Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 597/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_597/2012

Urteil vom 21. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

L.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 23. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Einspracheentscheid vom 21. Juni 2005 lehnte die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen in Bestätigung einer Verfügung vom 16. März 2005 den Anspruch des 1960
geborenen L.________ auf eine Invalidenrente ab. Mit Schreiben vom 5. März 2007
ersuchte der Versicherte um eine neue Prüfung der Rentenfrage, weil sich sein
Gesundheitszustand verschlechtert habe. Die IV-Stelle traf umfangreiche
Abklärungen. U.a. holte sie ein Verlaufsgutachten des medizinischen
Abklärungsinstituts X.________ vom 12. Februar 2008 ein, welches L.________
bereits früher fachärztlich untersucht hatte (Expertise vom 4. März 2005). Ein
weiteres polydisziplinäres Verlaufsgutachten erstattete das medizinische
Abklärungsinstitut X.________ am 1. März 2010, ergänzt am 22. März 2010. Mit
Verfügung vom 15. Juli 2010 lehnte die IV-Stelle das Invalidenrentengesuch
wiederum ab.

B.
In teilweiser Gutheissung der von L.________ eingereichten Beschwerde hob das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Verfügung der IV-Stelle vom 15.
Juli 2010 auf und sprach dem Versicherten mit Wirkung ab 1. Dezember 2007 eine
Viertelsrente der Invalidenversicherung zu (Entscheid vom 23. Juli 2012).

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. Ferner ersucht sie
darum, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Während sich L.________ nicht vernehmen lässt, verzichtet das Bundesamt für
Sozialversicherungen auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Streitig ist, ob der Beschwerdegegner Anspruch auf eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung hat. Das Versicherungsgericht ging davon aus, der
Versicherte sei aus psychischen Gründen in einer angepassten Tätigkeit nur zu
80 % einsatzfähig, und gelangte gestützt auf einen Einkommensvergleich zum
Schluss, dass der Rentenanspruch ausgewiesen sei. Demgegenüber vertritt die
IV-Stelle in ihrer Beschwerde die Auffassung, die diagnostizierte somatoforme
Schmerzstörung vermöge keine lang dauernde Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
zu bewirken. Mangels Arbeitsunfähigkeit entfalle ein Invalidenrentenanspruch.

2.
Das Vorliegen eines fachärztlich ausgewiesenen psychischen Leidens mit
Krankheitswert - worunter anhaltende somatoforme Schmerzstörungen grundsätzlich
fallen - ist aus rechtlicher Sicht wohl Voraussetzung, nicht aber hinreichende
Basis für die Annahme einer invalidisierenden Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit (Urteil S. vom 17. Februar 2003 [I 667/01] E. 3; Ulrich
Meyer-Blaser, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung in
der Sozialversicherung, namentlich für den Einkommensvergleich in der
Invaliditätsbemessung, in: RENÉ SCHAFFHAUSER/FRANZ SCHLAURI [Hrsg.], Schmerz
und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen 2003, S. 64 f. mit Anm. 93). Namentlich
vermag nach der Rechtsprechung eine diagnostizierte anhaltende somatoforme
Schmerzstörung als solche in der Regel keine langdauernde, zu einer Invalidität
führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu
bewirken (hierzu eingehend Meyer-Blaser, a.a.O., S. 76 ff., insb. S. 81 f.).
Ein Abweichen von diesem Grundsatz fällt nur in jenen Fällen in Betracht, in
denen die festgestellte somatoforme Schmerzstörung nach Einschätzung des Arztes
eine derartige Schwere aufweist, dass der versicherten Person die Verwertung
ihrer verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bei objektiver
Betrachtung - und unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit,
die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind (vgl. AHI 2002 S. 150 E.
2b; Urteile A. vom 24. Mai 2002 [I 518/01] E. 3b/bb und R. vom 2. Dezember 2002
[I 53/02] E. 2.2; siehe auch Meyer-Blaser, a.a.O., S. 83, 87 f.), -
sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder dies für die Gesellschaft gar
untragbar ist (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 E. 2b mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 127 V 298 E. 4c in fine; hinsichtlich somatoformer Störungen siehe insb.
Urteile R. vom 2. Dezember 2002 [I 53/02] E. 2.2, Y. vom 5. Juni 2001 [I 266/
00] E. 1c, S. vom 2. März 2001 [I 650/99] E. 2c, B. vom 8. Februar 2001 [I 529/
00] E. 3c und A. vom 19. Oktober 2000 [I 410/00] E. 2b).
Die - nur in Ausnahmefällen anzunehmende - Unzumutbarkeit einer willentlichen
Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess setzt
jedenfalls das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen
Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder
aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und
Konstanz erfüllter Kriterien voraus. So sprechen unter Umständen (1) chronische
körperliche Begleiterkrankungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf bei
unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, (2)
ein ausgewiesener sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens, (3) ein
verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer
an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer
Krankheitsgewinn ["Flucht in die Krankheit"]; vgl. zum sekundären
Krankheitsgewinn hinten E. 3.3.2) oder schliesslich (4) unbefriedigende
Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder
stationärer Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem
Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation
und Eigenanstrengung der versicherten Person für die ausnahmsweise
Unüberwindlichkeit der somatoformen Schmerzstörung (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S.
353 ff.).
Ob eine festgestellte psychische Komorbidität hinreichend erheblich ist und ob
einzelne oder mehrere der festgestellten weiteren Kriterien in genügender
Intensität und Konstanz vorliegen, um gesamthaft den Schluss auf eine nicht mit
zumutbarer Willensanstrengung überwindbare Schmerzstörung und somit auf eine
invalidisierende Gesundheitsschädigung zu gestatten, ist als Rechtsfrage frei
überprüfbar (BGE 137 V 64 E. 1.2 S. 65 f.).

3.
Gemäss Feststellungen im vorinstanzlichen Entscheid wurden im neuesten
Gutachten des medizinischen Abklärungsinstituts X.________ vom 1. März 2010 aus
somatischer Sicht keine Befunde erhoben, welche die Arbeitsfähigkeit tangieren.
Aus psychiatrischer Sicht wurde im Rahmen einer rezidivierenden depressiven
Störung eine gegenwärtig leichte Episode festgestellt. Daneben diagnostizierten
die Experten weiterhin eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bei somatisch
nicht oder nicht ausreichend erklärbaren Befunden für die subjektiv
vorgetragenen Beschwerden und gleichzeitig vorhandener psychosozialer
Belastungssituation. Aus psychiatrischer Sicht sei die Arbeitsfähigkeit um 20 %
eingeschränkt.

4.
4.1 Während die Vorinstanz zum Schluss gelangt ist, dass der Beschwerdegegner
auch bei Aufwendung aller zumutbaren Willensenergie nicht in der Lage sei, zu
mehr als 80 % eine Erwerbstätigkeit auszuüben, macht die IV-Stelle gestützt auf
die vorstehend wiedergegebenen Beurteilungskriterien für somatoforme
Schmerzstörungen (E. 1 hievor) geltend, eine leichte depressive Störung stelle
keine schwere Komorbidität im Rechtssinne dar. Zudem seien die weiteren
Kriterien nicht in einem Mass erfüllt, welches die Annahme einer psychisch
bedingten Arbeitsunfähigkeit und der Unzumutbarkeit des vollen Wiedereinstiegs
des Versicherten in den Arbeitsprozess ausnahmsweise zu rechtfertigen
vermöchte.

4.2 Dieser Auffassung ist beizupflichten. Wie das Bundesgericht wiederholt
dargelegt hat, stellt eine leichte depressive Störung, wie sie im vorliegenden
Fall diagnostiziert wurde, keine Komorbidität im Sinne der Rechtsprechung dar
(SVR 2012 IV Nr. 1 S. 1, 9C_1040/2010; vgl. auch Urteil 9C_210/2012 vom 9. Juli
2012). Soweit von einem Scheitern aller therapeutischen Bemühungen gesprochen
werden kann, hängt dies laut Expertise des medizinischen Abklärungsinstituts
X.________ vom 1. März 2010 damit zusammen, dass der Versicherte aufgrund der
ausgeprägten Krankheitsüberzeugung wenig Motivation zeige, trotz allfälliger
Restbeschwerden sich aktiv um seine Genesung zu bemühen und sich den
Belastungen der Arbeitswelt wieder auszusetzen. Schliesslich liegt laut dem
nämlichen Gutachten auch kein ausgeprägter sozialer Rückzug vor. Anhaltspunkte
dafür, dass die übrigen massgebenden Kriterien erfüllt sein könnten, finden
sich nicht. In einer leidensangepassten Erwerbstätigkeit ist somit entsprechend
den Vorbringen der Beschwerdeführerin auch mit Rücksicht auf den psychischen
Gesundheitszustand des Versicherten mangels invalidisierenden Charakters der
Schmerzstörung von voller Arbeitsfähigkeit auszugehen.

4.3 Bei voller Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit resultiert
selbst bei einem Abzug von 10 % vom Tabellenlohn, wie ihn die Vorinstanz
vorgenommen hat, kein rentenbegründender Invaliditätsgrad von mindestens 40 %
(Art. 28 Abs. 2 IVG). Ob ein Abzug von dem als Invalideneinkommen
herangezogenen Tabellenlohn gerechtfertigt ist, kann daher dahingestellt
bleiben. Da sich der Invaliditätsgrad seit der erstmaligen Ablehnung des
Rentengesuchs am 21. Juni 2005 nicht in einer für den Rentenanspruch
erheblichen Weise geändert hat (vgl. Art. 87 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 87
Abs. 3 IVV), verletzt die vorinstanzliche Zusprechung einer Viertelsrente der
Invalidenversicherung ab 1. Dezember 2007 Bundesrecht.

4.4 Mit dem Urteil in der Sache selbst wird das im Übrigen ohne jegliche
Begründung gestellte Gesuch der IV-Stelle, der Beschwerde die aufschiebende
Wirkung zu erteilen, gegenstandslos.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 23. Juli 2012 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. November 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer