Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 429/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_429/2012 {T 0/2}

Urteil vom 19. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella,
Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap, lic.iur. Claudia
Pascali-Armanaschi,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern,
Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 10. April 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 12. Februar 2008, welche sich in medizinischer Hinsicht auf
ein polydisziplinäres Gutachten des Instituts X.________, vom 16. Juli 2007
stützte, sprach die IV-Stelle Bern S.________ rückwirkend ab 1. Januar 2003
eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zu. Die hiegegen eingereichte
Beschwerde mit dem Rechtsbegehren um Gewährung einer halben statt der
Viertelsrente zog der Versicherte am 27. April 2010 zurück, nachdem ihm seitens
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern eine mögliche Schlechterstellung in
Aussicht gestellt und Gelegenheit zum Rückzug des Rechtsmittels gegeben worden
war. Mit Entscheid vom 28. April 2010 schrieb das Verwaltungsgericht das
Verfahren vom Geschäftsprotokoll ab.
Im Dezember 2010 leitete die IV-Stelle Bern von Amtes wegen ein
Revisionsverfahren ein. S.________ erklärte, sein Gesundheitszustand habe sich
seit 2007 verschlimmert. Nach Beizug verschiedener Arztberichte hob die
IV-Stelle die Verfügung vom 12. Februar 2008 zu Folge zweifelloser
Unrichtigkeit am 6. Oktober 2011 auf Ende November 2011 wiedererwägungsweise
auf.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher der Versicherte beantragt hatte,
die Wiedererwägungsverfügung sei aufzuheben und es sei ihm weiterhin eine
Invalidenrente auszurichten, hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
teilweise gut und hob die angefochtene Verfügung vom 6. Oktober 2011 insoweit
auf, als es die Sache zur Vornahme weiterer Abklärungen über den
Gesundheitszustand des Versicherten bei Erlass dieser Verfügung und neuer
Entscheidung an die IV-Stelle zurückwies; soweit die Wiedererwägung der
Verfügung vom 12. Februar 2008 betreffend, wies es die Beschwerde ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt S.________
beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei soweit aufzuheben, als er die
Verfügung vom 6. Oktober 2011 bestätigt. Ferner ersucht er um die Bewilligung
der unentgeltlichen Rechtspflege.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu
Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Der vorinstanzliche Entscheid ist nur insoweit angefochten, als das
Verwaltungsgericht die Wiedererwägungsverfügung der IV-Stelle vom 6. Oktober
2011 bestätigt hat. Streitig und zu prüfen ist daher, ob die Vorinstanz die
Wiedererwägungsvoraussetzungen zu Recht bejaht hat.

2.1 Gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese
zweifellos unrichtig sind und wenn jede Berichtigung von erheblicher Bedeutung
ist. Die Wiedererwägung dient der nachträglichen Korrektur einer ursprünglich
unrichtigen Rechtsanwendung oder Sachverhaltsfeststellung durch die Verwaltung
(BGE 117 V 8 E. 2c S. 17). Während die Feststellungen, welche der Beurteilung
des Rechtsbegriffs der zweifellosen Unrichtigkeit zu Grunde liegen,
tatsächlicher Natur und dementsprechend nur beschränkt überprüfbar sind, ist
die Auslegung des bundesrechtlichen Begriffs der zweifellosen Unrichtigkeit als
Wiedererwägungsvoraussetzung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG Bundesrechtsfrage, die
frei zu beurteilen ist (SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213).

2.2 Die Wiedererwägung rechtskräftiger Verfügungen fällt nur in Betracht, wenn
es um die Korrektur grober Fehler der Verwaltung geht (ZAK 1988 S. 255 E. 2b).
Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran möglich
ist, dass die Verfügung unrichtig war. Es ist nur ein einziger Schluss -
derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar (SVR 2010 IV Nr. 5 S.
10; 8C_1012/2008). Zurückhaltung ist bei der Annahme zweifelloser Unrichtigkeit
stets dann geboten, wenn der Wiedererwägungsgrund eine materielle
Anspruchsvoraussetzung betrifft, deren Beurteilung massgeblich auf Schätzungen
oder Beweiswürdigung und damit auf Elementen beruht, die notwendigerweise
Ermessenszüge aufweisen. Eine vor dem Hintergrund der seinerzeitigen
Rechtspraxis vertretbare Beurteilung der (invaliditätsmässigen)
Anspruchsvoraussetzungen kann nicht zweifellos unrichtig sein (SZS 2012 S. 68;
8C_962/2010).

3.
3.1 In Übereinstimmung mit der IV-Stelle gelangte das kantonale Gericht zum
Schluss, die rentenzusprechende Verfügung vom 12. Februar 2008 sei als
zweifellos unrichtig zu qualifizieren. Aus den Arztberichten gehe hervor, dass
die Leistungsfähigkeit aus psychischen Gründen um 20 % reduziert war. Bei der
diagnostizierten somatoformen Schmerzstörung bestehe rechtsprechungsgemäss die
Vermutung, dass die entsprechende Störung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren
Willensanstrengung überwindbar sind. Da die Kriterien, bei deren Vorliegen die
Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen sind, nicht
gegeben waren, sei der Versicherte im Zeitpunkt der Rentenzusprechung
iv-rechtlich in psychischer Hinsicht nicht in seiner Arbeitsfähigkeit
eingeschränkt gewesen.

3.2 Der Beschwerdeführer bestreitet, dass die Wiedererwägungsvoraussetzungen
gegeben seien. Die Gutachter des Instituts X.________ hätten in der Expertise
vom 16. Juli 2007 einen Einsatz von 6 Stunden im Tag, mit einer Einschränkung
von 20 %, in einer angepassten Tätigkeit als zumutbar erachtet. Entgegen den
Ausführungen der Vorinstanz habe im Begutachtungszeitpunkt nicht
ausschliesslich eine somatoforme Schmerzstörung vorgelegen. Vielmehr habe nebst
einer psychischen Komorbidität (mittelgradige depressive Episode) aufgrund der
somatischen Befunde eine Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit bestanden. Bei
Erlass der Verwaltungsverfügung vom 12. Februar 2008 sei die Rechtsprechung
davon ausgegangen, dass eine mittelgradige depressive Episode eine psychische
Komorbidität zu begründen vermochte. Ein anderslautender Entscheid des
Bundesgerichts datiere vom 29. Januar 2008 (9C_214/2007) und sei daher noch
nicht bekannt gewesen. Aufgrund der geltenden Rechtspraxis sei die
Invalidenrente somit zu Recht zugesprochen worden.
3.3
3.3.1 Der Psychiater des Instituts X.________, Dr. med. N.________, hatte im
Gutachten vom 16. Juli 2007 nebst einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung
eine mittelgradige depressive Episode (F 32.1) diagnostiziert. Entsprechend den
Ausführungen in der Beschwerde mag es zutreffen, dass zum Zeitpunkt des
Erlasses der Rentenverfügung vom 12. Februar 2008 nicht völlig klar war, ob
eine mittelgradige depressive Episode eine psychische Komorbidität begründen
könne. Die vom Versicherten erwähnten, aus jener Zeitspanne stammenden Urteile
des Bundesgerichts könnten in der Tat einer unterschiedlichen Interpretation
zugänglich sein. Während im Urteil I 176/06 vom 26. Februar 2007 E. 5.1 (SVR
2008 IV Nr. 1 S. 1) davon auszugehen war, dass eine mittelschwere bis schwere
depressive Episode eine psychische Komorbidität bewirkt habe, wurde im Urteil
9C_214/2007 vom 29. Januar 2008 erkannt, eine mittelgradige depressive Episode
könne nicht als psychische Komorbidität gelten. Wie diese beiden Urteile mit
Bezug auf die Komorbidität einer mittelgradigen depressiven Episode zu
verstehen sind, braucht vorliegend nicht geprüft zu werden.
3.3.2 Gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz bescheinigte der
Rheumatologe Dr. C.________ im Teilgutachten des Instituts X.________ vom 27.
März 2007 dem Beschwerdeführer aus somatischen Gründen in einer
leidensangepassten Tätigkeit eine ganztägige Arbeitsfähigkeit mit einer
Leistungseinschränkung von 20 bis 25 %. Der Arzt führte des Weiteren aus, die
Leistungseinbusse sei zumindest medizinisch-theoretisch durch ein
Kreislauftraining und eine medizinische Trainingstherapie korrigierbar.

3.4 Diese auch dem angefochtenen Entscheid zu Grunde liegenden ärztlichen
Aussagen vermögen die vorinstanzliche Annahme, die Verfügung vom 12. Februar
2008 sei zweifellos unrichtig, nicht zu begründen. Schon allein mit Blick auf
den somatischen Gesundheitszustand, unbesehen des psychischen
Gesundheitsschadens des Versicherten, lässt sich die verfügte Zusprechung einer
Viertelsrente ab 1. Januar 2003 nicht als derart unzutreffend bezeichnen, dass
kein vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit der Verfügung möglich wäre,
zumal die Rentengewährung massgeblich auf einer Beweiswürdigung beruht, welcher
Ermessenszüge inhärent sind. Der Umstand, dass Dr. med. C.________
medizinisch-theoretisch eine Korrektur der verminderten Leistungsfähigkeit für
möglich hielt, ist nicht entscheidend. Zum Zeitpunkt der Begutachtung lag eine
teilweise Arbeitsunfähigkeit aus rheumatologischer Sicht vor, und die von Dr.
med. C.________ gewählte Formulierung zeigt, dass eine Steigerung der
Leistungsfähigkeit aus praktischer Sicht eher unwahrscheinlich erschien.
Unter Mitberücksichtigung des psychischen Gesundheitszustandes kann von
zweifelloser Unrichtigkeit der Verfügung vom 12. Februar 2008 vollends nicht
gesprochen werden. Aus den vorstehend dargelegten Gründen war zumindest
fraglich, ob die somatoforme Schmerzstörung infolge einer psychischen
Komorbidität invalidisierenden Charakter aufwies, was der Annahme zweifelloser
Unrichtigkeit jedenfalls entgegen steht.

3.5 Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht, indem er den Begriff der
zweifellosen Unrichtigkeit, welche für die Wiedererwägung einer formell
rechtskräftigen Verfügung vorausgesetzt ist, unrichtig auslegt, was praktisch
einer nachträglichen Neubeurteilung Kraft besserer Erkenntnis gleichkommt. Das
ist nicht der Rechtssinn von Art. 53 Abs. 2 ATSG.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG). Dementsprechend ist das Gesuch des Beschwerdeführers um
unentgeltliche Prozessführung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 10. April 2012 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 6.
Oktober 2011, je soweit die Wiedererwägung der Verfügung der IV-Stelle Bern vom
12. Februar 2008 betreffend, aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Bern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. September 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer