Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 549/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_549/2012 {T 0/2}

Urteil vom 7. März 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
J._________, vertreten durch Rechtsanwältin Marianne Ott,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid
des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 27. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich sprach der 1959 geborenen J._________ für die
Zeit von Februar 2006 bis November 2007 eine ganze Invalidenrente sowie mit
Wirkung ab Dezember 2007 eine halbe Invalidenrente zu (Verfügungen vom 13.
Januar 2011).

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde ab, mit
welcher J._________ einen über November 2007 hinausreichenden Anspruch auf eine
ganze, eventuell eine Dreiviertelsrente geltend gemacht hatte; es ermittelte
einen Invaliditätsgrad von 56 Prozent (Entscheid vom 27. März 2012).

C.
J._________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und es sei ihr mit
Wirkung ab Dezember 2007 aufgrund eines Invaliditätsgrades von 64, eventuell 63
Prozent eine Dreiviertelsrente zuzusprechen. Ausserdem beantragt J._________
die unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Rechtsverbeiständung).

Erwägungen:

1.
Strittig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz den Invaliditätsgrad auf den
Zeitpunkt der rückwirkenden Rentenrevision hin (vgl. Art. 17 ATSG; BGE 131 V
164 E. 2.2 S. 165) bundesrechtskonform (Art. 95 lit. a BGG) bemessen hat (Art.
16 ATSG).

2.
2.1 Der Regionale Ärztliche Dienst der Invalidenversicherung stellte bei der
Beschwerdeführerin eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend
abhängigen, ängstlich vermeidenden und akzentuierten Zügen sowie eine milde
depressive Episode mit somatischem Syndrom fest, zudem Alkohol- und
Cannabismissbrauch (Psychiatrischer Untersuchungsbericht des Dr. G._________
vom 12./19. Juli 2010). Ihrer bisherigen Arbeit als Jugendhaus-Leiterin (vgl.
Fragebogen für den Arbeitgeber, Gemeinde X.________, 17. Oktober 2006) kann die
Beschwerdeführerin wegen des Gesundheitsschadens nicht mehr nachgehen.
Hinsichtlich überschaubarer, klar strukturierter, emotional wenig belastender
Tätigkeiten mit wenigen Kundenkontakten ist sie nach unbestrittener
medizinischer Festlegung indes in der Lage, ein halbes Pensum zu versehen.

2.2 Unter Berücksichtigung dieser gesundheitlichen Rahmenbedingungen hat das
kantonale Gericht erwogen, die Beschwerdeführerin verfüge als gelernte
Arzthelferin, die 1995 zudem ein Diplom der Höheren Fachschule Y._________
erworben habe, über relativ breite fachliche Qualifikationen samt
Fremdsprachenkenntnissen und Praxis in administrativen Arbeiten. Angesichts
dieser Voraussetzungen sei das anrechenbare Invalideneinkommen (auf der
Grundlage eines Tabellenlohns gemäss Schweizerischer Lohnstrukturerhebung des
Bundesamts für Statistik [LSE]) ausgehend von Anforderungsniveau 3 ("Berufs-
und Fachkenntnisse vorausgesetzt") statt 4 ("einfache und repetitive
Tätigkeiten") zu bemessen.

2.3 Die Wahl der massgeblichen Stufe (Anforderungsniveau 1/2, 3 oder 4) beim
statistischen Lohnvergleich ist eine frei überprüfbare Rechtsfrage (SVR 2008 IV
Nr. 4 S. 9, I 732/06 E. 4.2.2). Die sich in diesem Zusammenhang vorgängig
stellende Frage, über welche erwerbsrelevanten Fertigkeiten und Kenntnisse eine
versicherte Person verfügt, ist demgegenüber tatsächlicher Natur. Der darauf
bauende Umgang mit den Zahlen in der massgeblichen LSE-Tabelle beschlägt
ebenfalls eine Frage des Sachverhalts (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). An eine
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung ist das Bundesgericht (soweit hier von
Interesse) nur dann nicht gebunden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Verletzung von Bundesrecht beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.4 Die Beschwerdeführerin macht geltend, es gehe nicht an, auf das
Anforderungsniveau 3 der LSE-Tabelle zurückzugreifen. Ihr Abschluss als
Arzthelferin liege 30 Jahre zurück; zudem habe sie diesen Beruf seit 20 Jahren
nicht mehr ausgeübt. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, das kantonale
Gericht habe die Tatfrage nach den berufspraktischen Kenntnissen der
Beschwerdeführerin offensichtlich unrichtig beantwortet. Ebensowenig ist die
Vorinstanz fälschlicherweise davon ausgegangen, die Beschwerdeführerin vermöge
aufgrund ihres Fachschuldiploms im Bereich der soziokulturellen Animation eine
(unbestrittenermassen nicht leidensangepasste; vgl. oben E. 2.1) Tätigkeit in
diesem Fach auszuüben. Das kantonale Gericht hat auch nicht erkannt, (etwas
missverständlich als "fachlicher" Natur bezeichnete) Qualifikationen wie
Sprachkenntnisse und kaufmännische Fertigkeiten seien in neuen Berufsfeldern
unmittelbar einsetzbar. Es leitet aus den erwähnten Elementen lediglich ab, die
Versicherte bewege sich auf einem (Berufs-)Bildungsniveau, welches nicht bloss
"einfache und repetitive Tätigkeiten", mithin Hilfsarbeiten, zulasse (vgl. SVR
2010 IV Nr. 52 S. 160 E. 4.4.3, 9C_125/2009). Die Beschwerdeführerin weist in
diesem Zusammenhang auf das Urteil 9C_128/2012 vom 15. März 2012, E. 3.1, hin.
Die dortige Vorinstanz hatte erkannt, das Invalideneinkommen eines Chemikanten
mit langjähriger Berufserfahrung, der in den ihm offenstehenden
Alternativtätigkeiten über keine Berufs- und Fachkenntnisse verfüge, sei
ausgehend vom Anforderungsniveau 4 festzusetzen. Im Unterschied dazu ist die
hiesige Vorinstanz davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin erworbene
Berufserfahrung auch in einem neuen Tätigkeitsbereich nutzbar machen kann, weil
die betreffenden Kenntnisse und Fertigkeiten nicht (nur) branchenspezifisch
sind. Die Schlussfolgerung, die Beschwerdeführerin verfüge in diesem Sinne über
beruflich einsetzbare Qualifikationen, ist zumindest vertretbar (vgl. oben E.
2.3).

3.
Eventualiter, für den Fall, dass die Bemessung des Invalideneinkommens nach
Anforderungsniveau 3 geschützt werde, rügt die Beschwerdeführerin die Höhe der
vorinstanzlich zugestandenen Korrektur des Invalideneinkommens um 10 Prozent
als willkürlich.

3.1 Die Tabellenlöhne gemäss LSE, wie sie zur Bemessung des Invalideneinkommens
häufig herangezogen werden, sind gegebenenfalls herabzusetzen, wenn angenommen
werden muss, der versicherte Gesundheitsschaden werde - per se oder in
Verbindung mit persönlichen Eigenschaften der versicherten Person - das zu
erwartende Einkommen zusätzlich schmälern (vgl. BGE 129 V 472 E. 4.2.3 S. 481;
126 V 75). Das Bundesgericht überprüft die Rechtsfrage frei, ob ein statistisch
ermittelter Lohnansatz herabzusetzen ist. Die Festlegung des Ausmasses einer
Kürzung ist derweil Ermessenssache. Die Höhe des Abzuges ist somit
bundesgerichtlich nur überprüfbar, wenn Ermessen rechtsfehlerhaft betätigt
wurde, so wenn bedeutende persönliche und berufliche Umstände im Einzelfall
nicht berücksichtigt wurden (BGE 137 V 71; 132 V 393 E. 3.3 S. 399; SVR 2009 IV
Nr. 43 S. 127 E. 3.1, 9C_235/2008).

3.2 Die Beschwerdeführerin bringt vor, eine Korrektur des Tabellenlohns um 10
Prozent sei willkürlich tief, sofern sie im Anforderungsniveau 3 eingereiht
werde. Die medizinisch begründeten Auflagen (überschaubare, klar strukturierte,
emotional wenig belastende Tätigkeit mit wenig Kundenkontakt) seien
weitreichend und im ersten Arbeitsmarkt - wenn überhaupt - nur sehr schwer
umsetzbar. Werde unter diesen Umständen bei einem Einkommen angeknüpft, welches
Personen mit Berufs- und Fachkenntnissen bezahlt werde, so sei ihren
verschiedenartigen gesundheitsbedingten Einschränkungen konsequenterweise mit
dem höchstmöglichen Abzug von 25 Prozent Rechnung zu tragen, zumal sie im
Dezember 2007 auch bereits knapp 49-jährig gewesen sei.
3.3
3.3.1 Das geltend Gemachte ist nicht allein unter dem Gesichtspunkt des
leidensbedingten Abzugs zu behandeln; gefragt wird in erster Linie danach, ob
der Arbeitsmarkt entsprechende Verweisungstätigkeiten in ausreichendem Mass
anbietet (vgl. BGE 110 V 273 E. 4b S. 276). Dies ist zu bejahen. In das
medizinische Anforderungsprofil passen beispielsweise mannigfaltige
administrative Tätigkeiten, welche die Beschwerdeführerin in einem halben
Pensum versehen könnte. Zu denken ist etwa an Arbeiten im Back-Office (z.B.
Datenverarbeitung) oder Archiv (vgl. psychiatrisches Gutachten der Frau Dr.
S.________ vom 17. November 2005). Jedenfalls ist nicht von vornherein
anzunehmen, dass eine entsprechende Tätigkeit nur in einer Form möglich sei,
welche der ausgeglichene Arbeitsmarkt praktisch nicht kennt, oder dass sie ein
unrealistisches Entgegenkommen von Arbeitgebern voraussetzte (SVR 2008 IV Nr.
62 S. 203 mit Hinweisen, 9C_830/2007 E. 5.2).
3.3.2 Was nun den leidensbedingten Abzug angeht, so postuliert die
Beschwerdeführerin, die Höhe der Korrektur am Tabellenlohn sei auf das gewählte
Anforderungsniveau abzustimmen. Ein solcher Zusammenhang liegt auf der Hand,
wenn die wegen des Gesundheitsschadens zu beachtenden Rahmenbedingungen die
Ausübung einer entsprechend qualifizierten Erwerbstätigkeit dergestalt
behindern, dass dadurch die Gehaltserwartung erheblich beeinflusst wird. Hier
indessen durfte die Vorinstanz davon ausgehen, das ärztlich definierte
Anforderungsprofil wirke sich selbst für solche Arbeiten nicht wesentlich auf
den erzielbaren Lohn aus, welche (gemäss Anforderungsniveau 3) Berufs- und
Fachkenntnisse voraussetzen. So bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass in
einer zu 50 Prozent ausgeübten, klar strukturierten und emotional wenig
belastenden administrativen Arbeit mit wenigen Kundenkontakten noch zusätzliche
lohnwirksame Erschwernisse anfallen. Damit hat das kantonale Gericht sein
Ermessen nicht rechtsfehlerhaft ausgeübt, als es den Abzug vom
Invalideneinkommen über 10 Prozent bestätigte.

4.
Weitere Parameter der Invaliditätsbemessung sind nicht strittig. Die
vorinstanzliche Schlussfolgerung, der Invaliditätsgrad betrage 56 Prozent, ist
insgesamt bundesrechtskonform.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend trägt die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege kann entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202).
Nach Art. 64 Abs. 4 BGG hat die begünstigte Partei der Gerichtskasse indessen
Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen. Der Beschwerdeführerin wird Rechtsanwältin Marianne Ott als
Rechtsbeiständin beigegeben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. März 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Traub