Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 603/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_603/2012

Urteil vom 18. März 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

F.________, vertreten durch
Rechtsanwältin Christa Rempfler,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 20. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1964 geborene F.________ war vom 1. September 2007 bis 30. April 2008 bei
der Firma W.________ AG angestellt. Am 7. November 2008 meldete sie sich unter
Hinweis auf eine Depression bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen traf Abklärungen in erwerblicher
Hinsicht und zog Berichte des Psychiaters Dr. med. K.________, Chefarzt der
Klinik X.________, vom 2. Juni 2009 sowie der Klinik Y.________, Fachklinik für
kardiale und psychosomatische Rehabilitation, vom 28. Mai 2008, wo die
Versicherte vom 27. März bis 16. April 2008 stationär behandelt worden war,
sowie der Psychiatrischen Klinik Z.________ vom 4. Januar 2010, wo sich
F.________ vom 8. November bis 4. Dezember 2009 aufgehalten hatte, bei. Der
Psychiater Dr. med. P.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD)
berichtete am 16. April 2010 über die am 3. März 2010 durchgeführte
fachärztliche Untersuchung der Versicherten. Mit Verfügung vom 5. November 2010
eröffnete die IV-Stelle F.________, sie habe ab 1. Dezember 2010 bei einem
Invaliditätsgrad von 48 % Anspruch auf eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung.

B.
F.________ liess beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Beschwerde
führen mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung der Verfügung vom 25. November
2010 sei ihr anstelle der Viertelsrente eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.
Die IV-Stelle beantragte, die Beschwerde sei abzuweisen mit der Feststellung,
dass die Versicherte keinen Invalidenrentenanspruch habe. Mit Entscheid vom 20.
Juli 2012 hiess das Versicherungsgericht die Beschwerde gut, hob die
angefochtene Verfügung auf und sprach F.________ rückwirkend ab 1. Mai 2009
eine halbe Invalidenrente zu.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei
festzustellen, dass die Versicherte keine Invalidenrente beanspruchen kann.
Ferner ersucht sie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung.
F.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, während das Bundesamt
für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2 Bei Folgerungen, die sich auf medizinische Empirie stützen, z.B. der
Vermutung, dass eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit zumutbarer
Willensanstrengung überwindbar sei, geht es um Rechtsfragen. Im Übrigen gilt in
diesem Zusammenhang Folgendes: Zu den vom Bundesgericht nur eingeschränkt
überprüfbaren Tatsachenfeststellungen zählt zunächst, ob eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung (oder ein damit vergleichbarer syndromaler Zustand)
vorliegt, und bejahendenfalls sodann, ob eine psychische Komorbidität oder
weitere Umstände gegeben sind, welche die Schmerzbewältigung behindern. Als
Rechtsfrage frei überprüfbar ist, ob eine festgestellte psychische Komorbidität
hinreichend erheblich ist und ob einzelne oder mehrere der festgestellten
weiteren Kriterien in genügender Intensität und Konstanz vorliegen, um
gesamthaft den Schluss auf eine nicht mit zumutbarer Willensanstrengung
überwindbare Schmerzstörung und somit auf eine invalidisierende
Gesundheitsschädigung zu gestatten (BGE 137 V 64 E. 1.2 S. 65 f.).

2.
2.1 Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass die
Beschwerdeführerin an einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung leidet.
Ebenso ist nach den Darlegungen des kantonalen Gerichts erstellt, dass eine
psychische Komorbidität gegeben ist und zusätzliche Umstände vorliegen, welche
die Schmerzbewältigung behindern.

2.2 Die Beschwerdeführerin wendet ein, es bestehe keine relevante psychische
Komorbidität. Aber selbst wenn eine solche mit der Vorinstanz zu bejahen sei,
fehle es aufgrund der Feststellungen im RAD-Bericht an der notwendigen Schwere,
Intensität, Ausprägung und Dauer der diagnostizierten mittelgradigen
depressiven Episode. Überdies seien die weiteren rechtsprechungsgemäss
relevanten Kriterien wie sozialer Rückzug oder Scheitern der konsequent
durchgeführten Behandlungen nicht hinreichend gehäuft und ausgeprägt erfüllt,
um insgesamt den Schluss auf eine invalidisierende Gesundheitsschädigung zu
gestatten.

3.
3.1 Die IV-Stelle hat von einer Begutachtung der Versicherten durch eine
externe Stelle abgesehen und statt dessen die Angelegenheit zur Stellungnahme
RAD-Arzt Dr. med. P.________ unterbreitet (vgl. zum Beweiswert von
RAD-Berichten BGE 135 V 254 E. 3.3 und 3.4 S. 257). Die Vorinstanz wiederum hat
zur Frage, ob eine psychische Komorbidität gegeben ist sowie zur Beurteilung
der Erheblichkeit einer allfälligen derartigen Krankheit ebenfalls zur
Hauptsache auf die ärztlichen Feststellungen, insbesondere des RAD-Psychiaters
Dr. med. P.________ im Bericht vom 16. April 2010, und des Dr. med. K.________
vom 10. März 2011 abgestellt. Aus dem Bericht des RAD-Arztes hat es
geschlossen, die diagnostizierte "Double Depression" stelle mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit einen verselbstständigten Gesundheitsschaden dar; eine
mitwirkende, psychisch ausgewiesene, erhebliche Komorbidität im Sinne der
Rechtsprechung sei damit gegeben. Nähere Aussagen zur vorinstanzlich bejahten
Erheblichkeit der Komorbidität lassen sich den Erwägungen des angefochtenen
Entscheides jedoch nicht entnehmen. Richtig ist, dass bereits gemäss Diagnose
der Klinik Y.________ vom 28. Mai 2008 bei der Versicherten Angst und
depressive Störung gemischt vorlagen. Ein Jahr später, am 2. Juni 2009,
diagnostizierte Dr. med. K.________ eine mittelgradige depressive Episode sowie
eine generalisierte Angststörung, und in der Klinik Z.________ wurde am 4.
Januar 2010 nebst einer generalisierten Angststörung eine rezidivierende
depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, erkannt. Die
mittelgradige Depression beeinträchtigte den Gesundheitszustand der
Beschwerdegegnerin demnach durchgehend während mindestens dreier Jahre, womit
das Kriterium der Dauer der Komorbidität, nicht aber deren Erheblichkeit,
erfüllt ist. Wie es sich mit der von der Rechtsprechung geforderten Intensität
und der Schwere des selbstständigen Gesundheitsschadens verhält, vermag
RAD-Psychiater Dr. med. P.________ nicht darzulegen. Es wäre jedoch Aufgabe des
Gutachters, durch die zur Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten
fachkundiger Exploration der Verwaltung (oder im Streitfall dem Gericht)
aufzuzeigen, ob und inwiefern die versicherte Person über psychische Ressourcen
verfügt, die es ihr erlauben, mit ihren Schmerzen umzugehen (BGE 130 V 352 E.
2.2.4 S. 355). Diese Anforderungen erfüllt der Bericht des RAD-Arztes nicht. So
äussert sich Dr. P.________ nicht substanziiert zur Erheblichkeit der psychisch
ausgewiesenen Komorbidität, welche nebst der Dauer auch eine erhebliche
Schwere, Intensität und Ausprägung voraussetzt (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 353
f.). Der erforderlichen Klarheit entbehren sodann auch die Ausführungen des
RAD-Arztes zum Verhältnis zwischen psychischer Komorbidität und Überwindbarkeit
der somatoformen Schmerzstörung. Der Bericht des Dr. med. P.________ erlaubt
demnach keine Beantwortung der sich hier stellenden Fragen. Die Vorinstanz
hätte bei dieser unzulänglichen Sachverhaltsermittlung durch die Verwaltung
zusätzliche Beweisvorkehren treffen müssen. Somit hat sie den rechtserheblichen
Sachverhalt unvollständig und damit offensichtlich unrichtig (Art. 105 Abs. 2
BGG) festgestellt, weshalb das Bundesgericht nicht daran gebunden ist.

3.2 Mit Blick auf die unterbliebene Abklärung des vollständigen medizinischen
Sachverhalts, der nicht nur psychische Aspekte, sondern auch mannigfaltige
Beschwerden umfasst, welche sich als somatische Leiden, beispielsweise im
urogenitalen Bereich mit sehr häufigem Harndrang, präsentieren, ist es geboten,
eine polydisziplinäre Expertise durch eine medizinische Abklärungsstelle der
Invalidenversicherung (MEDAS) anzuordnen (siehe dazu BGE 137 V 210), welche
nebst der psychischen Situation auch die somatischen Aspekte des
Krankheitsbildes prüft. Zu diesem Zweck wird die Sache an die Vorinstanz
zurückgewiesen. Gestützt auf die Erkenntnisse der Gutachter wird das
Versicherungsgericht über den Anspruch der Beschwerdegegnerin auf eine
Invalidenrente neu entscheiden. Im Falle einer in Aussicht genommenen
reformatio in peius hätte die Vorinstanz der Versicherten Gelegenheit
einzuräumen, ihre Beschwerde zurückzuziehen, um den ihr drohenden
Rechtsnachteil zu vermeiden (BGE 109 V 278).

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG), die auch keine
Parteientschädigung vor Bundesgericht beanspruchen kann (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20. Juli 2012 wird aufgehoben.
Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. März 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Widmer