Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 417/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_417/2012

Urteil vom 15. Oktober 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Verfahrensbeteiligte
P.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Roland Zahner,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse
13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 18. April 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1959 geborene P.________ arbeitete seit April 1993 als Mitarbeiterin in der
Cafeteria/Küche der X._________. Am 6. April 2009 meldete sie sich wegen eines
Diabetes, einer Osteoporose und eines verengten Nervenkanals C5-C6 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Einholung der medizinischen
und beruflichen Unterlagen führte die IV-Stelle des Kantons Thurgau
arbeitsplatzerhaltende Massnahmen durch und liess die Versicherte an der MEDAS
des Spitals Y.________ polydisziplinär abklären (Gutachten vom 28. Februar
2011). Mit Verfügung vom 22. September 2011 sprach sie ihr eine befristete
halbe Invalidenrente vom 1. November 2009 bis 31. Mai 2011 zu.

B.
Die von P.________ dagegen erhobene Beschwerde mit Einreichung ergänzender
medizinischer Unterlagen und mit einem Antrag, es sei eine unbefristete halbe
Invalidenrente über den 31. Mai 2011 hinaus auszurichten, wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 18. April 2012 in dem
Sinne ab, dass die angefochtene Verfügung nach Gewährung des rechtlichen Gehörs
zu einer allfälligen reformatio in peius ersatzlos aufgehoben und festgestellt
wurde, der Beschwerdeführerin stehe keine Invalidenrente zu.

C.
P.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sowie unter Kosten- und
Entschädigungsfolgen, auch für das erstinstanzliche Gerichtsverfahren, sei ihr
für die Zeitspanne vom 1. November 2009 bis 31. Mai 2011 eine befristete halbe
Rente zuzusprechen und für die Zeit ab 1. Juni 2011 die Sache zur neuerlichen
Abklärung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und
wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein
kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine halbe
Invalidenrente ab dem 1. November 2009, nachdem ihr eine halbe befristete Rente
ab jenem Datum bis Ende Mai 2011 zugesprochen worden war und diese durch das
kantonale Gericht ersatzlos aufgehoben wurde.

2.1 Im vorinstanzlichen Entscheid ist das kantonale Gericht zum Schluss
gelangt, im MEDAS-Gutachten vom 28. Februar 2011 sei festgestellt worden, dass
zum Zeitpunkt der Begutachtung am Spital Y.________ von einer Arbeitsfähigkeit
von 50 % in der angestammten Tätigkeit und einer solchen von 72 % (6 Stunden
pro Tag, also 30 Stunden pro Woche bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von
41.6 Stunden) in einer angepassten Tätigkeit auszugehen sei. Dass in der Zeit
davor eine längerdauernde höhere Arbeitsunfähigkeit ausgewiesen sein sollte,
ergebe sich aufgrund der medizinischen Akten nicht, und bei gleichbleibenden
Diagnosen habe sich auch der Grad der Arbeitsunfähigkeit seit Sommer 2008 nicht
verändert. Die der Beschwerdeführerin zugesprochene befristete Rente vom 1.
November 2009 bis 31. Mai 2011 sei daher in keiner Weise nachvollziehbar und
müsse im Rahmen der reformatio in peius korrigiert werden, da aufgrund des
Einkommensvergleichs ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 18,5 %
resultiere.

2.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, das polydisziplinäre Gutachten der
MEDAS sei weder schlüssig noch nachvollziehbar. Gemäss dem von ihr nachträglich
beigezogenen beratenden Arzt seien zahlreiche Mängel des Gutachtens benannt
worden. Insbesondere sei in einem zehn Monate später erstellten Bericht des EPD
W.________ (Bericht vom 12. Oktober 2011) von einer mittelgradigen Episode der
Depression die Rede, was die Beschwerdegegnerin hätte veranlassen müssen, eine
Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustandes festzustellen. Auch
bezüglich der Arbeitsunfähigkeit in der Zeitspanne vom 1. November 2009 bis zum
31. Mai 2011 seien die sachverhaltsbezogenen Erwägungen der Vorinstanz
offensichtlich unrichtig und die Behebung des Mangels demzufolge unerlässlich.

2.3 Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin genügt das MEDAS-Gutachten den
rechtlichen Anforderungen. Das "subjektive angegebene schlechte Sehen" stellt
sich im Zusammenhang mit hohem Zucker ein. Es bedurfte keiner weiteren
Abklärung, da es nicht ein zusätzliches Leiden bildet, sondern offenbar eine
Frage der Einstellung der Diabetes ist. Eine somatoforme Schmerzstörung wurde -
in rheumatologischer Hinsicht - differentialdiagnostisch in Betracht gezogen.
Der psychiatrischen Begutachtung lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, die
diesbezügliche Weiterungen notwendig machen würden.
Soweit die Beschwerdeführerin eine mangelnde Differenziertheit der
Beschwerdeanamnesen nach Verlauf, Ausprägung und Beeinflussbarkeit bemängelt,
ist ein damit verbundener Nutzen nicht ersichtlich. Die Anamnese ist die
Vorgeschichte einer Krankheit nach Angaben des Kranken. Die "unsortierte"
Wiedergabe dessen Schilderungen ist daher authentisch(er). Entscheidend ist,
dass die Beschwerdeanamnesen vollständig sind. Die Beschwerdeführerin behauptet
nichts Gegenteiliges.
Es trifft wohl zu, dass in der Diagnoseliste die leichte depressive Episode,
wie sie im psychiatrischen Teilgutachten diagnostiziert wurde, keine Erwähnung
findet. Dabei handelt es sich jedoch offensichtlich um ein (formelles)
Versehen, das von untergeordneter Bedeutung ist, zumal sämtliche
fachspezifischen Erhebungen in die Gesamtbeurteilung miteingeflossen sind.
Der Vorwurf der Aktenwidrigkeit trifft nicht zu. Wie im MEDAS-Gutachten richtig
festgehalten, wurde im Herbst 2010 (Bericht der behandelnden Ärztin,
psychiatrische Dienste Z.________, vom 6. Oktober 2010) "erstmals von
rezidivierenden depressiven Störungen, gegenwärtig mittelgradige Episode mit
somatischem Syndrom, gesprochen". Ebenso wenig liegt eine Widersprüchlichkeit
vor. Im MEDAS-Gutachten wird zwischen einem spondylogenen Schmerzsyndrom am
Nacken und an der Lendenwirbelsäule auf Grund degenerativer Veränderungen und
einem - im Vordergrund stehenden - myofascialen Schmerzsyndrom in den
Weichteilen wegen einer muskulären Dysbalance unterschieden. Anders als die
Beschwerdeführerin glauben zu machen versucht, stimmt auch nicht, dass sich im
Gutachten keine Begründung findet, weshalb der Diabetes keine Auswirkungen auf
die Arbeitsfähigkeit hat. Zumindest implizit ergibt sich eine solche, indem
weder Zeichen für eine diabetische Neuropathie vorlagen noch ein Zusammenhang
zwischen den Weichteilschmerzen und dem Diabetes mellitus erkennbar war.
Was die Einordnung des psychischen Symptomkomplexes betrifft, verhält es sich
nicht so, dass die Gutachter ein depressives Geschehen in Abrede stellten.
Vielmehr qualifizierten sie die geschilderten Leiden insgesamt "nur" als
leichte depressive Episode. Indem im psychiatrischen Teilgutachten ausgeführt
wurde, die Versicherte zeige eine depressive Stimmung in einem ungewöhnlichen
Ausmass, meistens fast täglich, so dient dieser (einleitende) Satz der
Abgrenzung zu einer "normalen" Gemütsverstimmung. Er darf nicht isoliert
gelesen und interpretiert werden, sondern ist im Kontext mit der
anschliessenden Substanziierung und Qualifizierung zu sehen.

2.4 Ein andere Frage ist, inwieweit die gutachterlichen Schlussfolgerungen zur
Arbeitsfähigkeit überzeugen. Sie beschlägt die konkrete Beweiswürdigung und ist
somit Tatfrage, die der eingeschränkten Überprüfung unterliegt (vgl. E. 1). Die
Beschwerdeführerin vermag in diesem Punkt nicht darzulegen, inwiefern der
angefochtene Entscheid offensichtlich unrichtig oder bundesrechtswidrig sein
soll. Insbesondere lässt sie ausser Acht, dass der Bericht der psychiatrischen
Dienste Z.________ vom 12. Oktober 2011, der u.a. von der behandelnden Ärztin
unterzeichnet ist, nach Verfügungserlass ergangen ist und daraus keine
Rückschlüsse auf den hier streitigen Zeitraum gewonnen werden können, da darin
- zeitlich nicht weiter präzisiert - von einer gegenwärtig mittelgradigen
depressiven Episode die Rede ist. Abgesehen davon wird im besagten Bericht vom
12. Oktober 2011 selber eingeräumt, dass sich insgesamt betrachtet eine gewisse
Stabilisierung ergeben habe. Im Weiteren beziehen sich die (anderweitig)
aktenkundig attestierten Arbeitsunfähigkeiten - auch im (ersten) Bericht der
psychiatrischen Dienste Z.________ vom 6. Oktober 2010 - ausschliesslich auf
die angestammte Tätigkeit. Eine Erklärung, weshalb eine mittelgradige
depressive Episode (ICD-10 F32.1) längerfristig invalidisierend sein soll,
nachdem sie in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10
Kapitel V (F) als einzelne depressive Episode beschrieben wird, erbringen die
psychiatrischen Dienste Z.________ nicht. Die von der Klinik V.________ am 13.
November 2009 attestierte 50 %-ige Arbeitsunfähigkeit war auf Ende November
2009 befristet.

2.5 Die Berechnung des Invaliditätsgrads blieb zu Recht unbestritten.

3.
Zusammengefasst erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. Oktober 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Scartazzini