Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 562/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_562/2012

Urteil vom 18. Oktober 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Galligani,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 31. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
S.________ verletzte sich am ... November 2007 bei der Arbeit am Handgelenk
links (radiale, nach dorsal dislozierte, mehrfragmentäre Radiusfraktur). Die
obligatorische Unfallversicherung erbrachte die gesetzlichen Leistungen
(Heilbehandlung, Taggeld, Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung). Im
Juli 2008 meldete sich S.________ bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und durchgeführtem Vorbescheidverfahren
sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom 6. September 2011
eine befristete ganze Rente vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2010 zu.

B.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der S.________ änderte das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 31. Mai 2012 die
Verfügung vom 4. März 2010 (recte: 6. September 2011) ab und sprach ihr für den
Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis 30. September 2010 eine ganze Invalidenrente
zu.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt S.________,
der Entscheid vom 31. Mai 2012 sei aufzuheben und sie bereits ab dem 1.
November 2008 bis 30. September 2010 zu berenten, unter Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.
Die IV-Stelle und das kantonale Versicherungsgericht verzichten auf eine
Stellungnahme und einen Antrag zur Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Beschwerdeführerin ab 1. November
2008 wie von der IV-Stelle verfügt, oder erst ab 1. Januar 2009 wie von der
Vorinstanz entschieden, Anspruch auf eine bis Ende September 2010 befristete
ganze Rente hat (Art. 107 Abs. 1 BGG). Dabei steht fest, dass sich die
Versicherte im Juli 2008 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
angemeldet hatte und die einjährige Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG
(in Kraft seit 1. Januar 2008) bzw. alt Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG (in Kraft
gestanden bis 31. Dezember 2007) am 1. November 2007 (Unfallzeitpunkt) zu
laufen begann und am 31. Oktober 2008 endete.

2.
2.1 Die Regelung der Entstehung des Rentenanspruchs und des Rentenbeginns haben
im Rahmen der 5. IV-Revision gemäss Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 (AS 2007
5129 ff.) eine Änderung erfahren:
2.1.1 Bis 31. Dezember 2007 galt Folgendes: Der Rentenanspruch nach Artikel 28
entsteht frühestens in dem Zeitpunkt, in dem der Versicherte u.a. während eines
Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 Prozent
arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen war. Die Rente wird vom Beginn des Monats
ausgerichtet, in dem der Anspruch entsteht, jedoch frühestens von jenem Monat
an, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt (Art. 29 Abs. 1 lit. b
und Abs. 2 Satz 1). Meldet sich ein Versicherter mehr als zwölf Monate nach
Entstehen des Anspruchs an, so werden die Leistungen in Abweichung von Artikel
24 Absatz 1 ATSG lediglich für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate
ausgerichtet (Art. 48 Abs. 2 Satz 1 IVG).
2.1.2 Seit 1. Januar 2008 gilt demgegenüber: Anspruch auf eine Rente haben
Versicherte, die u.a. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch
durchschnittlich mindestens zu 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen
sind (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG). Der Rentenanspruch entsteht frühestens nach
Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach
Artikel 29 Absatz 1 ATSG, jedoch frühestens im Monat, der auf die Vollendung
des 18. Altersjahres folgt. Die Rente wird vom Beginn des Monats an ausbezahlt,
in dem der Rentenanspruch entsteht (Art. 29 Abs. 1 und 3 IVG).

2.2 Gemäss der bis 31. Dezember 2007 in Kraft gestandenen Regelung wäre der
Anspruch der Beschwerdeführerin auf die (befristete) ganze Rente am 1. November
2008 (erster Tag nach Ablauf der Wartezeit; vgl. Rz. 2025 des Kreisschreibens
über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH, gültig
ab 1. Januar 2012]) entstanden und wären ab diesem Zeitpunkt Leistungen
auszurichten. Nach der seit 1. Januar 2008 geltenden Ordnung ist der Anspruch
im Januar 2009 (sechs Monate nach der Anmeldung bei der Invalidenversicherung)
entstanden, und ab diesem Monat sind Leistungen geschuldet.

3.
Für die Auffassung der Vorinstanz (Anwendbarkeit von Art. 29 Abs. 1 IVG auch
dann, wenn die einjährige Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG bzw. alt
Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG vor dem 1. Januar 2008 begann und in diesem Zeitpunkt
noch nicht abgelaufen war) spricht, dass früher wie heute das
Wartezeiterfordernis eine Anspruchsvoraussetzung ist. Dementsprechend gilt die
Invalidität bzw. der Versicherungsfall Invalidenrente erst mit der Entstehung
des Rentenanspruchs als eingetreten (vgl. BGE 137 V 417 E. 2.2.1 und 2.2.4 S.
421 f.; SVR 2007 IV Nr. 7 S. 23, I 76/05 E. 1.1), und nicht bereits bei Beginn
der Wartezeit, wie die Beschwerdeführerin anzunehmen scheint. In diesem
Zusammenhang ist nicht ersichtlich, inwiefern in Konstellationen wie der
vorliegenden der (zufällige) Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu
Ungleichbehandlungen unter den Versicherten führen könnte. Vor Ablauf der
Wartezeit konnte und kann auch weiterhin kein Rentenanspruch entstehen.
Die Beschwerdeführerin beruft sich zur Stützung ihres gegenteiligen
Standpunktes (Massgeblichkeit der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen
Regelung, insbesondere alt Art. 48 Abs. 2 IVG) auf das vom BSV herausgegebene
Rundschreiben Nr. 253 vom 7. Dezember 2007 sowie auf das
Gleichbehandlungsgebot.

3.1 Es gibt keine spezielle übergangsrechtliche Regelung der Frage nach der
Anwendbarkeit von Art. 29 Abs. 1 IVG (Entstehung des Rentenanspruchs frühestens
nach Ablauf von sechs Monaten nach dessen Geltendmachung), wenn bei
Inkrafttreten dieser Gesetzesbestimmung am 1. Januar 2008 die einjährige
Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG bzw. alt Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG
noch nicht abgelaufen ist. Es kommt daher der Grundsatz zum Tragen, wonach bei
einer Änderung der Rechtsgrundlagen diejenigen massgebend sind, die bei der
Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 132 V
215 E. 3.1.1 S. 220; Urteil 8C_606/2011 vom 13. Januar 2012 E. 3.1), was hier
indessen nicht weiter hilft.
3.2
3.2.1 Zweck der Neuregelung in Bezug auf die Entstehung des Anspruchs auf eine
Invalidenrente und den Rentenbeginn ist, den Anreiz bei den Versicherten zu
verstärken, sich möglichst frühzeitig, spätestens sechs Monate nach Eintritt
der Arbeitsunfähigkeit, bei der Invalidenversicherung anzumelden, insbesondere
um Eingliederungsmassnahmen zu einem Zeitpunkt in die Wege leiten zu können, in
dem die Wahrscheinlichkeit für deren Wirksamkeit noch bedeutend höher ist als
später (Botschaft vom 23. Juni 2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die
Invalidenversicherung [5. Revision], BBl 2005 S. 4459 ff., 4535 und 4568). Die
Neuerung führt grundsätzlich zu keiner Schlechterstellung, da bei rechtzeitiger
Anmeldung die Rente wie schon vorher nach Ablauf der Wartezeit zur Ausrichtung
gelangt (BBl, a.a.O.).
3.2.2 Im erwähnten Rundschreiben Nr. 253 vom 7. Dezember 2007 hat die
Aufsichtsbehörde ausgeführt, die Änderung brauche eine gewisse Übergangszeit
u.a. auch deshalb, weil die versicherten Personen darüber bisher noch kaum
informiert worden seien. Aus dem Grund sei die Regelung, wonach die Rente erst
sechs Monate nach der Anmeldung gezahlt werden könne, nicht anwendbar, wenn die
Wartezeit vor dem 1. Januar 2008 zu laufen begonnen habe und im Jahre 2008
erfüllt worden sei. In diesen Fällen genüge eine Anmeldung bis spätestens am
31. Dezember 2008. Die Rente könne dann abweichend vom neuen Art. 29 Abs. 1 IVG
ab Ablauf der Wartezeit ausgerichtet werden.
Beim Rundschreiben Nr. 253 vom 7. Dezember 2007 handelt es sich um eine
Verwaltungsweisung, welche für das Sozialversicherungsgericht zwar nicht
verbindlich, von diesem aber zu berücksichtigen ist, wenn sie eine dem
Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren
Bestimmungen zulassen (BGE 133 V 450 E. 2.2.4 S. 455; Urteil 9C_2/2012 vom 30.
August 2012 E. 6.2; vgl. auch BGE 133 II 305 E. 8.1 S. 315).
3.3
3.3.1 Sinn und Zweck des im Rahmen der 5. IV-Revision geschaffenen Art. 29 Abs.
1 IVG (Entstehung des Rentenanspruchs frühestens nach Ablauf von sechs Monaten
nach dessen Geltendmachung; vorne E. 3.2.1) sprechen für dessen grundsätzlich
sofortige Anwendung auch in Fällen, wo die einjährige Wartezeit nach Art. 28
Abs. 1 lit. b IVG bzw. alt Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG beim Inkrafttreten am 1.
Januar 2008 noch nicht abgelaufen ist. Die Änderung ist jedoch einschneidend
und wirkt sich namentlich dann zu Ungunsten der Versicherten aus, wenn in
diesem Zeitpunkt bereits mehr als sechs Monate der Wartezeit vergangen sind mit
der Folge, dass der Rentenanspruch nicht unmittelbar nach deren Ablauf
entsteht. Die von der Aufsichtsbehörde im Rundschreiben Nr. 253 vom 7. Dezember
2007 getroffene Regelung dient dazu, solche Fälle zu verhindern, was -
jedenfalls unter der Annahme, dass von den Versicherten nicht vor dem 1. Januar
2008 Kenntnis von der Neuerung erwartet werden darf -, nicht gesetzwidrig
erscheint.
3.3.2 Unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 8 Abs. 1 BV)
ist indessen zu beachten, dass bei einem Eintritt der gesundheitlich bedingten
Arbeitsunfähigkeit in den ersten fünf Monaten 2008 nach dem in solchen Fällen
anwendbaren Art. 29 Abs. 1 IVG den betreffenden Versicherten nicht Zeit
verbleibt, sich bis Ende Jahr bei der Invalidenversicherung anzumelden, um
sofort nach Ablauf der einjährigen Wartezeit in den Genuss von Rentenleistungen
zu kommen. Tritt etwa die Arbeitsunfähigkeit im Februar 2008 ein und meldet
sich die versicherte Person erst im Dezember 2008 an, kann der Rentenanspruch
frühestens im Juni 2009, d.h. vier Monate nach Ablauf der Wartezeit entstehen.
Dies bedeutet eine Schlechterstellung gegenüber den vom Rundschreiben Nr. 253
vom 7. Dezember 2007 erfassten Versicherten, bei denen eine Anmeldung bis
spätestens am 31. Dezember 2008 ausreicht.

3.4 Es kann offenbleiben, ob eine Übergangsordnung, die nach der Dauer der Ende
2007 bereits zurückgelegten Wartezeit differenziert, am besten den
Anforderungen von Verfassung und Gesetz genügte. Bei einer einheitlichen
Regelung kann nach dem Gesagten jedenfalls die Anmeldefrist anspruchswahrend
maximal bis Ende Juni 2008 erstreckt werden. Das Rundschreiben Nr. 253 vom 7.
Dezember 2007, soweit es eine Frist bis Ende 2008 vorsieht, ist somit
gesetzeswidrig. Die vorliegend im Juli 2008 erfolgte Anmeldung war daher
verspätet, weshalb in Anwendung von Art. 29 Abs. 1 IVG von einer Entstehung des
Rentenanspruchs frühestens im Januar 2009 auszugehen ist. Die
Beschwerdeführerin macht nicht geltend, sie habe sich in Kenntnis und im
Vertrauen auf das besagte Rundschreiben Nr. 253 vom 7. Dezember 2007 erst im
Juli 2008 bei der Invalidenversicherung angemeldet.
Der vorinstanzliche Entscheid ist im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde
demzufolge abzuweisen.

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat grundsätzlich die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a
S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen,
wonach sie der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der
Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen und es wird der Beschwerdeführerin Rechtsanwalt Stefan
Galligani als Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Stefan Galligani wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Oktober 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler