Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 493/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_493/2012

Urteil vom 25. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
G.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Yvonne Dürst,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Taggeld; Rückerstattung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 10. April 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1981 geborene G.________ meldete sich im Mai 2008 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte die Umschulung auf eine andere
Tätigkeit als den erlernten handwerklichen Beruf im Baugewerbe. Mit Mitteilung
vom 6. April 2009 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich die Ausbildung
zum ... an der Schule X.________ vom 25. April 2009 bis 3. April 2011 zu.
Gemäss den eingereichten Unterlagen arbeitete der Versicherte seit 2008 zu 100
% als ... bei der Y.________ AG. Mit Verfügung vom 29. September 2009 setzte
die IV-Stelle gestützt auf die Berechnung der Ausgleichskasse des
Schweizerischen Baumeisterverbandes (nachfolgend: Ausgleichskasse Baumeister)
das Taggeld auf Fr. 158.40 fest. Nachdem die Ausgleichskasse die Zahlungen auf
Ende Juli 2010 eingestellt hatte, forderte die IV-Stelle mit Verfügung vom 23.
Dezember 2010 von G.________ zu Unrecht ausgerichtete Taggelder in der Höhe von
Fr. 67'414.- (453 x Fr. 158.40 abzüglich Sozialversicherungsbeiträge) zurück.

B.
Die Beschwerde des G.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich nach zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom 10. April 2012 ab.

C.
G.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, die Verfügung vom 23. Dezember 2010 sei aufzuheben und es sei
festzustellen, dass der IV-Stelle kein Rückforderungsanspruch zusteht.

Die IV-Stelle reicht eine Stellungnahme der Ausgleichskasse Baumeister ein. Das
kantonale Sozialversicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichten auf eine Vernehmlassung.

In einer weiteren Eingabe hat sich G.________ zu den Ausführungen der
Ausgleichskasse geäussert.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die IV-Stelle
festgestellt, den Mangel jedoch als geheilt erachtet. Der Beschwerdeführer rügt
dies als bundesrechtswidrig (Art. 95 lit. a BGG). Seine Vorbringen sind
indessen zu wenig substanziiert und setzen sich mit den diesbezüglichen
Erwägungen der Vorinstanz auch nicht auseinander (Art. 41 Abs. 2 und Art. 106
Abs. 2 BGG). Darauf ist daher nicht näher einzugehen.

2.
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es
ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an
die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus einem
anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E.
1.2 S. 252 mit Hinweisen; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).

3.
Die Unrechtmässigkeit des Bezugs von Taggeldern der Invalidenversicherung in
der Höhe von Fr. 67'414.- im Zeitraum vom 9. April 2009 bis 31. Juli 2010 und
die grundsätzliche Rückerstattungspflicht des Beschwerdeführers nach Art. 25
Abs. 1 Satz 1 ATSG stehen ausser Frage. Den Einwand, wonach die Rückforderung
zu spät mit Verfügung vom 23. Dezember 2010 geltend gemacht worden sei und
einer solchen zudem Treu und Glauben entgegenstünden, hat die Vorinstanz als
nicht stichhaltig erachtet, was in der Beschwerde als bundesrechtswidrig gerügt
wird.

4.
Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die
IV-Stelle davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf
Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung (Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG
in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG). Bei diesen Fristen
handelt es sich um Verwirkungsfristen, die immer und von Amtes wegen zu
berücksichtigen sind (BGE 133 V 579 E. 4.1 S. 582; 128 V 10 E. 1 S. 12; 101 Ib
348 E. 2b S. 350). Für den Beginn der relativen einjährigen Verwirkungsfrist
ist nicht das erstmalige unrichtige Handeln und die daran anknüpfende
unrechtmässige Leistungsausrichtung massgebend. Abzustellen ist auf jenen Tag,
an dem die IV-Stelle später bei der ihr gebotenen und zumutbaren Aufmerksamkeit
den Fehler hätte erkennen müssen und dass die Voraussetzungen für eine
Rückerstattung gegeben sind (BGE 124 V 380 E. 1 S. 383; 122 V 270 E. 5a und 5b/
aa S. 274 f.; SVR 2002 IV Nr. 2, I 678/00 E. 3b: "Wahrnehmung der Unrichtigkeit
der Leistungsausrichtung aufgrund eines zusätzlichen Indizes"; Urteil 9C_737/
2009 vom 1. April 2010 E. 2.1). Dies ist der Fall, wenn alle im konkreten
Einzelfall erheblichen Umstände zugänglich sind, aus deren Kenntnis sich der
Rückforderungsanspruch dem Grundsatz nach und in seinem Ausmass gegenüber einer
bestimmten rückerstattungspflichtigen Person ergibt (BGE 111 V 14 E. 3 S. 17;
SVR 2011 EL Nr. 7 S. 21, 9C_999/2009 E. 3.2.1). Wo die Leistungszusprechung auf
dem Zusammenwirken von IV-Stelle und zuständiger Ausgleichskasse beruht, wie
etwa beim Taggeld nach Art. 22 IVG (vgl. Art. 57 und 60 IVG), genügt für den
Beginn des Fristenlaufs die nach der dargelegten Praxis erforderliche Kenntnis
einer dieser Stellen (BGE 112 V 180 E. 4c S. 182 f.; ZAK 1989 S. 558, H 212/88
E. 4b; Urteil 9C_1057/2008 vom 4. Mai 2009 E. 4.2.1).

5.
5.1 Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG) war bereits im Zeitpunkt der Zusprechung der Umschulung zum ... gemäss
Mitteilung vom 6. April 2009 aktenkundig, dass der Beschwerdeführer während der
am 25. des Monats beginnenden zweijährigen Eingliederungsmassnahme erwerbstätig
sein würde. Laut dem eingereichten Arbeitsvertrag arbeitete er seit 2008 als
... bei der Y.________ AG zu einem Monatslohn von Fr. 5'500.- brutto. Auf diese
Festanstellung wies die IV-Stelle auch im Schreiben vom 6. April 2009 hin, mit
dem sie die Ausgleichskasse Baumeister um Berechnung der Geldleistung sowie
Erstellung und Versendung der Verfügung ersuchte. Dem Schreiben war u.a. auch
der Arbeitsvertrag beigelegt. Die Ausgleichskasse ermittelte ein Taggeld von
Fr. 158.40 auf der Grundlage des früher erzielten durchschnittlichen
Tagesverdienstes. Dabei liess sie den während der Umschulung erzielten
Monatslohn von Fr. 5'500.- brutto unberücksichtigt - eine Anrechnung hätte zu
einer Kürzung von Fr. 159.- geführt - , was nach der in E. 4 hievor dargelegten
Rechtsprechung der erste, die relative einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 25
Abs. 2 ATSG noch nicht auslösende Fehler war. Dies verkennt der
Beschwerdeführer, soweit er vorbringt, die Frist habe mit der Zustellung des
Arbeitsvertrages zu laufen begonnen.

5.2 Weiter hat die Vorinstanz festgestellt, es bestünden keine Anhaltspunkte,
dass die IV-Stelle zwischen dem Erlass der Taggeldverfügung vom 29. September
2009 und dem Leistungsstopp auf Ende Juli 2010, dies nach dem Hinweis des
Steueramtes auf den gleichzeitigen Bezug von Taggeldern und Lohn, eine
Veranlassung gehabt haben könnte, den Fehler zu bemerken. Der Beschwerdeführer
bestreitet diese Feststellungen, ohne jedoch Umstände zu nennen, aufgrund derer
die IV-Stelle bei zumutbarer Aufmerksamkeit den Fehler früher hätte entdecken
müssen. Seine angebliche telefonische Erkundigung betreffend die Richtigkeit
der Berechnung (volles Taggeld bei gleichzeitigem Lohnbezug) ist beweislos
geblieben, was zu seinen Lasten geht (Art. 8 ZGB; BGE 117 V 261 E. 3b S. 264).

Sodann macht der Beschwerdeführer nicht geltend, die Verwaltung
(Ausgleichskasse und IV-Stelle) sei verpflichtet, die Grundlagen der
Taggeld-Berechnung etwa betreffend die Kürzung wegen Erzielung von
Erwerbseinkommen während der Eingliederungsmassnahme (Art. 21septies IVV) mehr
oder weniger regelmässig oder sogar periodisch einer gezielten Überprüfung zu
unterziehen. Eine solche Verpflichtung ergibt sich weder aus dem Gesetz noch
aus den einschlägigen bundesamtlichen Weisungen (vgl. zu den Renten der AHV und
IV Rz. 11117 ff. der einschlägigen Wegleitung [RWL, in der ab 1. Januar 2003
gültigen Fassung, Stand: 1. Januar 2012]; vgl. auch Urteil 9C_737/2009 vom 1.
April 2010 E. 2.3.1). Im Weitern mag zwar zutreffen, dass ohne den Hinweis der
Steuerbehörde, der zur Leistungseinstellung auf Ende Juli 2010 führte, der
Fehler nie bzw. erst nach Ablauf der einjährigen Verwirkungsfrist entdeckt
worden wäre. Indessen ist nicht einsehbar, dass aus diesem Grund die Verwertung
der betreffenden Information unzulässig sein soll, wie der Beschwerdeführer
vorbringt. Im Übrigen ist unerheblich und kann demzufolge offenbleiben, ob die
IV-Stelle nach Kenntnis von der fehlerhaften Taggeld-Berechnung aufgrund des
Hinweises der Steuerbehörde die Rückerstattungsverfügung früher hätte erlassen
können. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, es seien deshalb länger als
nötig Leistungen ausgerichtet worden, auf die kein Anspruch bestand.

5.3 Nach dem Gesagten ist der Rückforderungsanspruch mit Verfügung vom 23.
Dezember 2010 nicht verspätet geltend gemacht worden.

6.
Die Vorinstanz hat einlässlich dargelegt, weshalb vorliegend der
öffentlich-rechtliche Vertrauensschutz (Grundsatz von Treu und Glauben bei
unrichtigen behördlichen Auskünften vgl. dazu Urteil 9C_507/2009 vom 29. Januar
2010 E. 2 mit Hinweisen) keine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des
Beschwerdeführers im Sinne der Verneinung einer Rückerstattungspflicht
rechtfertigt. Die dagegen vorgebrachten Einwendungen erschöpfen sich weitgehend
in unzulässiger appellatorischer Kritik an der vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 137 II
353 E. 5.1 S. 356). Der Hinweis auf Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009,
N. 9 zu Art. 46 ATSG, bzw. BGE 117 V 285 hilft nicht, da es dort um eine andere
Thematik im Zusammenhang mit Telefonnotizen geht (vgl. zur Aktenführungspflicht
der IV-Stellen und Ausgleichskassen Art. 46 ATSG sowie Urteil 9C_951/2011 vom
26. April 2012 E. 8.1.2 und SVR 2011 IV Nr. 44 S. 131, 8C_319/2010 E. 2.2.2).
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist es nicht überspitzt
formalistisch zu verlangen, leistungsrelevante Anfragen bei der IV-Stelle nicht
telefonisch, sondern schriftlich zu stellen und sich telefonische Auskünfte
schriftlich bestätigen zu lassen. Die gegenteilige Auffassung führte zu einer
gesetzwidrigen Umkehr der Beweislast.

7.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 25. September 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler