Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 550/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_550/2012 {T 0/2}     

Urteil vom 13. Juli 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Attinger.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Hilfsmittel),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 9. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
A.________ unterzog sich am 5. Januar 2010 einer
Geschlechtsanpassungsoperation. Im Oktober 2011 ersuchte sie die
Invalidenversicherung unter Hinweis auf einen teilweisen, typisch männlichen
Verlust des Haupthaars um einen Kostenbeitrag an eine Perücke oder ein
Haarteil. Mit Verfügung vom 5. Januar 2012 lehnte die IV-Stelle des Kantons
Thurgau das Hilfsmittelgesuch ab, weil die Haare nicht als Folge einer akuten
Krankheit oder deren Behandlung (z.B. durch Bestrahlung oder Chemotherapie)
ausgefallen seien.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies die dagegen erhobene Beschwerde
mit Entscheid vom 9. Mai 2012 ab.

C.
Mit Beschwerde ans Bundesgericht erneuert A.________ ihr Begehren um einen
Kostenbeitrag an eine Perücke oder ein Haarteil. Ferner ersucht sie um
unentgeltliche Prozessführung.
IV-Stelle und kantonales Gericht schliessen ohne weitere Stellungnahme auf
Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat sich
nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.

2.1. Gemäss Art. 21 Abs. 1 IVG hat der Versicherte im Rahmen einer vom
Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren er für die
Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit im Aufgabenbereich, zur
Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit, für die Schulung, die Aus-
und Weiterbildung oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf. Nach
Abs. 2 der genannten Gesetzesbestimmung hat der Versicherte, der infolge seiner
Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der
Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf, im Rahmen einer
vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit
Anspruch auf solche Hilfsmittel. Die Befugnis zur Aufstellung der
Hilfsmittelliste hat der Bundesrat in Art. 14 der Verordnung vom 17. Januar
1961 über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) an das Eidgenössische
Departement des Innern (EDI) übertragen, welches die Verordnung vom 29.
November 1976 über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung
(HVI; SR 831.232.51) samt anhangsweise beigefügter Hilfsmittelliste erlassen
hat. Laut Art. 2 HVI besteht im Rahmen der im Anhang aufgeführten Liste
Anspruch auf Hilfsmittel, soweit diese für die Fortbewegung, für die
Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig
sind (Abs. 1); Anspruch auf die in dieser Liste mit (*) bezeichneten
Hilfsmittel besteht nur, soweit diese für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit
oder die Tätigkeit im Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung, die
funktionelle Angewöhnung oder für die in der zutreffenden Ziffer des Anhangs
ausdrücklich genannte Tätigkeit notwendig sind (Abs. 2).
In den im Anhang umschriebenen Fällen kann die Versicherung dem Versicherten
einmalige oder periodische Beiträge an ein von ihm angeschafftes Hilfsmittel
zahlen (Art. 3bis Abs. 1 lit. a HVI in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 lit. a IVV
und Art. 21quater Abs. 1 lit. c IVG).

2.2. Nach Ziff. 5.06 der Hilfsmittelliste leistet die Invalidenversicherung bei
Perücken einen jährlichen Höchstbeitrag von Fr. 1'500.-. Bis Ende 1982 war
diese Ziffer mit einem (*) versehen, was bedeutete, dass ein Anspruch nur im
Rahmen von Art. 21 Abs. 1 IVG bestand (vgl. Art. 2 Abs. 2 HVI). Gemäss
damaliger Rechtsprechung rechtfertigte sich die Abgabe einer Perücke nur, wenn
der Haarschmuck eine unerlässliche Voraussetzung für die Ausübung der
Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit im Aufgabenbereich darstellte oder wenn die
durch den fehlenden Haarschmuck nachteilig wirkende äussere Erscheinung in
psychischer Hinsicht eine derartige Belastung bedeutete, dass die
Erwerbsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt wurde (ZAK 1984 S. 336, I 382
/83 E. 1a; 1978 S. 103, I 346/76). Die am 1. Januar 1983 in Kraft getretene
Verordnungsnovelle vom 21. September 1982 brachte insofern eine Erweiterung,
als nunmehr bereits im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 IVG Anspruch auf Perücken
zulasten der Invalidenversicherung besteht. Diese Ausdehnung der
Perückenversorgung erfolgte im Hinblick auf die soziale Eingliederung, wurde
doch in den Materialien zur Änderung der Hilfsmittelliste (Erläuterungen des
BSV) ausgeführt, der Wegfall des (*) bedeute, dass es inskünftig für die Abgabe
einer Perücke genüge, wenn diese für die Pflege gesellschaftlicher Kontakte
oder das Auftreten in der Öffentlichkeit benötigt werde. In dieser Beziehung
würden die Verwaltungsweisungen bei den Perücken für Männer noch gewisse
Einschränkungen festlegen müssen, da man einen kahlköpfigen Mann in der Regel
nicht als invalid bezeichnen könne (ZAK 1982 S. 429).

2.3. Naheliegenderweise hat denn auch die Rechtsprechung (zum Teil unter
Hinweis auf die jeweils geltenden Verwaltungsweisungen) bei den Gesuchen von
Männern um Abgabe einer Perücke zulasten der Invalidenversicherung einen
deutlich strengeren Beurteilungsmassstab entwickelt: Während bei Frauen im
Falle fehlenden Haarschmucks die erhebliche Beeinträchtigung der äusseren
Erscheinung als (einziges) leistungsbegründendes Erfordernis für eine
Perückenversorgung ohne weiteres anerkannt wird (Urteile I 155/01 vom 6.
Dezember 2001 E. 2d und I 204/85 vom 30. August 1985 E. 2a in fine), müssen bei
Männern zusätzliche Voraussetzungen erfüllt oder besondere Umstände gegeben
sein. Solche wurden in ZAK 1984 S. 336, I 382/83 E. 3, bejaht: Vorab
bekräftigte das Eidgenössische Versicherungsgericht, dass teilweise oder
vollständige Kahlheit bei Männern an sich nichts Aussergewöhnliches darstellt
und in solchen Fällen "in der Regel" (vgl. E. 2.2 hievor in fine) nicht von
Invalidität (oder von einer im Rahmen des Art. 21 Abs. 2 IVG massgeblichen
Beeinträchtigung) gesprochen werden kann. Jenem Urteil lagen jedoch insofern
besondere Verhältnisse zugrunde, als die vollständige Kahlheit des Versicherten
nicht einen Endzustand darstellte. Er hatte vor Beginn einer Chemotherapie
normales dichtes Haar besessen, verlor dieses zufolge der Behandlung innert
rund zweier Monate vollständig, durfte aber, da der Haarverlust ärztlicherseits
als reversibel beurteilt wurde, nach Abschluss der Therapie mit dem Nachwachsen
der Haare und der Wiedererlangung eines natürlichen Haarschmucks rechnen. Bei
diesen Gegebenheiten betrachtete das Gericht die Voraussetzungen für die Abgabe
einer Perücke, die prognostisch während mindestens eines Jahres getragen werden
musste, als erfüllt (ZAK 1984 S. 336, I 382/83 E. 3 in fine). In einem weiteren
Urteil, welches einen Versicherten betraf, der an Alopecia areata (plötzlich
einsetzendem herdförmigem Haarausfall) litt, wurden die Anspruchserfordernisse
insbesondere mit Blick auf einen psychiatrischen Bericht bejaht, wonach ohne
Perücke die Gefahr einer vollständigen Abkapselung gegenüber den Mitmenschen
und einer Verschlimmerung der neurotischen Störung in Form neuer depressiver
Phasen bestünde (Urteil I 204/85 vom 30. August 1985 E. 3). Das Eidgenössische
Versicherungsgericht wertete unter diesen Umständen die Kahlköpfigkeit ohne
Perückenversorgung als für den Versicherten erheblich belastend. Ob eine
derartige psychische Belastung vorliegt, muss jeweils unter Berücksichtigung
der Verhältnisse im Einzelfall beurteilt werden und lässt sich nicht
objektivieren (E. 3 in fine des letzterwähnten Urteils).

3.
Die Vorinstanz hat in für das Bundesgericht verbindlicher Weise festgestellt
(vgl. E. 1 hievor), dass der Haarverlust der Beschwerdeführerin ein Ausmass
erreicht hat, welches nicht zu ihrem (neuen) Erscheinungsbild als Frau passt.
Das kantonale Gericht pflichtet der Versicherten auch insofern bei, als die
schwindende Haartracht zu einer Beeinträchtigung auf dem für sie relevanten
Arbeitsmarkt mit häufigem Kundenkontakt führen kann (wobei es anzumerken gilt,
dass es hier um die Sozialrehabilitation, nicht um die Eingliederung ins
Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich geht [Art. 8 Abs. 2 IVG]). Unter den
angeführten Umständen sind nach der dargelegten Rechtsprechung die
Voraussetzungen für einen Kostenbeitrag (von jährlich höchstens Fr. 1'500.-) an
eine Perücke oder ein Haarteil gemäss Art. 21 Abs. 2 IVG und Ziff. 5.06
HVI-Anhang offenkundig erfüllt. Der Beschwerdeführerin als Transfrau
(Transsexuelle Mann zu Frau) kann jedenfalls nicht entgegengehalten werden, sie
habe ihre Haare nicht infolge einer akuten Erkrankung verloren, sondern
"aufgrund des Alterungsprozesses, wie dies bei Männern häufig vorkommt" (S. 5
des angefochtenen Entscheids). Entscheidend ist allein, dass ihre weibliche
äussere Erscheinung durch das charakteristische Ausprägungsmuster ihrer typisch
männlichen Glatzenbildung eine empfindliche Beeinträchtigung erfährt, welche
mit dem anbegehrten Hilfsmittel möglichst kaschiert werden soll.

4.
Die IV-Stelle trägt als unterliegende Partei die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1
BGG). Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Prozessführung für
das bundesgerichtliche Verfahren ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau vom 9. Mai 2012 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons
Thurgau vom 5. Januar 2012 werden aufgehoben. Die IV-Stelle hat der
Beschwerdeführerin einen Kostenbeitrag von jährlich höchstens Fr. 1'500.- an
eine Perücke oder ein Haarteil zu leisten.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Juli 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Attinger

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