Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 446/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_446/2012 {T 0/2}

Urteil vom 16. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Giuseppe Dell'Olivo-Wyss,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 17. April 2012.

Sachverhalt:

A.
A.a K.________, geboren 1965, ist Mutter von zwei Kindern (geboren 1998 und
2002). Sie leidet seit Geburt an einem perinatalen hirnorganischen
Psychosyndrom mit verminderter intellektueller Leistungsfähigkeit. Nach
Abschluss der Hilfsschule besuchte sie ein Jahr die Werkklasse. Anschliessend
absolvierte sie eine Haushaltsausbildung (1981 - 1983) und eine Ausbildung zur
Gärtnereigehilfin (1987 - 1989). Sie arbeitete dann rund eineinhalb Jahre in
einer Gärtnerei. Es kam dort zu einer Überforderung und die Versicherte
wechselte in die geschützten Werkstätten Stiftung X.________, wo sie bis zur
Geburt des ersten Kindes arbeitete.
A.b Die IV-Kommission des Kantons Aargau sprach K.________ mit Verfügung vom 2.
August 1983 ab dem 1. August 1983 eine halbe Invalidenrente zu. Aufgrund eines
am 26. November 1984 eingereichten Revisionsgesuches sprach sie der
Versicherten mit Verfügung vom 12. März 1985 rückwirkend ab 1. November 1984
eine ganze Rente zu. Der Anspruch wurde in den nachfolgenden Revisionsverfahren
bestätigt. K.________ steht seit dem 13. Mai 2008 unter Beistandschaft.
A.c Im Juni 2009 leitete die IV-Stelle des Kantons Aargau erneut eine
Überprüfung der Invalidenrente ein. Sie untersuchte die medizinischen und
wirtschaftlichen Verhältnisse und führte am 23. März 2010 eine Abklärung im
Haushalt durch (Bericht vom 30. März 2010). Bei der MEDAS gab sie ein
psychiatrisch-neuropsychologisch-internistisches Gutachten (vom 21. Februar
2011) in Auftrag. Die Experten führten aus, K.________ sei in der freien
Marktwirtschaft höchstens zu 20 % mit einer Leistungsminderung von 40 %
arbeitsfähig. Sie sei einem Arbeitsumfeld oder Arbeitgeber nur begrenzt
zumutbar. Bei einer ausserhäuslichen Tätigkeit benötige sie die Supervision
durch Vorgesetzte. Eine Tätigkeit im geschützten Rahmen sei K.________ während
vier bis acht Stunden täglich mit einer Leistungsminderung von 40 % zumutbar.
Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verfügte die IV-Stelle am 18. Mai
2011 die Herabsetzung des Anspruchs auf eine Viertelsrente ab 1. Juli 2011.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 17. April 2012 ab.

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen;
sie beantragt Aufhebung des angefochtenen Entscheides; die IV-Stelle sei zu
verpflichten, ihr ab 1. Juli 2011 eine halbe Invalidenrente zuzusprechen;
ferner ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
Während Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen auf Vernehmlassung
verzichten, beantragt die IV-Stelle Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
(Art. 82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Zu den Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 95
lit. a BGG gehören auch die unvollständige Feststellung der rechtserheblichen
Tatsachen und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes als einer
wesentlichen Verfahrensvorschrift (Urteil 9C_53/2008 vom 18. Februar 2009 E.
1.3 mit Hinweisen).

1.2 Die vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand, d.h. die
Befunderhebung, die gestützt darauf gestellte Diagnose und die ärztliche
Stellungnahme zum noch vorhandenen Leistungsvermögen oder (bei psychischen
Gesundheitsschäden) zur Verfügbarkeit von Ressourcen der versicherten Person
sowie die aufgrund der medizinischen Untersuchungen gerichtlich konstatierte
Arbeits(un)fähigkeit betreffen Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398), welche
sich nach der in E. 1.1 dargelegten Regelung der Kognition einer Überprüfung
durch das Bundesgericht weitgehend entziehen und die es seiner Urteilsfindung
zugrunde zu legen hat. Gleiches gilt für die Frage, ob sich eine Arbeits(un)
fähigkeit in einem bestimmten Zeitraum in einem revisionsrechtlich relevanten
Sinne verändert hat (vgl. Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4). Die
konkrete Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar (BGE 132 V 393 E.
3.3 S. 399; Urteil 8C_740/2010 vom 29. September 2011 E. 2.2).

1.3 Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (132 V 393 E. 3.2
und 4 S. 397 ff.; erwähntes Urteil I 865/06 E. 4 mit Hinweisen), die das
Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw.
Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E.
1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG). Soweit die
Zumutbarkeit von Arbeitsleistungen basierend auf der allgemeinen
Lebenserfahrung beurteilt wird, geht es ebenfalls um eine Rechtsfrage (BGE 132
V 393 E. 3.2 S. 398).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Die zur
Beurteilung massgebenden gesetzlichen Bestimmungen und die von der
Rechtsprechung formulierten Grundsätze dazu sind im vorinstanzlichen Entscheid
zutreffend dargelegt. Dies gilt insbesondere auch für die Festsetzung des
Invaliditätsgrades nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG, Art. 28a
Abs. 1 IVG) und der gemischten Methode (Art. 28a Abs. 2 und 3 IVG; BGE 130 V
393 E. 3.3 S. 395 f., s.a. BGE 134 V 9) sowie die Ausführungen zum Beweiswert
von medizinischen Berichten und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.).

3.
Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin erheblich, so wird die
Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht,
herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision
gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit
Zusprechung der Rente, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den
Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere ist die Rente bei einer wesentlichen
Änderung des Gesundheitszustandes oder der erwerblichen Auswirkungen des an
sich gleich gebliebenen Gesundheitszustandes revidierbar (BGE 134 V 131 E. 3 S.
132).

4.
Laut der angefochtenen Verfügung vom 18. Mai 2011 ersetzt diese die Verfügung
vom 13. August 2002 und berücksichtigt die neuen Verhältnisse. Gemeint ist
damit, dass nach der Geburt der beiden Kinder (1998 und 2002) ein Statuswechsel
der Versicherten erfolgt sei und diesem (laut Begründung der Verfügung)
offensichtlich zu Unrecht nicht schon früher durch einen Wechsel der
Bemessungsmethode Rechnung getragen wurde. Hierzu hält die IV-Stelle jedoch
fest, dass die Beschwerdeführerin damals ihrer Meldepflicht nachgekommen war.
Die seit 1997 verheiratete und inzwischen gerichtlich getrennt lebende
Beschwerdeführerin räumt beschwerdeweise ein, dass die zwei schulpflichtigen
Kinder bei ihr wohnen und sie vorerst ohne gesundheitliche Einschränkung nicht
einer 80%igen, sondern einer 50%igen Erwerbstätigkeit nachgehen würde. Ebenso
anerkennt sie das von der Vorinstanz im Einkommensvergleich dafür
berücksichtigte hypothetische Valideneinkommen von Fr. 37'500.-.

5.
Gerügt ist die im Rahmen des Einkommensvergleichs erfolgte Bestimmung des
hypothetischen Invalideneinkommens. In der Verfügung ist ein solches von Fr.
6'309.- vorgesehen, die Vorinstanz setzte es auf Fr. 6'000.- fest.

5.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe das
MEDAS-Gutachten vom 21. Februar 2011 als umfassend und voll beweiswertig
qualifiziert. Nach der Einschätzung der Experten sei ihr nur eine Tätigkeit in
einem geschützten Rahmen zumutbar und selbst dann mit einer Leistungsminderung
von 40 % zu rechnen. Darum hält die Versicherte fest, es dürfe nicht auf eine
im Arbeitsmarkt verwertbare Arbeitsleistung geschlossen werden. Bei einer nach
dem Gutachten zumutbaren ausserhäuslichen Tätigkeit von wöchentlich zweimal
vier Stunden und einer Leistungseinbusse von 40 % bestehe (auch in geschütztem
Rahmen) effektiv eine Arbeitsfähigkeit von 12 %. Eine solche
Resterwerbsfähigkeit sei offensichtlich nicht verwertbar. Im ausserhäuslichen
Bereich betrage der Invaliditätsgrad somit 100 %.

5.2 Der Einwand gegen die Festsetzung eines hypothetischen Invalideneinkommens
ist begründet. Das trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung zumutbarerweise
erzielbare Einkommen ist bezogen auf einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu
ermitteln. Dabei sind an die Konkretisierung von Arbeitsgelegenheiten und
Verdienstaussichten keine übermässigen Anforderungen zu stellen (im Einzelnen:
Urteil 9C_830/2007 vom 29. Juli 2008 E. 5.1 mit Hinweisen, publiziert in: SVR
2008 IV Nr. 62 S. 203). Persönliche und berufliche Gegebenheiten können dazu
führen, dass die einer versicherten Person verbliebene Resterwerbsfähigkeit auf
dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt wird
und ihr deren Verwertung auch gestützt auf die Selbsteingliederungspflicht
nicht mehr zumutbar ist. Fehlt es an einer wirtschaftlich verwertbaren
Resterwerbsfähigkeit, liegt eine vollständige Erwerbsunfähigkeit vor (Urteil I
831/05 vom 21. August 2006 E. 4.1.1 mit Hinweisen). Die Möglichkeit der
Versicherten, das verbliebene Leistungsvermögen auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt zu verwerten, lässt sich nicht nach einer allgemeinen Regel
bemessen, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Massgebend können
die Art und Beschaffenheit des Gesundheitsschadens und seiner Folgen, der
absehbare Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand und in diesem Zusammenhang auch
die Persönlichkeitsstruktur, vorhandene Begabungen und Fertigkeiten,
Ausbildung, beruflicher Werdegang oder Anwendbarkeit von Berufserfahrung aus
dem angestammten Bereich sein (vgl. Urteil 9C_153/2011 vom 22. März 2012 E. 3
mit Hinweisen).

5.3 Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass sie bei ihrem
Anforderungs- und Belastungsprofil und mit einer durch die 40%ige
Leistungsminderung zusätzlich begrenzten Arbeitsfähigkeit von lediglich 20 %
nach der allgemeinen Lebenserfahrung (vorne E. 1.3) in einem Masse
eingeschränkt ist, dass von einer wirtschaftlich verwertbaren
Resterwerbsfähigkeit nicht mehr gesprochen werden kann. Im Moment der
Rentenreduktion auf den 1. Juli 2011 war die Beschwerdeführerin denn auch
bereits dreizehn Jahre aus dem Arbeitsleben ausgeschieden (seit der Geburt der
Tochter 1998) und bezog schon bald siebenundzwanzig Jahre eine ganze
Invalidenrente (seit dem 1. November 1984). Nach dem MEDAS-Gutachten, welches
sämtliche zum Beweiswert gestellten Anforderungen erfüllt (vorne E. 2), ist sie
aufgrund der cerebralen Einschränkung in der freien Marktwirtschaft als nicht
arbeitsfähig anzusehen. Die vorinstanzliche Einschätzung, bei einer
vollzeitlichen Erwerbstätigkeit könnte die Beschwerdeführerin mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit monatlich rund Fr. 1'000.- verdienen, ist nicht realistisch.
Da es an einer wirtschaftlich verwertbaren Resterwerbsfähigkeit fehlt, liegt
eine vollständige Erwerbsunfähigkeit vor (vorne E. 5.2). Unter Berücksichtigung
der unumstrittenen Einschränkung von 8 % im Haushalt resultiert bei einem
Anteil von je 50 % Erwerbstätigkeit und Haushaltsarbeit nach der gemischten
Berechnungsmethode ein Gesamtinvaliditätsgrad von 54 %. Die Beschwerdeführerin
hat ab 1. Juli 2011 (Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV), wie beantragt, Anspruch auf
eine halbe Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG).

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat der
Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.
1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 17. April 2012 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons
Aargau vom 18. Mai 2011 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die
Beschwerdeführerin ab 1. Juli 2011 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. November 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Schmutz