Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 617/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_617/2012 {T 0/2}

Urteil vom 25. März 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Helfenstein.

Verfahrensbeteiligte
D.________,
vertreten durch Rechtsanwalt PD Dr. Peter Reetz,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 29. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1971 mit einer Torticollis congenita geborene D.________, gelernte
Papeteristin und nach einer Umschulung zur Büroangestellten als Sekretärin
tätig, zuletzt ab Oktober 2000 bis Ende Oktober 2005 bei der M.________ AG,
unterzog sich 1991 einer dorsalen Spondylodese (Wirbelsäulenversteifung) vom
vierten Brust- bis zum vierten Lendenwirbel sowie einer Acromioplastik wegen
Beschwerden der rechten Schulter im Juli 2005. Am 12. Dezember 2005 meldete sie
sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in
medizinischer und erwerblicher Hinsicht und durchgeführtem Vorbescheidverfahren
wies die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 4. Mai 2007 einen
Rentenanspruch ab. Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 31. Oktober
2008 gut und wies die Sache zu weiteren Abklärungen betreffend
Haltungsmuskulatur Hals/Schultern an die IV-Stelle zurück. Diese holte unter
anderem ein Gutachten des Dr. med. J.________, Facharzt für Orthopädische
Chirurgie vom 15. September 2009 ein und wies das Rentenbegehren mit Verfügung
vom 20. September 2010 erneut ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 29. Mai 2012 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt D.________
beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache zur
erneuten Sachverhaltsabklärung unter Würdigung sämtlicher Befunde an die
Vorinstanz, eventualiter an die IV-Stelle zurückzuweisen. Zudem ersucht sie um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG erhoben
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Immerhin prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur
die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). Es legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG).

1.2 Die vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand d.h. zur
Befunderhebung, zur gestützt darauf gestellten Diagnose, zur ärztlichen
Stellungnahme zum noch vorhandenen Leistungsvermögen oder (bei psychischen
Gesundheitsschäden) zur Verfügbarkeit von Ressourcen der versicherten Person
sowie zur aufgrund der medizinischen Untersuchungen gerichtlich festgestellten
Arbeits(un)fähigkeit sind grundsätzlich Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE
132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), die das Bundesgericht seiner Urteilsfindung
zugrunde zu legen hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und welche sich nach der
dargelegten Regelung der Kognition einer Überprüfung durch das Bundesgericht
weitgehend entziehen. Ebenfalls Tatfrage ist die konkrete Beweiswürdigung.
Dagegen sind die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfragen (BGE 132 V 393 E.
3.2 und 4 S. 397 ff.), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien
obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2
BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106
Abs. 1 BGG).
Der Verzicht der Vorinstanz auf weitere Abklärungen oder Rückweisung der Sache
an die IV-Stelle zu diesem Zwecke (antizipierte Beweiswürdigung; Urteil 9C_561/
2007 vom 11. März 2008 E. 5.2.1) im Besonderen verletzt etwa dann Bundesrecht,
wenn der festgestellte Sachverhalt unauflösbare Widersprüche enthält oder wenn
eine entscheidwesentliche Tatfrage, wie namentlich Gesundheitszustand und
Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person, auf unvollständiger Beweisgrundlage
beantwortet wird (Urteil 9C_617/2010 vom 10. Februar 2010 E. 3.1 mit
Hinweisen). Wird die Beurteilung der Zumutbarkeit von Arbeitsleistungen auf die
allgemeine Lebenserfahrung gestützt, geht es um eine Rechtsfrage (BGE 132 V 393
E. 3.2 S. 398). Schliesslich prüft das Bundesgericht die Rüge einer
willkürlichen Beweiswürdigung grundsätzlich nur, soweit sie in der Beschwerde
präzise vorgebracht und begründet wird. Auf bloss appellatorische Kritik an der
vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung tritt es nicht
ein (BGE 137 II 353 E. 5.1 S. 356; Urteil 9C_604/2012 vom 16. November 2012 E.
1.1 mit Hinweis).

2.
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Die Vorinstanz hat die
gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung entwickelten
Grundsätze zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG) und die
Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG [SR 830.1] in
Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG; BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348; 128 V 29 E. 1
S. 30; 104 V 135 E. 2a und b S. 136) sowie zur Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten
im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261) und zum
Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Die Vorinstanz stellte zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auf das
Gutachten des Dr. med. J.________ ab, welcher als Diagnose ein chronisches
zervikozephales Schmerzsyndrom rechtsbetont mit/bei ausgeprägter muskulärer
Dysbalance und Dekonditionierung bei Status nach dorsaler Spondylodese Th4 bis
L4 im November 1991 wegen idiopathischer thorakolumbaler Skoliose (ICD-10:
M41.2), Status nach Acromioplastik rechts im Juli 2005 und Verdacht auf
somatoforme Schmerzstörung aufführte und die Versicherte ab 1. November 2005 in
der angestammten Bürotätigkeit, zu der sie umgeschult worden war und die
deshalb als ideal angepasst qualifiziert wurde, zu 100% arbeitsfähig erachtete.

Während die Vorinstanz mit Urteil vom 31. Oktober 2008 die Sache noch zur
erneuten Abklärung an die IV-Stelle zurückgewiesen hatte, weil Dr. med.
S.________, Facharzt Orthopädische Chirurgie FMH in seinem Gutachten vom 17.
Mai 2006 die von Frau Dr. med. G.________, Fachärztin FMH für Innere Medizin,
Rheumatologie und Rehabilitation, erwähnte Problematik der insuffizienten
Haltemuskulatur nicht genügend berücksichtigt und im von ihm veranlassten
Röntgenbild der rechten Schulter das knapp 1 cm lange Knochenfragment übersehen
hatte, erachtete sie nunmehr den Sachverhalt hinreichend abgeklärt und das in
der Zwischenzeit eingeholte Gutachten des Dr. med. J.________ als voll
beweiskräftig. Sie erwog einlässlich, weshalb dieses durch die Berichte der
Dres. med. G.________, O.________, Facharzt FHM für Allgemeinmedizin und
E.________, Leitender Oberarzt Neurochirurgie der Klinik X.________,
insbesondere mit Blick auf die dort jeweils fehlende
Arbeitsfähigkeitseinschätzung nicht in Zweifel gezogen werden könne. Auch die
Berichte des Dr. med. R.________, Facharzt Orthopädische Chirurgie FMH und des
Dr. med. C.________, Chefarzt Orthopädie der Klinik X.________, welche
ausgehend vom gleichen medizinischen Sachverhalt der Versicherten eine
Arbeitsunfähigkeit attestierten, vermöchten das Gutachten des Dr. med.
J.________ nicht zu entkräften.

3.2 Die Beschwerdeführerin rügt zunächst eine Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes und macht dabei letztinstanzlich geltend, die
Vorinstanz habe wie die IV-Stelle im Rahmen der Diagnose der somatoformen
Schmerzstörung die Umstände, welche eine Schmerzbewältigung behindern, nicht
abklären lassen. Indes hatte das kantonale Gericht bereits im rückweisenden
Urteil vom 31. Oktober 2008 (E. 5.1-5.3) dargelegt, weshalb die Voraussetzungen
zur Annahme einer Unzumutbarkeit der willentlichen Schmerzüberwindung nicht
gegeben sind. Die Rückweisung erfolgte wegen Abklärungsbedarf der somatischen
Leiden, nicht aber wegen Fragen im Zusammenhang mit der Diagnose der
Schmerzstörung. Es erübrigt sich daher, weiter darauf einzugehen.

3.3 Die weiteren, Ausführungen erschöpfen sich letztlich in der Rüge der
offensichtlich unrichtigen Sachverhaltsfeststellung im Zusammenhang mit der
vorinstanzlichen Würdigung der Berichte der Dres. med. E.________ und
C.________. Sie sind jedoch, soweit sie über - im Rahmen von Art. 97 Abs 1 und
Art. 105 Abs 2 BGG unzureichende - appellatorische Kritik hinausgehen, nicht
stichhaltig:
3.3.1 Soweit die Beschwerdeführerin zunächst vorbringt, es stimme nicht, dass
sich Dr. med E.________ nicht zur Arbeitsfähigkeit geäussert habe, trifft es
zwar zu, dass dieser noch am 2. Oktober 2006 die Arbeitsunfähigkeit auf 100%
geschätzt hatte. Mit Schreiben vom 23. Februar 2009 hingegen hielt er - wie die
Vorinstanz zutreffend festgestellt hat - ausdrücklich fest, eine Beurteilung
der Arbeitsfähigkeit anlässlich der Konsultation vom 16. Dezember 2008, dessen
Bericht er beilege, sei nicht erfolgt, weshalb er die diesbezüglichen Fragen
nicht detailliert beantworten könne. Wenn das kantonale Gericht in Würdigung
dieser Umstände davon ausgeht, dass keine (aktuell massgebende)
Arbeitsfähigkeitsschätzung vorliegt, kann von einer qualifiziert unrichtigen
Sachverhaltsfeststellung nicht die Rede sein. Demgegenüber ist die
beschwerdeführerische Schlussfolgerung, bei einer erneuten Abklärung wäre Dr.
med. E.________ zum Ergebnis einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit gekommen,
spekulativ und jedenfalls nicht geeignet, den angefochtenen Entscheid deswegen
als bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen.
3.3.2 Im Weiteren hat die Vorinstanz beweiswürdigend ausgeführt, dass die von
Dr. med. C.________ attestierte Arbeitsunfähigkeit von 100% als Sekretärin auch
deshalb nicht nachvollziehbar ist, weil bei einer Tätigkeit als Sekretärin die
Arme regelmässig auf den Tisch gestützt werden können und somit nicht für
längere Zeit angehoben werden müssen. Die detaillierten arbeitsergonomischen
Ausführungen, wonach bei einer Sekretärin in richtiger Sitzhaltung die Arme
stets angehoben werden müssten, vermögen die Feststellungen und Würdigungen der
Vorinstanz keinesfalls als offensichtlich unrichtig zu qualifizieren. Der
Verweis auf die allgemeine Lebenserfahrung ist unbehelflich, ist doch
gerichtsnotorisch, dass es für die Arbeit an einem Schreibtisch oder weitere
Tätigkeiten einer Sekretärin, die auch als Telefonistin und am Empfang tätig
ist, verschiedene Varianten der Ausführung gibt, die nicht zuletzt von der
Arbeitsweise der jeweiligen Person abhängen und schliesslich bei entsprechenden
Beschwerden auch individuell angepasst werden können. Dazu ist die
Beschwerdeführerin im Rahmen der Schadenminderungspflicht auch gehalten.

3.4 Sodann ist eine Beweiswürdigung nicht schon dann willkürlich, wenn sie
nicht mit der Darstellung der Beschwerdeführerin übereinstimmt, sondern bloss,
wenn sie offensichtlich unhaltbar ist (BGE 135 II 356 E. 4.2.1; 129 I 8 E. 2.1
S. 9; 116 Ia 85 E. 2b). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das
Sachgericht offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise
übersieht oder solche grundlos ausser Acht lässt (vgl. BGE 129 I 8 E. 2.1; 120
Ia 31 E. 4b). Inwiefern die Beweiswürdigung willkürlich sein soll, ist in der
Beschwerde klar und detailliert aufzuzeigen (BGE 134 II 244 E. 2.2; 130 I 258
E. 1.3). Namentlich genügt es nicht, einzelne Beweise anzuführen, die anders
als im angefochtenen Entscheid gewichtet werden sollen, und dem Bundesgericht
in appellatorischer Kritik die eigene Auffassung zu unterbreiten, als ob diesem
freie Sachverhaltsprüfung zukäme (vgl. BGE 116 Ia 85 E. 2b). Der angefochtene
Entscheid, der sich auf die vom kantonalen Gericht vollständig dargestellte und
pflichtgemäss gewürdigte Beweislage stützt und die Schlussfolgerung einlässlich
begründet, ist nicht willkürlich. Von einer Verletzung der Begründungspflicht
(Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 126 I 97 E. 2b S. 102; 124 V 180 E. 1a S. 181; SVR 2001
IV Nr. 17 S. 49, I 582/99 E. 2a).

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin
grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege kann entsprochen werden, da die hierfür
erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 125
V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Dr. Peter Reetz wird als unentgeltlicher Anwalt der
Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.-
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 25. März 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Die Gerichtsschreiberin: Helfenstein