Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 673/2012
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_673/2012

Urteil vom 28. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

M.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Bivetti,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 17. August 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 12. Mai 2010 verneinte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
u.a. in Berücksichtigung der Expertise des Instituts X.________ vom 11.
November 2009 den Anspruch des M.________ auf eine Rente der
Invalidenversicherung.

B.
In Gutheissung der Beschwerde des M.________ hob das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 17. August 2012 die angefochtene Verfügung
auf und sprach dem Versicherten eine Viertelsrente ab 1. Juli 2008 zu, unter
Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zur Festsetzung der Rentenbeträge.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 17. August 2012 sei aufzuheben.

M.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das kantonale
Versicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat festgestellt, gemäss dem Gutachten des Instituts X.________
vom 11. November 2009 sei der Versicherte zu 80 % arbeitsfähig in einer
leidensadaptierten Tätigkeit. Davon ausgehend hat sie durch Einkommensvergleich
(Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG) einen Invaliditätsgrad von
42 % ermittelt, was Anspruch auf eine Viertelsrente gab (Art. 28 Abs. 2 IVG).
Den Leistungsbeginn hat sie auf den 1. Juli 2008 festgesetzt.

2.
Die Beschwerde führende IV-Stelle rügt mit ihren Vorbringen sinngemäss, die
Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie das Vorliegen eines
invalidisierenden psychischen Gesundheitsschadens bejaht habe.

3.
3.1 Im Gutachten des Instituts X.________ vom 11. November 2009 wurden im
Wesentlichen ein chronisches panvertebrales Schmerzsyndrom ohne radikuläre
Ausstrahlung, eine koronare Herzkrankheit, eine leichte depressive Episode
(ICD-10 F32.0) und (ohne Einschränkung auf die Arbeitsfähigkeit) eine
Schmerzverarbeitungsstörung (ICD-10 F54) diagnostiziert. Bei einem solchen
Krankheitsbild beurteilt sich die Frage, inwieweit eine Arbeitsunfähigkeit aus
medizinisch-psychiatrischer Sicht als invalidisierend auch im rechtlichen Sinne
(Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 ATSG) anzuerkennen ist, nach
der mit BGE 130 V 352 begründeten Rechtsprechung.
Danach kommt einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4)
ebenso wie grundsätzlich sämtlichen pathogenetisch-ätiologisch unklaren
syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage (BGE 136 V
279 E. 3.2.3 S. 283) nur ausnahmsweise invalidisierender, d.h. einen
Rentenanspruch begründender Charakter zu. Entscheidend ist, ob und inwiefern
die versicherte Person über psychische Ressourcen verfügt, die es ihr erlauben,
trotz den subjektiv erlebten Schmerzen einer Arbeit nachzugehen (BGE 130 V 352
E. 2.2.4 S. 355; 127 V 294 E. 4b/cc in fine und E. 5a S. 299 unten). Umstände,
die bei Vorliegen eines solchen Krankheitsbildes die Verwertung der
verbliebenen Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt als unzumutbar erscheinen lassen
können, sind: Eine Komorbidität im Sinne eines vom Schmerzgeschehen losgelösten
eigenständigen psychischen Leidens von erheblicher Schwere, Intensität,
Ausprägung und Dauer, chronische körperliche Begleiterkrankungen mit
mehrjährigem Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik
ohne längerfristige Remission, sozialer Rückzug, ein verfestigter,
therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich
missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer
Krankheitsgewinn), unbefriedigende Ergebnisse von konsequent durchgeführten
Behandlungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und
gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und
Eigenanstrengung der versicherten Person (BGE 132 V 65 E. 4.2.2 S. 71; 130 V
352 E. 2.2.3 S. 353 ff.; Urteil 9C_266/2012 vom 29. August 2012 E. 4.2.1).

Gestützt auf die fachärztlichen Stellungnahmen zum psychischen
Gesundheitszustand und zu dem aus medizinischer Sicht (objektiv) vorhandenen
Leistungspotenzial haben die rechtsanwendenden Behörden als Rechtsfrage zu
prüfen, ob eine festgestellte psychische Komorbidität hinreichend erheblich ist
und ob einzelne oder mehrere der festgestellten weiteren Kriterien in
genügender Intensität und Konstanz vorliegen, um gesamthaft den Schluss auf
eine im Hinblick auf eine erwerbliche Tätigkeit nicht mit zumutbarer
Willensanstrengung überwindbare Schmerzstörung zu erlauben (Urteil 9C_936/2011
vom 21. März 2012 E. 3.1).

3.2 Die Vorinstanz hat die Gründe angeführt, weshalb ihres Erachtens die
Gutachter in nachvollziehbarer Weise eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
von 20 % aus psychiatrischer Sicht attestiert hätten: Der Versicherte leide an
einer langjährigen Problematik; er sei seit langem erheblich auf die Schmerzen
fixiert; der Herzinfarkt habe ein nach wie vor bestehendes Gefühl der Einengung
der Brust und eine psychische Fehlentwicklung ausgelöst; es bestehe ein
langjähriger, unveränderter und chronifizierter Verlauf mit Therapieresistenz,
was nur teilweise auf die ausgeprägte subjektive Krankheitsüberzeugung
zurückzuführen sei; die Foerster'schen Kriterien seien gesamthaft teilweise
erfüllt, was das Attest einer quantitativen Beeinträchtigung der
Leistungsfähigkeit von 20 % rechtfertige; zu berücksichtigen seien weiter
Begleiterkrankungen (Hyperthyreose, Adipositas, Hyperlipidämie, Hypertonie),
welche die Belastbarkeit und das Arbeitstempo ebenfalls minderten; auch die
erhebliche Selbstunsicherheit beim Bewegen draussen, die zumindest subjektiv
empfundene Sturzneigung sowie die zusätzliche Verunsicherung durch die sehr
schlechte Schulbildung wirkten sich ungünstig aus; die Ressourcenlage sei
ausserordentlich schwach.

3.3 Dabei handelt es sich überwiegend nicht um Umstände, die nach den
massgeblichen Kriterien eine Arbeitsunfähigkeit (auch) aus rechtlicher Sicht zu
begründen vermögen, wie die IV-Stelle richtig vorbringt. Abgesehen davon
äusserten sich die Gutachter des Instituts X.________ nicht in dem von der
Vorinstanz dargelegten Sinne. Diese hielten fest, die Arbeitsfähigkeit sei
durch die leichte depressive Episode eingeschränkt. Der psychiatrische
Gutachter führte aus, es handle sich beim Exploranden keineswegs um einen
Ausnahmezustand betreffend die Kriterien der Zumutbarkeit. Die Kriterien nach
Foerster seien nicht vollständig erfüllt: Es bestehe keine schwere komorbide
Störung; es bestehe eine somatische Problematik, die aber prinzipiell behandelt
werden könne; der Verlauf sei bereits mehrjährig, unverändert und
chronifiziert, was ebenso wie die Therapieresistenz auch durch die ausgeprägte
subjektive Krankheitsüberzeugung bedingt sei; ein sozialer Rückzug sei nicht
ausgeprägt; ein primärer Krankheitsgewinn bestehe nicht.
Mit der IV-Stelle lassen diese fachärztlichen Aussagen nach der Rechtsprechung
nicht den Schluss zu, der Versicherte verfüge nicht über hinreichende
psychische Ressourcen, um bei zumutbarer Willensanstrengung trotz den subjektiv
erlebten Schmerzen einer ganztägigen Arbeit, die dem Anforderungsprofil aus
somatischer Sicht Rechnung trägt, nachzugehen (BGE 130 V 352 E. 2.2.4 S. 355;
127 V 294 E. 4b/cc in fine und E. 5a S. 299 unten). Dies hat umso mehr zu
gelten, als eine leichte depressive Episode in der Regel keine psychische
Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer
darstellt (SVR 2012 IV Nr. S. 1, 9C_1040/2010 E. 3.4.2.1; Urteil 9C_736/2011
vom 7. Februar 2012 E. 4.2.2.1). Ebenfalls gelten leichte bis höchstens
mittelschwere psychische Störungen aus dem depressiven Formenkreis
grundsätzlich als therapeutisch angehbar (Urteil 9C_ 302/2012 vom 13. August
2012 E. 4.3.2 mit Hinweisen); gemäss dem Gutachten des Instituts X.________ ist
das Behandlungspotenzial noch nicht ausgeschöpft.

3.4 Die rechtsdogmatischen Überlegungen der Vorinstanz in E. 3 des
angefochtenen Entscheids sind nicht zielführend. Die Vermutung der
Überwindbarkeit der Schmerzstörung (SVR 2005 IV Nr. 6 S. 21, I 457/ 02 E. 7.3
[nicht publ. in: BGE 130 V 396]; Urteil 9C_148/2012 vom 13. August 2012 E. 2.1)
kann zwar umgestossen werden. Ob dies gelingt, beurteilt sich indessen nach der
einschlägigen Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352 und seitherige Urteile und
kann vorliegend, wie in E. 3.3 hievor gezeigt, nicht auf der Grundlage des
Gutachtens des Instituts X.________ vom 11. November 2009 erbracht werden. Die
Vorbringen in der Vernehmlassung des Beschwerdegegners geben zu keiner anderen
Betrachtungsweise Anlass.

4.
Die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung ist weiter nicht bestritten. Bei
einer Arbeitsfähigkeit von 100 % auch in psychischer Hinsicht ergibt sich bei
im Übrigen unveränderten Berechnungsfaktoren ein Invaliditätsgrad von 28 %, was
für den Anspruch auf eine Rente nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2 IVG). Die
Beschwerde ist begründet.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat grundsätzlich der Beschwerdegegner die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a
S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen,
wonach er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der
Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 17. August 2012 aufgehoben.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdegegner Rechtsanwalt Marco Bivetti
als Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Marco Bivetti wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 2'000.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 28. November 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler