Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 576/2012
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_576/2012

Urteil vom 17. Dezember 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Meyer, Präsident,
Bundesrichterin Pfiffner Rauber
Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Marc Tomaschett, Beschwerdeführer,

gegen

Diverse Krankenversicherer
alle handelnd durch
santésuisse Graubünden,
Lukmanierstrasse 11A, 7000 Chr
und dieser vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Vincent Augustin,
Beschwerdegegnerinnen.

Gegenstand
Krankenversicherung
(Wirtschaftlichkeit der Behandlung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Schieds-
gerichts Graubünden nach Eidgenössischem Sozialversicherungsrecht vom 4. Juni
2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Entscheid vom 8. Juli 2010 hiess das Schiedsgericht Graubünden nach
Eidgenössischem Sozialversicherungsrecht die Klage verschiedener
Krankenversicherer gegen Dr. med. A.________ gut und verpflichtete diesen, für
das Jahr ........ den Betrag von Fr. 69'082.50 zurückzuerstatten. Mit Urteil
9C_732/2010 vom 7. April 2011 hiess das Bundesgericht die dagegen erhobene
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten in dem Sinne gut, dass es
das angefochtene Erkenntnis aufhob und die Sache an die Vorinstanz zurückwies,
damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Klage neu entscheide.

B.
Mit Entscheid vom 4. Juni 2012 hiess das Schiedsgericht Graubünden nach
Eidgenössischem Sozialversicherungsrecht die Klage teilweise gut und
verpflichtete A.________ zur Bezahlung von Fr. 47'469.90.

C.
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der Entscheid vom 4. Juni 2012 sei aufzuheben und die Klage
abzuweisen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Die Krankenversicherer, vertreten durch santésuisse, Die Schweizer
Krankenversicherer, diese handelnd durch die Geschäftsstelle santésuisse
Graubünden, und das kantonale Schiedsgericht beantragen, die Beschwerde sei
abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

In einer weiteren Eingabe hat sich A.________ zur Sache geäussert.

Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 56 KVG muss sich der Leistungserbringer in seinen Leistungen auf
das Mass beschränken, das im Interesse der Versicherten liegt und für den
Behandlungszweck erforderlich ist (Abs. 1). Für Leistungen, die über dieses
Mass hinausgehen, kann die Vergütung verweigert werden. Eine nach diesem Gesetz
dem Leistungserbringer zu Unrecht bezahlte Vergütung kann zurückgefordert
werden (Abs. 2).

2.
Die Vorinstanz hat die Wirtschaftlichkeit der Praxistätigkeit des
Beschwerdeführers im ........ in Anwendung der statistischen Methode
(Durchschnittskostenvergleich; vgl. BGE 136 V 415 E. 6.2 S. 416 f. mit
Hinweisen) geprüft. Dabei ist sie von einem Index der gesamten Kosten (Fr.
890'305.-) von 140 Punkten, einem Index der direkten Kosten (Fr. 728'935.-) von
159 Punkten, einem Index der direkten Arztkosten von 193 Punkten und der
direkten Medikamentenkosten von 116 Punkten sowie von einem Index der
veranlassten Kosten von 91 Punkten ausgegangen. Vergleichsgruppe bildete die
vom Beklagten in seiner Eingabe vom 24. Juni 2011 getroffene Auswahl von zehn
("vielleicht" miteinander vergleichbaren) Ärztinnen und Ärzten aus den von den
Krankenversicherern bestimmten 25 im Kanton Graubünden tätigen Ärztinnen und
Ärzten aus der Gruppe "Praktische Arzt/Ärztin". Den Rückerstattungsbetrag hat
das Schiedsgericht bezogen auf den Gesamtkostenindex berechnet, d.h. nach der
Differenz zwischen den gesamten Kosten von Fr. 890'305.- (140 Indexpunkte) und
den Kosten von Fr. 826'711.80 (130 Indexpunkte [Toleranzwert]). Vom so
erhaltenen Betrag von Fr. 63'593.20 hat es einen von den Krankenversicherern
implizit anerkannten Abzug von 25 % für den hohen Ausländeranteil am
Patientengut vorgenommen, was die Summe von Fr. 47'469.90 ergab.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer bestreitet nicht die Anwendung der statistischen
Methode zur Prüfung des Vorwurfs unwirtschaftlicher Behandlung. Gleichzeitig
bringt er vor, die Gruppe von 25 Ärzten bilde kein Vergleichskollektiv und eine
neue Gruppe dürfe und könne nicht mehr gebildet werden. Indem die Vorinstanz
die von ihm "vielleicht" bzw. "im besten Fall" als miteinander vergleichbar
bezeichneten zehn Ärztinnen und Ärzte als neue Vergleichsgruppe heranziehe,
habe sie in bundesrechtswidriger Weise die Klagegrundlagen geändert. Diese
Argumentation verkennt, dass die im konkreten Fall anwendbare Methode der
Wirtschaftlichkeitsprüfung, die statistische, die analytische oder eine
Kombination von beiden (BGE 119 V 448 E. 4d S. 454; SVR 2012 KV Nr. 12 S. 43,
9C_260/2010 E. 4.2), eine Frage des Beweises und damit Gegenstand des
(schiedsgerichtlichen) Beweisverfahrens ist (BGE 99 V 193 E. 3 S. 199). Dies
betrifft auch etwa die Frage, ob beim Durchschnittskostenvergleich die
Vergleichsgruppe zu modifizieren, allenfalls enger oder weiter zu fassen ist
(RKUV 2003 Nr. KV 250 S. 216, K 9/00 E. 2.2.2). Die Vorinstanz durfte daher aus
der Gruppe der 25 Ärzte, welche die Krankenversicherer zum Vergleich
heranziehen wollten, eine neue Vergleichsgruppe bilden, wenn sie der
Überzeugung war, dass jene grössere den von der Rechtsprechung formulierten
Anforderungen betreffend Mindestgrösse, Homogenität, geografischen
Tätigkeitsbereich und Krankengut (BGE 137 V 43 E. 2.2 S. 45; SVR 2012 KV Nr. 12
S. 43, 9C_260/2010 E. 4.3; RKUV 1988 Nr. K 761 S. 92, K 97/85) nicht genügte.

Die in der vorinstanzlichen Eingabe vom 24. Juni 2011 als "vielleicht" oder "im
besten Fall" vergleichbar bezeichneten zehn bzw. ohne Beschwerdeführer neun
Ärztinnen und Ärzte sind wie er selber Hausärzte ohne FMH-Titel für
Allgemeinmedizin. Den in der weiteren Eingabe vom 31. August 2011 sinngemäss
vorgebrachten Einwand, die drei Ärzte in der Mesolcina (Misox) gehörten nicht
dem gleichen geografischen Tätigkeitsbereich an - das Tal sei dem Tessin
zuzuordnen - und müssten daher ausser Acht bleiben, hat die Vorinstanz als
nicht stichhaltig erachtet im Wesentlichen mit der Begründung, der Beklagte
könne nicht darlegen, inwiefern sich dieser Umstand zu seinem Nachteil konkret
auswirke. Vor Bundesgericht bringt dieser vor, die Ärzte aus der Mesolcina
orientierten sich mehrheitlich, nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen bei
Überweisungen an Spezialisten nach dem Kanton Tessin. Die bestehenden
Mentalitätsunterschiede zögen auch Behandlungsunterschiede nach sich, weshalb
die Vergleichbarkeit mit den übrigen Ärzten in Graubünden nicht ohne weiteres
gegeben sei. Diese Vorbringen sind indessen zu wenig substanziiert, um den
Einbezug der drei Ärzte aus dem Misox in die Vergleichsgruppe als
offensichtlich unrichtig oder sonst wie bundesrechtswidrig erscheinen zu
lassen.

3.2 Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, ........ sei er das zweite Jahr am
jetzigen Standort tätig gewesen. Nach Treu und Glauben (Recht auf eine
Vorwarnung bzw. eine Reaktionszeit) sei die kurze Praxistätigkeit als eine die
übliche Toleranzgrenze von 120 bis 130 Indexpunkten (SVR 2011 KV Nr. 15 S. 57,
9C_732/2010 E. 3.2 mit Hinweisen) erhöhende Besonderheit anzuerkennen. Die nach
wie vor geltende Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts, auf die er
sich in diesem Zusammenhang beruft, betrifft indessen gerade Sachverhalte
langjähriger Praxistätigkeit (vgl. KSK aktuell 1996 S. 146, K 57/95 E. 4 und
RKUV 1988 Nr. K 761 S. 92, K 97/85). Im Übrigen bestreitet der Beschwerdeführer
zu Recht nicht, dass eine kurze Praxistätigkeit für sich allein genommen keine
Ausweitung des Toleranzbereichs rechtfertigt (SVR 2011 KV Nr. 15 S. 57, 9C_732/
2010 E. 4.2 mit Hinweis). Der Umstand, dass das Durchschnittsalter der
Patienten von 56,9 Jahre (2003) auf 51,6 Jahre (2004) sank, stellt bei einem
Durchschnittsalter in der Vergleichsgruppe von 47,53 Jahren in diesem Jahr
keine Praxisbesonderheit dar, die einen höheren Toleranzwert als 130
Indexpunkte rechtfertigen könnte. Dass "ein neuer Arzt im Ort angekommen war",
mag teilweise erklären, weshalb vermehrt jüngere Patienten den Beschwerdeführer
konsultierten und sich von ihm hausärztlich behandeln liessen. Inwiefern
dadurch - bei gemäss Beschwerdeführer im Wesentlichen gleich gebliebener Anzahl
Patienten - insgesamt ein diagnostischer und therapeutischer Mehraufwand
notwendig geworden sein soll, ist nicht einsehbar. In diesem Zusammenhang ist
zu beachten, dass es bei der statistischen Methode um die Durchschnittskosten
pro Patient geht.

3.3 Im ersten Entscheid vom 8. Juli 2010 sodann hatte die Vorinstanz dargelegt,
weshalb keine Praxisbesonderheiten bestünden, die einen Zuschlag zum
Toleranzwert rechtfertigten (vgl. SVR 2005 KV Nr. 4 S. 13, K 150/03 E. 6.3
[nicht publ. in: BGE 130 V 377]; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts K 148/
04 vom 2. Dezember 2005 E. 3.3.2 und K 9/99 vom 29. Juni 2001 E. 6c). Das
Bundesgericht hat im Urteil 9C_732/2010 vom 7. April 2011 die dagegen
vorgebrachten Einwendungen als nicht stichhaltig erachtet. Der Beschwerdeführer
vermag auch in Bezug auf die neue, enger gefasste Vergleichsgruppe (vorne E. 2
und 3.1) keine Besonderheiten seiner Praxistätigkeit darzutun, die für einen
Toleranzwert von mehr als 130 Indexpunkten sprechen würden. Insbesondere
beruhen seine Vorbringen betreffend das überdurchschnittliche Alter der von ihm
........ behandelten Patienten auf der unzutreffenden Annahme eines
Durchschnittsalters der Vergleichsgruppe von 45,6 Jahren. Das mittlere Alter
der von der Vorinstanz herangezogenen zehn Ärzte aus der Gruppe "Praktische
Arzt/ Ärztin" betrug 47,53 Jahre, lag somit lediglich vier Jahre unter
demjenigen seiner eigenen Patienten (vgl. E. 3.2). Dem hohen Ausländeranteil
sodann hat die Vorinstanz mit einer Kürzung des Rückforderungsbetrages bzw. der
Differenz zwischen den gesamten Kosten und den Kosten bei tolerierten 130
Indexpunkten Rechnung getragen (vorne E. 2). Der Beschwerdeführer vermag nicht
substanziiert darzutun, inwiefern dies - im Ergebnis - bundesrechtswidrig zu
wenig sein soll.

Aufgrund des Vorstehenden ist die Beschwerde in Bezug auf die Frage der
Begründetheit der Forderung in der Höhe von Fr. 47'469.90 wegen
unwirtschaftlicher Behandlung für 2004 unbegründet.

4.
4.1 Die Vorinstanz hat die vom Rechtsvertreter des Beklagten eingereichte
Kostennote u.a. um den anwaltlichen Aufwand für das Sühneverfahren vor der
Kantonalen Paritätischen Vertrauenskommission gekürzt. Der Beschwerdeführer
rügt, dies widerspreche dem einschlägigen Art. 78 Abs. 1 des bündnerischen
Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 31. August 2006 (VRG; BR
370.100). Gemäss dieser Bestimmung wird im Klageverfahren die unterliegende
Partei in der Regel verpflichtet, der obsiegenden Partei die durch den
Rechtsstreit verursachten notwendigen Kosten zu ersetzen.

4.2 Ob die Festsetzung der Parteientschädigung für das vorinstanzliche
Verfahren Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), kann lediglich unter
eingeschränktem Blickwinkel geprüft werden. Die Anwendung kantonalen Rechts
muss zu einer in der Beschwerde substanziiert gerügten (Art. 106 Abs. 2 BGG)
Verfassungsverletzung führen, wegen seiner Ausgestaltung oder aufgrund des
Ergebnisses im konkreten Fall. Dabei fällt praktisch nur das Willkürverbot in
Betracht (Art. 9 BV; vgl. Urteil 9C_933/2011 vom 14. Februar 2012 E. 3.2 mit
Hinweisen). Mit dem blossen Einwand, die Kürzung widerspreche Art. 78 Abs. 1
VRG kommt der Beschwerdeführer seiner qualifizierten Rügepflicht nach Art. 106
Abs. 2 BGG klarerweise nicht nach. Die Beschwerde ist daher auch in diesem
Punkt unbegründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Schiedsgericht Graubünden nach
Eidgenössischem Sozialversicherungsrecht und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. Dezember 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler