Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 477/2012
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_477/2012

Urteil vom 21. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
1. Shiatsu Gesellschaft Schweiz (SGS),
2. X.________,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Martin Looser,
Beschwerdeführerinnen,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburger-strasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung (Beitragsstatut;
Feststellungsinteresse),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungs-gerichts des Kantons Aargau
vom 17. April 2012.

Sachverhalt:

A.
Im Nachgang an eine Arbeitgeberkontrolle bei der Shiatsu Gesellschaft Schweiz
verfügte die Ausgleichskasse des Kantons Aargau am 30. Juli 2010, dass sowohl
die festen als auch die variablen Entschädigungen der Vorstandsmitglieder als
massgebender Lohn aus unselbständiger Erwerbstätigkeit gälten und ab 1. Januar
2010 entsprechend über die Lohnbescheinigung abzurechnen seien. Die Einsprache
der Gesellschaft sowie der beiden Vorstandsmitglieder X.________ und Y.________
wies sie mit Entscheid vom 24. November 2010 ab.

B.
Die von der Shiatsu Gesellschaft Schweiz, X.________ und Y.________ erhobene
Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom
17. April 2012 ab.

C.
Die Shiatsu Gesellschaft Schweiz (Beschwerdeführerin 1) und X.________
(Beschwerdeführerin 2) führen gemeinsam Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem hauptsächlichen Rechtsbegehren, es sei der Entscheid
vom 17. April 2012 aufzuheben und darauf zu verzichten, die im Rahmen von
Mandaten anfallenden Bezüge der Vorstandsmitglieder, welche zusätzlich zur
Pauschale für die Vorstandstätigkeit von CHF 3'500.- jährlich in Rechnung
gestellt werden, als Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit
(massgebender Lohn) abrechnen zu lassen.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen die formellen Gültigkeitserfordernisse
auch des vorinstanzlichen Verfahrens. Der angefochtene Entscheid ist
aufzuheben, wenn das kantonale Versicherungsgericht in der Sache entschieden
hat, obschon es an einer Eintretensvoraussetzung fehlte (BGE 136 V 7 E. 2 S. 9;
135 V 124 E. 3.1 S. 127; Urteil 9C_143/2012 vom 22. März 2012 E. 1).

2.
Der Anfechtungsgegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens bildende
Einspracheentscheid vom 24. November 2010 (Urteil 9C_185/2011 vom 15. September
2011 E. 1.1) bestätigt die Verfügung vom 30. Juli 2010 über die
sozialversicherungsrechtliche Stellung der Vorstandsmitglieder der Shiatsu
Gesellschaft Schweiz für die Zeit ab 1. Januar 2010. Es handelt sich somit um
eine Feststellungsverfügung im Sinne von Art. 49 Abs. 2 ATSG (und Art. 5 Abs. 1
lit. b sowie Art. 25 Abs. 2 VwVG).

2.1 Gemäss Art. 49 ATSG hat der Versicherungsträger über Leistungen,
Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene
Person nicht einverstanden ist, schriftlich Verfügungen zu erlassen (Abs. 1).
Dem Begehren um Erlass einer Feststellungsverfügung ist zu entsprechen, wenn
die gesuchstellende Person ein schützenswertes Interesse glaubhaft macht (Abs.
2). Erforderlich ist ein rechtliches oder tatsächliches und aktuelles Interesse
an der sofortigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines
Rechtsverhältnisses, dem keine erheblichen öffentlichen oder privaten
Interessen entgegenstehen, und welches nicht durch eine rechtsgestaltende
Verfügung gewahrt werden kann (BGE 132 V 257 E.1 S. 259 mit Hinweisen).
Bei Verfügungen über das AHV-Beitragsstatut bejaht die Gerichtspraxis ein
Feststellungsinteresse namentlich bei komplizierten Verhältnissen, wo der mit
der Abrechnung über paritätische Beiträge verbundene Arbeitsaufwand oft nur
dann zumutbar ist, wenn bereits feststeht, dass eine unselbständige
Erwerbstätigkeit ausgeübt wird und die Abrechnungs- und Beitragszahlungspflicht
der als Arbeitgeber oder Arbeitgeberin angesprochenen Person erstellt ist. Für
die Bejahung eines schutzwürdigen resp. schützenswerten Interesses im
dargelegten Sinne sprechen u.a. die grosse Zahl von betroffenen Versicherten
und der Umstand, dass die Rechtsfrage nach dem Beitragsstatut wegen besonderer
Verhältnisse neuartig ist (BGE 132 V 257 E. 2.1 und 2.2 mit zahlreichen
Hinweisen).

2.2 Vorliegend kann aus beitragsrechtlicher Sicht nicht von komplexen
Verhältnissen gesprochen werden (ZAK 1986 S. 48, H 80/85). Der Vorstand der
Beschwerdeführerin 1 besteht gemäss Art. 23 ihrer Statuten aus maximal sieben
Personen (vgl. BGE 112 V 81; anders AHI 2001 S. 218, H 290/99, ZAK 1978 S. 458,
H 147/76 und EVGE 1960 S. 219). Weiter stellen sich keine neuartigen Fragen
(vgl. BGE 129 V 289 und ZAK 1978 S. 458, H 147/76). Es geht hauptsächlich
darum, inwieweit die verschiedenen Tätigkeiten mehr oder weniger eng mit der
Funktion als Vorstandsmitglied verbunden sind. Schliesslich zeigen die Akten,
dass die Tätigkeiten der einzelnen Vorstandsmitglieder unterschiedlich sind,
was einer jeweils gesonderten Prüfung ruft (vgl. BGE 102 V 148 und ZAK 1973 S.
514, H 50/72; anders EVGE 1960 S. 219).

Es bestehen somit keine triftigen Gründe, die beitragsrechtliche Stellung der
Vorstandsmitglieder der Beschwerdeführerin 1 nicht im Rahmen einer
(rechtsgestaltenden) individuellen Verfügung über paritätische Beiträge
festzulegen.

3.
Nach dem Gesagten hätte die Vorinstanz den die Verfügung vom 30. Juli 2010
bestätigenden Einspracheentscheid vom 24. November 2010 mit der Begründung des
fehlenden schutzwürdigen Interesses an der Feststellung der beitragsrechtlichen
Stellung der Vorstandsmitglieder der Beschwerdeführerin 1 aufheben müssen, ohne
materiell in der Sache zu entscheiden (BGE 129 V 289). In diesem formellen
Sinne ist die Beschwerde gutzuheissen.

4.
Auf einen Schriftenwechsel wird angesichts des Verfahrensausgangs, der auf
formellen Gründen beruht, verzichtet. Die Einholung einer Vernehmlassung zur
Beschwerde, die ausschliesslich materiellen Inhalts ist, käme einem Leerlauf
gleich und würde nur weitere Kosten verursachen. Damit ist aus Gründen der
Prozessökonomie ein Schriftenwechsel nicht erforderlich (Art. 102 Abs. 1 a.A.
BGG).

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und den Beschwerdeführerinnen
eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. April 2012 und der
Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 24. November
2010 werden aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 900.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerinnen für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. September 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler