das Gutachten des Dr. med. F.________
vom 19. Mai 2006 sei unter anderem unklar, interpretierbar und teilweise
tatsachenwidrig, auch ohne anwaltliche Hilfe vorbringen können. Diese ergäben
sich nicht aus komplexen rechtlichen Überlegungen, sondern beträfen vielmehr
den Sachverhalt, der von ihr selbständig geschildert werden könne.

Im Entscheid vom 22. Juli 2011 erwog die Vorinstanz, die Beschwerdeführerin
habe zwar die IV-Stelle mehrfach zu einer ordentlichen und beförderlichen
Behandlung der Sache anhalten müssen, wozu indessen kein Anwalt nötig gewesen
sei. Sodann seien die Einwendungen ihres Rechtsvertreters hinsichtlich der im
Nachgang zum Rückweisungsentscheid vom 20. Juli 2007 angeordneten Begutachtung
(Notwendigkeit der Massnahme, fachliche Qualifikation und grundsätzliche
Eignung der Gutachterin) letztlich erfolglos geblieben, indem sich die
Versicherte der Abklärung unterzogen habe.

In beiden Entscheiden führte die Vorinstanz als zusätzliches Argument gegen die
Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung an, dass an Vorbringen der
Versicherten im Rahmen des Vorbescheidverfahrens keine hohen formellen
Anforderungen gestellt würden.
3.2.1 Im ersten Vorbescheidverfahren ging es im Wesentlichen einzig um den
Beweiswert des Administrativgutachtens vom 19. Mai 2006. Schwachstellen einer
fachärztlichen Expertise aufgrund der diesbezüglich massgebenden Rechtsprechung
(vgl. BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) und deren rechtliche Relevanz zu erkennen,
erfordert in der Regel gewisse medizinische Kenntnisse und juristischen
Sachverstand. Es ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin über beides
nicht verfügt. Trotzdem kann nicht von einer komplexen Fragestellung gesprochen
werden, die eine anwaltliche Vertretung geböte. Die gegenteilige Auffassung
liefe darauf hinaus, dass der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung
in praktisch allen Vorbescheidverfahren bejaht werden müsste, in denen ein
medizinisches Gutachten zur Diskussion steht, was der Konzeption von Art. 37
Abs. 4 ATSG als einer Ausnahmeregelung widerspräche (Urteile 8C_717/2012 vom 8.
November 2012 E. 3.5, 8C_370/2010 vom 7. Februar 2011 E. 7.1, 9C_315/2009 vom
18. September 2009 E. 2.1 und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 631/06
vom 16. Oktober 2006 E. 3).
3.2.2 Für die Zeit nach dem Rückweisungsentscheid vom 20. Juli 2007 ist zu
berücksichtigen, dass sich die Beschwerdeführerin im Juni 2004 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet hatte. Zum Gesichtspunkt
der langen Verfahrensdauer kommt hinzu, dass sich die Ermittlung des
rechtserheblichen medizinischen Sachverhalts auch nach dem Gutachten des Dr.
med. F.________ vom 19. Mai 2006 als schwierig erwies. Die IV-Stelle holte zwei
neurochirurgische Expertisen vom 9. Juni 2009 und 4. Mai 2010 ein, wozu der
regionale ärztliche Dienst (RAD) Stellung nahm. Den medizinischen
Sachverständigen wurden in der Folge jeweils auch Ergänzungsfragen gestellt.
Nachdem die ersten Gutachter eine Arbeitsfähigkeit von maximal 50 % in leichten
wechselhaft belastenden Tätigkeiten attestiert hatten, war es wichtig,
allfällige formelle und materielle Einwände gegen eine weitere Begutachtung
bzw. gegen die Expertise vom 4. Mai 2010 frühzeitig und kompetent vorzubringen
(SVR 2009 IV Nr. 5 S. 9, 8C_48/2007 E. 2.2), wozu die Beschwerdeführerin allein
nicht in der Lage gewesen wäre. Gemäss Vorbringen in der Beschwerde konnte sie
nicht auf die Unterstützung durch eine soziale Einrichtung zählen, was eine
anwaltliche Vertretung allenfalls entbehrlich gemacht hätte (Urteil 9C_951/2008
vom 20. März 2009 E. 2.1). Die Beschwerdegegnerin hat dem nicht widersprochen
noch diesbezügliche Abklärungen beantragt.
3.2.3 Aufgrund des Vorstehenden ist die Notwendigkeit einer anwaltlichen
Vertretung für die Zeit bis zur Beschwerde gegen die Verfügung vom 5. Januar
2007 zu verneinen, ab dem Entscheid vom 20. Juli 2007 bis zur Beschwerde gegen
die Verfügung vom 5. Januar 2011 dagegen zu bejahen. An diesem Ergebnis vermag
das vorinstanzliche Argument nichts zu ändern, an Vorbringen der Versicherten
im Rahmen des Vorbescheidverfahrens würden keine hohen formellen Anforderungen
gestellt, zumal unklar ist, was dies im Kontext heissen soll. In der Regel
werden jedenfalls (zu) wenig substanziierte Bestreitungen für eine IV-Stelle
kaum Anlass sein, allenfalls weitere Abklärungen vorzunehmen oder anders als im
Vorbescheid in Aussicht gestellt zu verfügen.

3.3 Die Beschwerdegegnerin wird die verbleibende Voraussetzung der
Bedürftigkeit zu prüfen haben und danach erneut über die Gewährung oder
Verweigerung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren
ab dem Entscheid vom 20. Juli 2007 bis zur Beschwerde gegen die Verfügung vom
5. Januar 2011 befinden.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend haben grundsätzlich die Parteien je zur
Hälfte die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die
Beschwerdeführerin hat nach Massgabe ihres Obsiegens Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG). Im Übrigen kann ihrem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E.
4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen,
wonach sie der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der
Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheids
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 22. Juli 2011 wird aufgehoben und
es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin - unter der noch zu prüfenden
Voraussetzung der Bedürftigkeit - Anspruch auf unentgeltliche
Rechtsverbeiständung für das Verwaltungsverfahren (ab dem Entscheid vom 20.
Juli 2007 bis zur Beschwerde gegen die Verfügung vom 5. Januar 2011) hat. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen und es wird der Beschwerdeführerin Rechtsanwalt Thomas
Biedermann als Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden den Parteien je zur Hälfte auferlegt;
der Anteil der Beschwerdeführerin wird einstweilen auf die Gerichtskasse
genommen.

4.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.

5.
Rechtsanwalt Thomas Biedermann wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung
von Fr. 1'400.- ausgerichtet.

6.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat die Parteientschädigung für das
vorangegangene Verfahren, soweit den Anspruch auf unentgeltliche
Rechtsverbeiständung für das Verwaltungsverfahren (ab dem Entscheid vom 20.
Juli 2007 bis zur Beschwerde gegen die Verfügung vom 5. Januar 2011)
betreffend, neu festzusetzen.

7.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

8.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. November 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler