Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 527/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_527/2012

Urteil vom 27. Februar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

B.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 25. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1962 geborene B.________ hatte sich am 2. Februar 2005 bei einem
Arbeitsunfall eine Distorsion am linken Knie zugezogen. Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA), welche die gesetzlichen Leistungen erbracht
hatte, sprach B.________ ab 1. Dezember 2008 nebst einer
Integritätsentschädigung eine Invalidenrente auf der Grundlage einer
Erwerbsunfähigkeit von 26 % zu. Am 5. Februar 2007 meldete sich B.________ bei
der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gestützt auf die eingeholten
Arztberichte sowie eine interdisziplinäre Begutachtung durch den Psychiater Dr.
med. S.________ und den Rheumatologen Dr. med. R.________ (Expertise vom 4./16.
Mai 2009) gelangte die IV-Stelle zur Auffassung, dass die Voraussetzungen,
unter denen bei der vorliegenden somatoformen Schmerzstörung eine Invalidität
angenommen werden könne, nicht erfüllt seien. Dementsprechend lehnte sie den
Rentenanspruch am 12. Januar 2010 verfügungsweise ab.

B.
In teilweiser Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde sprach das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen B.________ unter Aufhebung der
Verfügung vom 12. Januar 2010 eine halbe Invalidenrente zu; zur Festsetzung des
Rentenbeginns und der Rentenhöhe wies es die Sache an die IV-Stelle zurück
(Entscheid vom 25. Mai 2012).

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
Während B.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, verzichtet
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen Rückweisungsentscheid im
Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG, gegen welchen die Beschwerde u.a. zulässig ist,
wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a). Die
Vorinstanz hat der Versicherten eine halbe Invalidenrente zugesprochen und
gleichzeitig die Sache zur Festlegung von Rentenbeginn und Rentenhöhe an die
Verwaltung zurückgewiesen. Damit wird diese gezwungen, eine ihres Erachtens
rechtswidrige neue Verfügung zu erlassen, womit der irreparable Nachteil nach
der Rechtsprechung zu bejahen ist (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483). Auf die
Beschwerde ist daher einzutreten.

2.
2.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. wegen
Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97
Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.2 Dabei gilt im Hinblick auf die Beurteilung, ob eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung - oder ein vergleichbarer ätiologisch-pathogenetisch unklarer
syndromaler Zustand (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 399) - mit invalidisierender
Wirkung vorliegt, Folgendes: Zu den vom Bundesgericht nur eingeschränkt
überprüfbaren Tatsachenfeststellungen zählt zunächst, ob eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung vorliegt, und bejahendenfalls, ob eine psychische
Komorbidität oder weitere Umstände gegeben sind, welche die Schmerzbewältigung
behindern. Als Rechtsfrage frei überprüfbar ist, ob eine festgestellte
psychische Komorbidität hinreichend erheblich ist und ob einzelne oder mehrere
der festgestellten weiteren Kriterien in genügender Intensität und Konstanz
vorliegen, um gesamthaft den Schluss auf eine nicht mit zumutbarer
Willensanstrengung überwindbare Schmerzstörung und somit auf eine
invalidisierende Gesundheitsschädigung zu gestatten (BGE 137 V 64 E. 1.2 S. 66;
Urteil 9C_148/2012 vom 17. September 2012).

3.
Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zum Vorliegen einer Invalidität bei
somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352 und seitherige Urteile), welche
analog auf weitere pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale
Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage anwendbar ist, richtig
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 Aufgrund des psychiatrischen Gutachtens des Dr. med. S.________ vom 4. Mai
2009 ging das kantonale Gericht davon aus, dass die Versicherte an einer
somatoformen Schmerzstörung leide und mehrere für die Annahme einer
invalidisierenden Gesundheitsstörung massgebende Kriterien erfüllt seien.
Namentlich der chronifizierte mehrjährige Krankheitsverlauf mit progredienter
Symptomatik ohne wesentliche zwischenzeitliche Rückbildung sowie das Scheitern
einer konsequent durchgeführten ambulanten und stationären Behandlung seien
gegeben. Hinzu kämen eine - nicht sehr gravierende - chronische somatische
Begleiterkrankung sowie ein gewisser sozialer Rückzug. Insgesamt erscheine
damit die Einschätzung des Psychiaters glaubwürdig. Danach sei die Versicherte
nur noch teilweise in der Lage, ihre Schmerzen willentlich zu überwinden, und
ihre Ressourcen reichten nur noch für eine Teilzeittätigkeit von 50 % in einer
angepassten Arbeit aus. Der Einkommensvergleich ergab einen Invaliditätsgrad
von 51,4 % mit der Folge, dass die Vorinstanz der Beschwerdegegnerin eine halbe
Invalidenrente zusprach, deren Beginn von der Verwaltung festzusetzen sei.

4.2 Die IV-Stelle wendet unter Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts 9C_710
/2011 vom 20. März 2012 ein, dass eine Willensanstrengung nicht aufgeteilt
werden könne. Entweder sei eine solche zumutbar oder nicht. Mit der Annahme
einer Überwindbarkeit von 50 % werde dem Umstand nicht Rechnung getragen, dass
die Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung und eines
Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess nur in Ausnahmefällen anzunehmen sei. Mit
einer zumutbaren Willensanstrengung könnte die Versicherte die Überzeugung,
krank und arbeitsunfähig zu sein, überwinden. Relevant sei daher nur die
somatisch bedingte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, welche indessen keine
einen Rentenanspruch begründende Erwerbseinbusse bewirke.

5.
5.1 Der IV-Stelle ist beizupflichten, dass die Unzumutbarkeit einer
willentlichen Schmerzüberwindung und des Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess
nach der Rechtsprechung nur in Ausnahmefällen anzunehmen ist (BGE 130 V 352 E.
2.2.3 S. 353 f.). Ob im vorliegenden Fall entsprechend den Erwägungen des
kantonalen Gerichts ein solcher Ausnahmefall gegeben ist, lässt sich aufgrund
der medizinischen Unterlagen nicht schlüssig beurteilen. Dr. med. S.________
äusserte sich in der Expertise vom 4. Mai 2009 im Abschnitt "Psychiatrische
Beurteilung und Prognose" zum Krankheitsbild der Versicherten, ohne näher auf
die Umstände des stationären Aufenthalts im Palliativ Zentrum im Spital
X.________ (26. August bis 5. September 2008) und eines längeren, zum
Begutachtungszeitpunkt erst wenige Wochen zurückliegenden Aufenthalts in der
Psychiatrischen Klinik L.________ (vom 19. Januar bis 26. März 2009)
einzugehen. Es blieb beim Hinweis darauf, dass die Klinikaufenthalte und auch
die ambulante psychiatrische Behandlung bei Frau Dr. med. C.________ erfolglos
waren. Er diagnostizierte eine depressive Störung mittleren Grades, welche
indessen nicht als psychische Komorbidität gelten könne, weil sie
ausschliesslich im Zusammenhang mit der Schmerzstörung zu verstehen sei. Unter
Bejahung einer körperlichen Begleiterkrankung (Knieleiden) gelangt der
Gutachter alsdann zum Schluss, der Versicherten könne es in Anbetracht aller
Begleitumstände nur noch teilweise zugemutet werden, willentlich ihre Schmerzen
zu überwinden. Somatische und psychische Anteile seien nicht mehr zu trennen
und die Arbeitsfähigkeit für angepasste Tätigkeiten sei seit Frühjahr 2008 zu
50 % eingeschränkt.

5.2 Die Expertise des Psychiaters Dr. med. S.________ genügt den Anforderungen,
welche an die Begutachtung von Versicherten mit der erwähnten
Schmerzsymptomatik gestellt werden, nicht. Es liegt am Gutachter, durch die zur
Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten fachkundiger Exploration der
Verwaltung (und im Streitfall dem Gericht) aufzuzeigen, ob und inwiefern die
versicherte Person über psychische Ressourcen verfügt, die es ihr - auch mit
Blick auf die Kriterien - erlauben mit ihren Schmerzen umzugehen (BGE 130 V 352
E. 2.2.4 S. 355). Diese fachlichen Kriterien erfüllt die Expertise vom 4. Mai
2009 nur zum Teil. Die dem Psychiater obliegenden Einschätzungen und Wertungen
im Zusammenhang mit den massgebenden Kriterien werden nur rudimentär oder sehr
knapp vorgenommen. Das Gutachten erweckt ferner den Eindruck, dass es sich in
weiten Teilen auf die Angaben der Beschwerdeführerin stützt. Auf allenfalls
durchgeführte Tests und deren Ergebnisse wird hingegen in der fachärztlichen
Beurteilung nicht Bezug genommen, ebenso fehlen sämtliche Hinweise auf andere
Mittel psychiatrischer Exploration. Insgesamt fehlt der Expertise die
notwendige Überzeugungskraft, welche Verwaltung und Gericht eine Entscheidung
der erheblichen Tatfragen nach dem Regelbeweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit gestatten würde.

5.3 Liegt eine unvollständige und damit offensichtlich unrichtige Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts durch das kantonale Gericht vor (Art. 97
Abs. 1 BGG), ist das Bundesgericht nicht daran gebunden. Die IV-Stelle, an
welche die Sache zurückzuweisen ist, wird eine erneute psychiatrische
Begutachtung anordnen und gestützt auf deren Ergebnisse über den
Invalidenrentenanspruch der Versicherten neu verfügen.

6.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG), die auch keine
Parteientschädigung vor Bundesgericht beanspruchen kann (Art. 68 BGG). Hingegen
kann die vorinstanzliche Verlegung von Gerichts- und Parteikosten so belassen
werden, da die Versicherte im Ergebnis eine Rückweisung erreicht hat, was
praxisgemäss als volles Obsiegen gilt (vgl. BGE 110 V 54 E. 3a S. 57).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Dispositiv Ziff. 1 und 2 der
Entscheides des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 25. Mai 2012
und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 12. Januar 2010
werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über den Invalidenrentenanspruch neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. Februar 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Widmer