Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 478/2012
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_478/2012

Urteil vom 14. Dezember 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. André Largier,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 10. April 2012.

Sachverhalt:

A.
A.a Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies am 11. Juli 2006
eine Beschwerde des 1951 geborenen B.________ ab, mit welcher dieser die
Aufhebung eines Einspracheentscheids der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 22.
März 2005 beantragt hatte. Darin hatte die Verwaltung festgehalten, es bestehe
kein Anspruch auf eine Invalidenrente. Im Spätsommer 2006 meldete sich
B.________ bei der Invalidenversicherung neu an. Er reichte einen Bericht des
behandelnden Psychiaters Dr. G.________ vom 31. August 2006 ein; dieser Arzt
attestierte eine in den letzten Monaten eingetretene Verschlechterung des
Gesundheitszustandes. Im folgenden Abklärungsverfahren holte die IV-Stelle
unter anderem ein interdisziplinäres Gutachten der Medizinischen
Abklärungsstelle (MEDAS) ein (Expertise vom 1. Oktober 2007). Die IV-Stelle
lehnte das Gesuch ab mit der Begründung, es bestehe keine dauerhafte
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit (Verfügung vom 19. Dezember 2007).
Das kantonale Gericht wies die dagegen erhobene Beschwerde am 30. März 2009 ab.
Das Bundesgericht bestätigte diesen Entscheid (Urteil 9C_468/2009 vom 9.
September 2009).
A.b Am 9. April 2010 meldete sich B.________ erneut zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Zürich trat auf das Gesuch ein und lehnte es wiederum ab
mit der Begründung, aus versicherungsmedizinischer Sicht sei beim Versicherten,
wie schon in den Jahren 2006 und 2007, kein Gesundheitsschaden mit
massgeblicher Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit ausgewiesen (Verfügung vom 4.
Februar 2011).

B.
Das kantonale Sozialversicherungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde
ab (Entscheid vom 10. April 2012).

C.
B.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die IV-Stelle zu
verpflichten, ihm rückwirkend eine angemessene Invalidenrente auszurichten.

Während Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen auf Vernehmlassung
verzichten, beantragt die IV-Stelle Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Verletzung unter anderem von
Bundesrecht beruht (Art. 95 lit. a, Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Wurde eine Rente wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades verweigert, so wird
eine neue Anmeldung nur geprüft, wenn der Gesuchsteller glaubhaft macht, dass
sich der Grad der Invalidität in anspruchserheblicher Weise geändert hat (Art.
87 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 3 IVV). Tritt die Verwaltung, wie hier, auf
die Neuanmeldung zum Leistungsbezug ein, so ist zu prüfen, ob die Veränderung
überwiegend wahrscheinlich eingetreten ist. Als Vergleichsbasis für die
Beurteilung der Frage, ob sich der Invaliditätsgrad bis zum Abschluss des
aktuellen Verwaltungsverfahrens anspruchserheblich verändert hat, dient die
letzte rechtskräftige Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des
Rentenanspruchs mit rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und
Durchführung eines Einkommensvergleichs beruht (BGE 130 V 71; SVR 2010 IV Nr.
54 S. 167, 9C_899/2009).
Die bloss auf einer anderen Wertung beruhende medizinische oder rechtliche
Einschätzung von im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen Verhältnissen
führt nicht zu einer materiellen Revision resp. zu einer Zusprechung von
Leistungen nach Neuanmeldung (BGE 115 V 308 E. 4a/bb S. 313; SVR 2012 IV Nr. 18
S. 81 E. 4.1, 9C_418/2010). Ist eine anspruchserhebliche Änderung des
Sachverhalts nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt, bleibt es
nach dem Grundsatz der materiellen Beweislast beim bisherigen Rechtszustand
(vgl. aber SVR 2010 IV Nr. 30 S. 94, 9C_961/2008 E. 6.3).

3.
Strittig ist, ob seit der letzten Ablehnung des Rentengesuchs (Verfügung vom
19. Dezember 2007) bis zur jetzt strittigen Verfügung vom 4. Februar 2011 eine
anspruchserhebliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten
ist, respektive, ob diese Frage einer gutachtlichen Klärung bedarf.

3.1 Die letzte rechtskräftige Ablehnung des Leistungsanspruchs Ende 2007 fusste
auf den im Herbst 2007 erhobenen Schlussfolgerungen der MEDAS (Gutachten vom 1.
Oktober 2007). Die Sachverständigen hatten keine Diagnosen mit Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit erhoben. Adipositas mit metabolischem Syndrom (Bluthochdruck,
Diabetes) und obstruktivem Schlafapnoe-Syndrom, hypertensive Kardiopathie,
chronisch obstruktive Pneumopathie und venöse Insuffizienz im Bereich der
unteren Extremitäten, chronisch rezidivierendes lumbospondylogenes
Schmerzsyndrom mit radikulären Ausstrahlungen, leichtes Schulterleiden
(Periarthropathia humeroscapularis tendomyotica) sowie weitere Befunde
beeinflussten die Arbeitsfähigkeit nicht. Auch aus den sehr gering ausgeprägten
Residualbeschwerden nach einer früheren depressiven Episode resultierten keine
Funktionsbeeinträchtigungen; tageweise anhaltende depressive
Verstimmungszustände hielten den Versicherten nicht davon ab, seine sozialen
Aktivitäten aufrechtzuerhalten. Daher sei der Versicherte in leichten,
intermittierend mittelschweren Tätigkeiten ohne häufige Überkopfarbeiten und
ohne repetitive Kraftanwendungen "rotatorischer oder elevatorischer Art im
rechten Schultergürtel" vollständig arbeitsfähig.
Demgegenüber hatten die behandelnden Ärzte (Dr. S.________, Internist, und Dr.
G.________, Psychiater) zum damaligen Zeitpunkt zusammengefasst angenommen, die
verschiedenen körperlichen Leiden trügen zu einer mittel- bis schwergradigen
depressiven Episode bei, die weitgehend behandlungsresistent sei und eine
Arbeitsunfähigkeit von mindestens 80 Prozent bewirke.

3.2 Bei der aktuellen Neuanmeldung stützt sich der Beschwerdeführer auf den
Austrittsbericht des Sanatoriums X.________ vom 18. Februar 2010 sowie auf die
Berichte des Psychiaters Dr. G.________ vom 5. Juli 2010 und des Internisten
Dr. S.________ vom 17. September 2010. Gemäss diesen Unterlagen hat sich sein
Gesundheitszustand nach der MEDAS-Begutachtung im Herbst 2007, vor allem seit
Sommer 2009, deutlich verschlechtert. Statt wie vorher eine mittelgradige
depressive Störung liege jetzt eine rezidivierende mittel- bis schwergradige
depressive Episode mit ausgeprägtem Antriebsmangel und Suizidgedanken vor. Die
Arbeitsunfähigkeit von 80 (resp. 100) Prozent sei ausserdem auf einen
intellektuellen Abbau infolge eines Schlafapnoe-Syndroms und eines Diabetes
zurückzuführen.
3.3
3.3.1 Beruhen neue medizinische Einschätzungen, was der Regelfall sein dürfte,
auf denjenigen Massstäben, auf welche bei der früheren Anspruchsbeurteilung
rechtlich nicht abgestellt wurde, kann der Versicherte nicht geltend machen, es
zeige sich anhand der aktuellen Berichte eine deutliche Verschlechterung des
Gesundheitszustandes. Daher ist auch nicht stets ein neues
Administrativgutachten einzuholen, wenn die Verwaltung trotzdem auf ein Gesuch
nach Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV eingetreten ist. Darauf kann solange verzichtet
werden, wie aufgrund einer Analyse der neu vorliegenden medizinischen
Unterlagen angenommen werden muss, es würden sich lediglich die im früheren
Verfahren bestehenden Unterschiede in der Beurteilung unverändert fortsetzen.
3.3.2 Anders verhält es sich, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die
Einschätzung der behandelnden Ärzte durch neu eingetretene tatsächliche
Verhältnisse begründet sein könnte. In einem solchen Fall greift die
vorinstanzliche Überlegung zu kurz, es könne im Rahmen des Revisions- bzw.
Neuanmeldungsverfahrens nicht angehen, die aktuellen ärztlichen Feststellungen
nur am früher beweismässig vorrangigen MEDAS-Gutachten zu messen, wenn die
behandelnden Ärzte den Gesundheitszustand schon damals abweichend von den
Administrativexperten als viel gravierender eingestuft hätten.
3.3.3 Die Aktenlage erlaubt hier keinen direkten Vergleich der aktuellen
Unterlagen mit denjenigen zum Referenzzeitpunkt Ende 2007, da nur eine
Berichterstattung der (teilweise bereits damals referierenden) behandelnden
Ärzte vorliegt, nicht aber auch eine aktualisierte Begutachtung. Denn es wird
zwar einerseits ein ähnliches Zustandsbild wie 2007 geschildert, anderseits
aber auch eine nach der MEDAS-Begutachtung eingetretene Verschlechterung des
Gesundheitszustandes (vgl. vor allem den Bericht des Dr. G.________ vom 5. Juli
2010). Daher ist nach dem hiervor Gesagten die abschliessende vorinstanzliche
Feststellung, wonach sich die gesundheitlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der
strittigen Administrativverfügung vom 4. Februar 2011 gegenüber denjenigen Ende
2007 (Referenzzeitpunkt gemäss BGE 130 V 71; oben E. 2) nicht als
anspruchswesentlich verschlechtert darstellten, nicht bundesrechtskonform (Art.
43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG; vgl. E. 1). Die Sache bedarf weiterer
Abklärung. Da die offene Frage noch nicht gutachtlich angegangen worden ist,
wird die Angelegenheit zur Einholung einer psychiatrischen Expertise an die
Verwaltung zurückgewiesen (vgl. BGE 137 V 210 E. 4.4.1.4 S. 264).

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem anwaltlich vertretenen
Beschwerdeführer stehen Parteientschädigungen zu (Art. 68 Abs. 1 und 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 10. April 2012 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Zürich vom 4. Februar 2011 werden aufgehoben. Die Sache wird an die
IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen, über den Rentenanspruch neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Dezember 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Traub