Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 639/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_639/2012

Urteil vom 20. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St.
Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

K.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Denise Dornier-Zingg,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV
(Verwaltungsverfahren; unentgeltliche Rechtspflege),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 6. August 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 27. Dezember 2010 wies die Ausgleichskasse des Kantons St.
Gallen das Gesuch von K.________ um Erlass der Rückerstattung zuviel
ausgerichteter Ergänzungsleistungen (EL) in der Höhe von Fr. 16'125.- ab. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheid vom 9. Dezember 2011 fest, wobei sie einen
Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung für das Einspracheverfahren
verneinte.

B.
Dagegen liess K.________ Beschwerde erheben. Mit Entscheid vom 6. August 2012
wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Ausgleichskasse an,
der Versicherten eine Entschädigung für unentgeltliche Rechtsverbeiständung im
Einspracheverfahren zuzusprechen (Dispositiv-Ziffer 1), sprach deren
Rechtsvertreterin eine Entschädigung für das Beschwerdeverfahren zu
(Dispositiv-Ziffer 4) und wies im Übrigen das Rechtsmittel ab
(Dispositiv-Ziffer 2).

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
Ausgleichskasse, es sei festzustellen, dass für das Einspracheverfahren kein
Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung besteht.

K.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten
ist. Das kantonale Versicherungsgericht und das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde führende Ausgleichskasse ist berechtigt, Dispositiv-Ziffer 1 des
vorinstanzlichen Entscheids (Bejahung des Anspruchs der Beschwerdegegnerin auf
unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Einspracheverfahren betreffend den
Erlass der Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen [Art. 25
Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 ELG]) beim
Bundesgericht anzufechten (Art. 89 BGG). Die Beschwerdegegnerin bestreitet
dies. Ihre Begründung, die Beschwerdeführerin habe insoweit keine
Parteistellung gehabt, trifft indessen offensichtlich nicht zu. Die
Ausgleichskasse hatte im vorinstanzlich angefochtenen Einspracheentscheid den
Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung für das Einspracheverfahren
(Art. 37 Abs. 4 ATSG) verneint und hatte somit (auch diesbezüglich)
Parteistellung im nachfolgenden Beschwerdeverfahren (vgl. Art. 21 Abs. 2 ELV;
BGE 136 V 376 E. 4.1.2 S. 378; 105 V 186 E. 1 S. 188; Urteil 9C_245/2007 vom
24. September 2007 mit Hinweisen auf die Lehre).

2.
Die Vorinstanz hat den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im
Einspracheverfahren betreffend den Erlass der Rückerstattung unrechtmässig
bezogener Ergänzungsleistungen in der Höhe von Fr. 16'125.- mit der Begründung
bejaht, es seien keine Umstände gegeben, welche die Erfolgsaussichten
beträchtlich geringer erscheinen liessen als die Gefahr des Unterliegens.
Ebenfalls seien die Voraussetzungen der Notwendigkeit einer rechtskundigen
Vertretung und der Prozessarmut erfüllt. Demgegenüber ist nach Auffassung der
Beschwerdeführerin offensichtlich, dass die Prozessaussichten bezüglich Erlass
bei einer Verletzung sowohl der Melde- als auch der Überprüfungspflichten als
aussichtslos erschienen. Folgerichtig seien die Erfolgsaussichten beträchtlich
geringer als die Gefahr des Unterliegens, weshalb kein Anspruch auf
unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Einspracheverfahren bestehe.

3.
3.1 Art. 29 Abs. 3 BV räumt jeder Person, die nicht über die erforderlichen
Mittel verfügt, soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist und ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, einen Anspruch auf unentgeltlichen
Rechtsbeistand ein. Prozessbegehren sind als aussichtslos anzusehen, wenn die
Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren, so dass
sie kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Massgebend ist, ob eine
Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger
Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135;
128 I 225 E. 2.5.3 S. 236).

Notwendigkeit einer rechtskundigen Vertretung und fehlende Aussichtslosigkeit
der Prozessbegehren sind auch Voraussetzung des Anspruchs auf unentgeltliche
Rechtsverbeiständung im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren
nach Art. 37 Abs. 4 ATSG (BGE 132 V 200 E. 4.1 S. 201; SVR 2009 IV Nr. 3 S. 4,
I 415/06 E. 4.2). Dabei ist das Erfordernis der sachlichen Gebotenheit einer
anwaltlichen Verbeiständung nur in Ausnahmefällen zu bejahen. Es müssen sich
schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen stellen und eine
Interessenwahrung durch Verbandsvertreter, Fürsorgestellen oder andere Fach-
und Vertrauensleute sozialer Institutionen ausser Betracht fallen (BGE 132 V
200 E. 4.1 in fine S. 201). Von Bedeutung ist auch die Fähigkeit der
versicherten Person, sich im Verfahren zu Recht zu finden (BGE 125 V 32 E. 4b
S. 35). Mit Blick darauf, dass das Verfahren vom Untersuchungsgrundsatz
beherrscht wird, die Versicherungsträger und Durchführungsorgane der einzelnen
Sozialversicherungen (u.a. EL-Durchführungsstellen) also den rechtserheblichen
Sachverhalt unter Mitwirkung der Parteien zu ermitteln haben (Art. 43 ATSG),
drängt sich eine Verbeiständung nur in Ausnahmefällen auf (BGE 132 V 200 E. 4.1
S. 201; 125 V 32 E. 4c S. 36; SVR 2009 IV Nr. 48 S. 144, 9C_991/2008 E. 4.2 mit
Hinweisen).
3.2
3.2.1 Nach der am 1. Juli 2010 verfügten Rückforderung, die unangefochten
blieb, liess die Beschwerdegegnerin durch die Beratungsstelle X.________ ein
Erlassgesuch stellen. Im betreffenden Schreiben vom 22. Juli 2010 führte die
Beratungsstelle aus, die EL-Bezügerin habe vor 5-6 Jahren von einem Mitarbeiter
der AHV-Zweigstelle der Stadt St. Gallen die Auskunft erhalten, sie müsse die
Einkünfte aus ihrer unregelmässig, drei bis vier Mal im Monat ausgeübten
Dolmetschertätigkeit nicht bei der EL angeben. Sie sei daher im Glauben
gewesen, sie hätte alles richtig gemacht. Sie habe dieses Einkommen auch bei
den Steuern benannt. Das Begehren wurde mit Verfügung vom 27. Dezember 2010
abgewiesen mit der Begründung, die Gesuchstellerin habe ihre Meldepflicht (Art.
24 ELV) und ihre Pflicht, die EL-Berechnung auf Vollständigkeit und Richtigkeit
zu überprüfen (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts P 62/04 vom 6. Juni
2005 E. 4.3), in einer den guten Glauben ausschliessenden Weise verletzt. Auf
das Wiedererwägungsgesuch vom 18. Januar 2011, in welchem die Beratungsstelle
zusätzlich vorbrachte, es werde davon ausgegangen, dass die
EL-Durchführungsstelle intern Zugang zu den Steuerveranlagungen habe, trat
diese nicht ein (Schreiben vom 8. Februar 2011).
3.2.2 In diesem Zeitpunkt bestand jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der
Gebotenheit einer anwaltlichen Vertretung kein ernstlicher Grund, einen
Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin beizuziehen. Es ging im Wesentlichen
darum, Gründe zu benennen, die gegen ein sorgfaltspflichtwidriges Verhalten der
Beschwerdegegnerin sprachen. Dessen rechtliche Würdigung war von
untergeordneter Bedeutung, jedenfalls solange keine anderen Umstände geltend
gemacht werden konnten, die nicht bereits von der Beratungsstelle X.________ im
Erlass- und im Wiedererwägungsgesuch vorgebracht worden waren. Nach den
überzeugenden Erwägungen der Vorinstanz vermögen die korrekte Deklaration der
Einkünfte aus der Dolmetschertätigkeit bei den den Steuern sowie die beweislos
gebliebene angebliche Auskunft eines Mitarbeiters der AHV-Zweigstelle der Stadt
St. Gallen, wonach dieses Einkommen der EL nicht gemeldet werden müsse, die
Beschwerdegegnerin in keiner Weise zu entlasten, sodass auch der gute Glaube
als Voraussetzung des Erlasses der Rückerstattungspflicht entfällt.

Andere als die bereits von der Beratungsstelle angeführten Umstände, die das
Verhalten der Beschwerdegegnerin lediglich als leicht fahrlässig erscheinen
liessen, was den guten Glauben nicht von vornherein ausschlösse (BGE 138 V 218
E. 4 S. 221 mit Hinweis), gab es nicht. In der Einsprache vom 21. Juni 2011
wurden denn auch keine solchen Gründe angeführt. Dass die Berechnung der
Ergänzungsleistungen für einen Laien nicht ohne weiteres verständlich ist, wie
festgehalten wurde, vermag die Beschwerdegegnerin nicht entscheidend zu
entlasten.

3.3 Aufgrund des Vorstehenden muss eine anwaltliche Vertretung als sachlich
nicht geboten bezeichnet werden, soweit die Einsprache gegen die Verfügung vom
27. Dezember 2010 nicht ohnehin aussichtslos war. Es besteht daher kein
Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung für das Einspracheverfahren.
Der anders lautende vorinstanzliche Entscheid verletzt Bundesrecht (Art. 95
lit. a BGG) und ist aufzuheben. Die Beschwerde ist begründet.

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 6. August 2012 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. November 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler