Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 626/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_626/2012

Urteil vom 15. April 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
H.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Gabriela Grob Hügli,
Beschwerdeführerin,

gegen

BVG-Sammelstiftung Swiss Life, General Guisan-Quai 40, 8002 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Berufliche Vorsorge,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversiche-rungsgerichts des Kantons
Zürich vom 31. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1962 geborene H.________ war (nach einer Arbeitsvermittlung durch die
IV-Stelle des Kantons Zürich) vom 1. Juni 2003 bis 31. Januar 2006 als
Betriebsassistentin bei der Firma X.________ AG angestellt und während dieser
Zeit bei der BVG-Sammelstiftung Swiss Life (nachfolgend: Sammelstiftung)
berufsvorsorgeversichert. Seit Februar 2006 bezieht sie eine ganze
Invalidenrente.
Unter Bezugnahme auf die ihr zugestellte Erwerbsunfähigkeitsmeldung vom 16.
Januar 2006 teilte die Sammelstiftung H.________ am 27. Februar 2006 mit, dass
sie eine Anzeigepflichtverletzung geltend mache und vom Vertrag zurücktrete.
Mit Schreiben vom 3. September 2006 präzisierte die Sammlstiftung, dass sie die
Versicherung wieder in Kraft setze, wegen der Anzeigepflichtverletzung
allerdings nur im obligatorischen Teil gemäss BVG. Rückwirkend ab 1. Juli 2006
richtete die Sammelstiftung H.________ eine Invalidenrente gemäss BVG von 100 %
(zuzüglich Kinderinvalidenrente) aus (Schreiben vom 29. Oktober 2007).

B.
Beschwerdeweise liess H.________ beantragen, die Sammelstiftung sei zu
verpflichten, ihr aus dem Vorsorgeverhältnis spätestens ab 1. Juli 2006 eine
Invalidenrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 100 % gemäss den
reglementarischen Bestimmungen auszurichten und auf den Invalidenleistungen
einen Verzugszins von 5 % spätestens ab dem Zeitpunkt der Klageeinreichung zu
bezahlen. Mit Entscheid vom 31. Mai 2012 wies das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich die Klage ab.

C.
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen.
Sie beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides und erneuert das vor
Vorinstanz gestellte Rechtsbegehren.
Die Sammelstiftung schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG).
Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem
Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.
Mit Bezug auf den hier einzig streitigen Rentenanspruch aus dem weitergehenden
Bereich der beruflichen Vorsorge hat das kantonale Gericht unter Hinweis auf
die Rechtsprechung (BGE 134 III 511 E. 3.1 S. 512) zutreffend dargelegt, dass
sich die Verletzung der Anzeigepflicht und deren Folgen nach den statutarischen
und den reglementarischen Bestimmungen der Vorsorgeeinrichtung und bei Fehlen
entsprechender Normen - wie hier der Fall - analogieweise nach Art. 4 ff. VVG
beurteilen. Darauf kann verwiesen werden.

3.
3.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin gegenüber
der Beschwerdegegnerin anlässlich der Anmeldung am 31. Mai 2003 eine
regelmässige Medikamenteneinnahe verneinte und aussagte, sie sei in den
vergangenen fünf Jahren wegen Rückenproblemen für mehr als drei Wochen
arbeitsunfähig gewesen. Im Rahmen der erweiterten Gesundheitsprüfung durch die
Beschwerdegegnerin (am 21. Juli 2003 unterzeichnet) gab sie des Weitern an,
dass sie im Jahr 1999 eine Operation wegen Krampfadern hatte und im Jahr 2000
die Gebärmutter entfernen liess. Die Beschwerdegegnerin nahm sie daraufhin
unter Vorbehalt der genannten Beschwerden in die überobligatorische
Versicherung auf (Schreiben vom 3. August 2004).

3.2 Das kantonale Gericht erwog, die Versicherte habe anlässlich der
Gesundheitsprüfung durch die Beschwerdegegnerin keine psychischen Beschwerden
angegeben und die Einnahme von Antidepressiva nicht erwähnt. Es gelangte zum
Ergebnis, dass die Versicherte damit ihre Anzeigepflicht verletzt habe und die
Sammelstiftung aus diesem Grunde zu Recht vom überobligatorischen Teil des
Vertrages zurückgetreten sei. Es stützte sich hierfür auf den Bericht des Dr.
med. S.________, Facharzt FMH Allgemeine Medizin, an die IV-Stelle vom 16.
November 2002, wonach die Versicherte an einer chronisch depressiven
Persönlichkeit, einem chronischen Zervikalsyndrom, Spannungskopfschmerz sowie
einer Periarthritis humeroscapularis leide und seit 17. September 2002
vollständig arbeitsunfähig sei, wobei ihr eine behinderungsangepasste Tätigkeit
ganztags zumutbar sei. Des Weitern stellte es auf die an die Sammelstiftung
gerichtete Mitteilung des Dr. med. S.________ vom 5. Februar 2006 ab, gemäss
welcher die Versicherte in den letzten fünf Jahren vor dem 1. Juni 2003 an
gesundheitlichen Problemen gelitten habe, welche zu einer Arbeitsunfähigkeit
von mehr als drei Wochen geführt hätten, nämlich an rheumatologischen
Beschwerden und einer depressiven Verstimmung; sie habe regelmässig Analgetika
und Antidepressiva eingenommen. Das kantonale Gericht hielt fest, es bestehe
kein Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln, zumal sie mit den Eintragungen in
der Krankengeschichte übereinstimmen würden.

3.3 Wie die Fragen der Sammelstiftung anlässlich der Anmeldung vom 31. Mai 2003
und anlässlich der erweiterten Gesundheitsprüfung vom 21. Juli 2003 sowie die
Antworten der Versicherten genau lauteten, lässt sich dem angefochtenen
Entscheid nicht entnehmen. Die vorinstanzlichen tatbeständlichen Feststellungen
sind insoweit unvollständig. Das Bundesgericht kann den diesbezüglichen,
entscheidwesentlichen Sachverhalt indessen ergänzen (Art. 105 Abs. 2 BGG).
3.3.1 Die hier interessierende erste Frage in der Anmeldung (verkürzt
wiedergegeben in der erweiterten Gesundheitsprüfung) lautete: "Hatten Sie in
den letzten 5 Jahren vor Versicherungsbeginn gesundheitliche Störungen, die zu
einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als 3 Wochen führten, oder haben Sie
gegenwärtig gesundheitliche Störungen? Wenn ja, welche?". Die Versicherte
beantwortete sie mit "ja" und wies auf ihre Rückenprobleme hin.
Diese Antwort ist, insbesondere auch mit Blick darauf, dass
rechtsprechungsgemäss (BGE 134 III 511 E. 5.2.2 S. 518 mit Hinweis auf E. 3.3.3
S. 514) der "subjektive Verständnishorizont" massgebend ist, nicht zu
beanstanden. Aus den Akten ergibt sich, dass die Versicherte im Zeitpunkt der
Anmeldung nicht unter psychischen Problemen litt und im massgebenden Zeitraum
nie wegen psychischer Beschwerden arbeitsunfähig war, weil diese sich stets nur
begleitend manifestierten. Daran vermag nichts zu ändern, dass Dr. med.
S.________ die Frage der Beschwerdegegnerin, ob die Versicherte in den letzten
fünf Jahren vor dem 1. Juni 2003 gesundheitliche Störungen hatte, die zu einer
Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Wochen führten, bejahte und neben den
rheumatologischen Beschwerden auch die depressive Stimmung erwähnte (Angaben
vom 5. Februar 2006). Denn diese Antwort des Dr. med. S.________ ist ungenau,
steht sie doch nicht einmal mit seinen eigenen, echtzeitlichen Akten im
Einklang. Zwar sprach Dr. med. S.________ in seinem Bericht an die IV-Stelle
vom 16. November 2002 von einer chronisch depressiven Persönlichkeit,
beurteilte aber gleichzeitig im Formular "Arbeitsbelastbarkeit" sämtliche
psychischen Funktionen als uneingeschränkt und empfahl eine Umschulung auf eine
körperlich leichte Tätigkeit. Hinzu kommt, dass Dr. med. S.________ in seinem
dem Bericht vom 5. Februar 2006 beiliegenden Schreiben vom 6. Februar 2006 die
vollständige Arbeitsunfähigkeit ausdrücklich mit den rheumatologischen
Beschwerden begründete, welche "wahrscheinlich durch eine allgemeine depressive
Verstimmung überlagert" seien. Insbesondere auch mit Blick darauf, dass es sich
hierbei um eine blosse Vermutung handelte, kann der Versicherten jedenfalls
nicht vorgeworfen werden, dass sie sich allein aus körperlichen Gründen für
teilweise arbeitsunfähig hielt. Selbst für den Mediziner war offenbar lange
nicht erkennbar, dass das Krankheitsbild zunehmend nicht mehr nur aus einer
physischen, sondern auch aus einer psychischen Komponente bestand. Dies gilt
umso mehr, als eine fachärztliche Behandlung wegen psychischer Beschwerden erst
im Oktober/November 2005 anlässlich des stationären Rehabilitationsaufenthaltes
in der Reha-Klinik X.________ eingeleitet wurde (vgl. zur Entwicklung des
psychischen Gesundheitszustandes: gutachterlicher Bericht des Dr. med.
A.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 13.
Februar 2007).
3.3.2 Was die Medikamenteneinnahme anbelangt, wurde die Versicherte anlässlich
der Anmeldung (die erweiterte Gesundheitsprüfung enthält dazu nichts) gefragt:
¨Nehmen Sie regelmässig Medikamente zu sich? Wenn ja, welche?". Die Versicherte
verneinte die Frage.
Der Vorwurf, die Versicherte hätte die psychopharmakologische Behandlung oder
wenigstens die über Jahre eingenommenen Medikamente angeben müssen, ist nicht
gerechtfertigt. Als Beweis für das Bestehen depressiver Probleme verwies die
Vorinstanz auf die Einträge in der Krankengeschichte vom 11. Juni 1999, 29. Mai
und 17. November 2000 sowie 6. Mai 2002 und als Beweis für die Einnahme von
Ponstan, Seropram und Lexotanil pauschal auf die Krankengeschichte act. 39/1-4.
Dabei scheint sie zu übersehen, dass die Versicherte nach der gegenwärtigen
regelmässigen Medikamenteneinnahme gefragt wurde ("Nehmen Sie regelmässig
Medikamente ein?"). Ende Mai 2003, als die Versicherte den Fragebogen
ausfüllte, lag die letzte Konsultation bei Dr. med. S.________ bereits
zweieinhalb Monate zurück und es wurden ihr damals - am 14. März 2003 - keine
Medikamente abgegeben. Medikamentenverschreibungen lassen sich hingegen den
Einträgen vom 24. Februar (vermutlich Ponstan und ein Rheumamedikament) und 16.
Januar 2003 (Ponstan, Dormicum und Seropram) entnehmen; eine Regelmässigkeit
ergibt sich aber auch daraus nicht. Selbst ein Blick zurück auf das Jahr 2002
vermittelt nur den Eindruck, dass sporadisch Antidepressiva, Schlaf- und
Schmerzmittel verschrieben wurden. Entgegen der Vorinstanz lässt sich aus den
Einträgen des Dr. med. S.________ in der Krankengeschichte der Versicherten
somit weder eine damals aktuelle (d.h. nicht weit zurückliegende) noch eine
regelmässige (d.h. nicht bloss sporadische) Medikamenteneinnahme herauslesen.
Die in grösseren zeitlichen Abständen und vor mehreren Monaten verschriebenen
Medikamente durfte die Versicherte in guten Treuen nicht erwähnen.

3.4 Kann der Versicherten nach dem Gesagten nicht vorgeworfen werden, sie habe
psychische Probleme und die Einnahme von Medikamenten verschwiegen, ist eine
Anzeigepflichtverletzung zu verneinen. Bei dieser Sachlage ist die
Beschwerdegegnerin zu Unrecht vom überobligatorischen Teil des Vertrages
zurückgetreten und kann die Beschwerdeführerin (neben den Leistungen aus dem
obligatorischen Bereich) auch Leistungen aus dem weitergehenden Bereich der
beruflichen Vorsorge beanspruchen. Sie hat demnach mit Wirkung ab 1. Juli 2006
zusätzlich zu den Invalidenleistungen aus der obligatorischen beruflichen
Vorsorge Anspruch auf Leistungen aus der weitergehenden Vorsorge (zuzüglich
Verzugszins ab Klageeinreichung).

4.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Des Weitern hat sie der
Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. In Aufhebung des Entscheides des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 31. Mai 2012 wird die Klage
gutgeheissen. Die Beschwerdeführerin hat ab 1. Juli 2006 Anspruch auf
Invalidenleistungen aus der weitergehenden beruflichen Vorsorge der
Beschwerdegegnerin, zuzüglich Zins zu 5 % ab Klageeinreichung.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. April 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann