Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 398/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_398/2012

Urteil vom 27. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
R.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gian Sandro Genna,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 26.
März 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1960 geborene R.________, Mutter dreier erwachsener Kinder (geboren 1986,
1987 und 1992), meldete sich im April 2008 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens
verneinte die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 18. Juli 2011 einen Anspruch auf
Invalidenleistungen mangels eines invalidisierenden Gesundheitsschadens.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die von R.________ erhobene
Beschwerde teilweise gut und hob die Verfügung vom 18. Juli 2011 insoweit auf,
als damit der Anspruch auf Berufsberatung verneint wurde; diesbezüglich wies es
die Sache an die IV-Stelle zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab
(Entscheid vom 26. März 2012).

C.
R.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der Entscheid vom 26. März 2012 sei soweit angefochten
aufzuheben und ihr seien eine Rente der Invalidenversicherung auszurichten
sowie Arbeitsvermittlung und Umschulung zu gewähren; eventualiter sei die Sache
zu neuer Sachverhaltsabklärung und neuem Entscheid an die Vorinstanz resp. an
die IV-Stelle zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat in Bezug auf den medizinischen Sachverhalt dem
interdisziplinären Gutachten des Zentrums Y.________ vom 8. Juli 2010
Beweiskraft beigemessen. Gestützt darauf und unter Verweis auf die Berichte des
Spitals X.________, Poliklinik für Fusschirurgie, vom 31. März und 8. Juli 2008
hat sie in somatischer Hinsicht für angepasste Tätigkeiten (d.h. körperlich
leichte, vorwiegend sitzende Tätigkeit, ohne Heben/Tragen/Verschieben von
Lasten über fünf bis zehn Kilo, ohne Begehen von unebenem Gelände) eine
uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit ab Juni 2008 festgestellt. Hinsichtlich des
psychischen Gesundheitszustandes hat sie indessen eine invalidisierende
Arbeitsunfähigkeit verneint. Sie ist der Auffassung, auf die vom Zentrum
Y.________ diagnostizierte Konversionsstörung sei die zu somatoformen
Schmerzstörungen entwickelte Rechtsprechung (vgl. E. 3.1) analog anwendbar.
Diesbezüglich hat sie festgestellt, es beständen keine chronischen körperlichen
Begleiterkrankungen; ein mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit
unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne länger dauernde Rückbildung
sei nicht gegeben; ein sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens sei nicht
ausgewiesen; das psychosoziale Umfeld sei nach wie vor intakt; ein primärer
Krankheitsgewinn werde nicht erwähnt; schliesslich sei auch das Kriterium einer
gescheiterten, konsequent durchgeführten ambulanten oder stationären Behandlung
nicht erfüllt, zumal die Gutachter medizinische Massnahmen empfohlen hätten.
Das kantonale Gericht hat für die Versicherte einen Status von 80 %
Erwerbstätigkeit und 20 % Tätigkeit im Haushalt festgelegt (vgl. BGE 130 V 393
E. 3.3 S. 396; Urteil 9C_150/2012 vom 30. August 2012 E. 3.2.1 mit weiteren
Hinweisen) und folglich die Invalidität nach der gemischten Methode bemessen
(vgl. Art. 28a Abs. 3 IVG; BGE 130 V 393 E. 3.3 S. 396; Urteil 9C_406/2011 vom
9. Juli 2012 E. 5.2). Im erwerblichen Bereich hat es einen Invaliditätsgrad von
17,2 % (vgl. Art. 16 ATSG) resp. bei einer Gewichtung entsprechend dem Status
von (aufgerundet) 14 % ermittelt. Im Haushaltsbereich seien sämtliche
Tätigkeiten medizinisch zu mindestens 60 % zumutbar, zudem müsse die
Versicherte die Arbeit einteilen und die Mithilfe ihres Ehemannes und der
zuhause lebenden Kinder in Anspruch nehmen. Selbst bei einer - im konkreten
Fall nicht zutreffenden - maximalen Einschränkung von 40 % resultiere höchstens
ein gewichteter Invaliditätsgrad von 8 %. Insgesamt ergebe sich daraus ein
maximaler Invaliditätsgrad von 22 %.
Ausgehend von diesen Ergebnissen hat die Vorinstanz einen Rentenanspruch (Art.
28 Abs. 2 IVG) verneint. Weiter hat sie einen Anspruch auf Arbeitsvermittlung
(Art. 18 Abs. 1 IVG) verneint, weil für leidensangepassten Tätigkeiten eine
vollständige Arbeitsfähigkeit ohne zusätzliche Einschränkungen bestehe (AHI
2003 S. 268, I 421/01 E. 2c und d). Auch ein Anspruch auf Umschulung (Art. 17
Abs. 1 IVG) bestehe nicht: Dafür betrage der Richtwert der Einschränkung 20 % (
BGE 130 V 488 E. 4.2 S. 490); dieser sei hier nicht erreicht. Indessen hat sie
infolge der Behinderung in der bisherigen Tätigkeit einen Anspruch der
Versicherten auf Berufsberatung (Art. 15 IVG) bejaht.

3.
3.1 Somatoforme Schmerzstörungen und ähnliche aetiologisch-pathogenetisch
unerklärliche syndromale Leidenszustände vermögen in der Regel keine lang
dauernde, zu einer Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG führende
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu bewirken (BGE 136 V 279 E. 3 S. 280 ff.;
130 V 352 E. 2.2.2 und 2.2.3 S. 353 f.; 132 V 65; 131 V 49; 130 V 396). Die -
nur in Ausnahmefällen anzunehmende - Unzumutbarkeit eines Wiedereinstiegs in
den Arbeitsprozess setzt das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch
ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und
Dauer oder aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser
Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien wie chronische körperliche
Begleiterkrankungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder
progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, ein ausgewiesener
sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens, ein verfestigter, therapeutisch
nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten,
psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn)
oder schliesslich unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent
durchgeführter Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem
therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei
vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person voraus (BGE
130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f.). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je
ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind die
Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen (BGE 131 V
49 E. 1.2 S. 50 f. mit Hinweisen). Diese Grundsätze gelten auch für die
Beurteilung der invalidisierenden Wirkung einer Konversions- resp.
dissoziativen Störung (BGE 137 V 64 E. 4.2 S. 68; SVR 2007 IV Nr. 45 S. 150, I
9/07 E. 4 am Ende; Urteil 9C_905/2011 vom 24. August 2012 E. 3; vgl. auch
Urteil I 767/03 vom 9. August 2004 E. 3.2 und 3.2).

3.2 Die ärztlichen Stellungnahmen zum psychischen Gesundheitszustand und zu dem
aus medizinischer Sicht (objektiv) vorhandenen Leistungspotential bilden
unabdingbare Grundlage für die Beurteilung der Rechtsfrage (vgl. SVR 2012 IV
Nr. 32 S. 127, 9C_776/2010 E. 2.4), ob und gegebenenfalls inwieweit einer
versicherten Person unter Aufbringung allen guten Willens die Verwertung ihrer
verbleibenden Arbeitskraft zumutbar ist. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung
(Art. 61 lit. c ATSG) darf sich dabei die Verwaltung - und im Streitfall das
Gericht - weder über die (den beweisrechtlichen Anforderungen [BGE 125 V 351 E.
3a S. 352] genügenden) medizinischen Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch
sich die ärztlichen Einschätzungen und Schlussfolgerungen zur (Rest-)
Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten sozialversicherungsrechtlichen
Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Letzteres gilt namentlich dann, wenn
die begutachtende Fachperson allein aufgrund der Diagnose einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung oder eines vergleichbaren Leidens eine
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert. Die rechtsanwendenden Behörden
haben diesfalls mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob die ärztliche
Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auch invaliditätsfremde Gesichtspunkte
(insbesondere psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren) mit
berücksichtigt, welche vom sozialversicherungsrechtlichen Standpunkt aus
unbeachtlich sind (vgl. BGE 127 V 294 E. 5a S. 299; AHI 2000 S. 149, I 554/98
E. 3), und ob die von den Ärzten anerkannte (Teil-)Arbeitsunfähigkeit auch im
Lichte der massgebenden rechtlichen Kriterien standhält (BGE 130 V 352 E. 2.2.5
S. 355 f.).

4.
4.1 Aus den medizinischen Unterlagen geht hervor, dass der Gesundheitszustand
der Versicherten in erster Linie geprägt ist durch ein syndromales
Schmerzleiden ohne hinreichende organische Grundlage. Dieses mündete im
Gutachten des Zentrums Y.________ in die Diagnosen einer Konversionsstörung,
eines chronischen Schmerzsyndroms am linken Sprunggelenk und eines
lumbovertebralen Schmerzsyndroms infolge chronischer Fehlbelastung der unteren
Extremitäten. Es fehlen Anhaltspunkte dafür, dass es sich hierbei um
verselbstständigte, unabhängig voneinander bestehende Krankheiten handeln
könnte. Die Experten des Zentrums Y.________ konnten keine weitere Diagnose mit
Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit stellen. Damit steht fest, dass das
kantonale Gericht für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zu Recht nicht auf
die Einschätzung der Gutachter - wonach die Versicherte zu 40 % eingeschränkt
sei - abgestellt (E. 3.2), sondern auf die Rechtsprechung zu somatoformen
Schmerzstörungen und ähnlichen Leidenszuständen (E. 3.1) verwiesen hat. Die
vorinstanzlichen Feststellungen zu den Morbiditätskriterien sind nicht
offensichtlich unrichtig (E. 1), was denn auch nicht geltend gemacht wird.
Insbesondere liegt mit den Befunden und Beschwerden am Sprunggelenk, dem
ebenfalls diagnostizierten Pseudotumor cerebri oder den Schmerzsyndromen (vgl.
Urteil 9C_709/2009 vom 14. Dezember 2009 E. 4.1.4 in fine) keine körperliche
Begleiterkrankung von erheblicher Schwere, Intensität und Ausprägung vor,
bestehen doch diesbezüglich keine Einschränkungen für angepasste Tätigkeiten.
Anhaltspunkte für eine psychische Komorbidität fehlen und werden auch nicht
vorgebracht. Selbst wenn von einer Chronifizierung des Leidens auszugehen ist,
kann nicht von einer erfolglosen Ausschöpfung der therapeutischen Möglichkeiten
gesprochen werden: So ist etwa eine fachspezifische psychiatrische oder
psychotherapeutische Behandlung, wie sie von den Experten empfohlen wurde,
nicht aktenkundig. Nach dem Gesagten bleiben die vorinstanzlichen
Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit für das Bundesgericht
verbindlich.

4.2 In Bezug auf dieses Ergebnis wird die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung
nicht beanstandet. Die Beschwerdeführerin legt insbesondere nicht dar,
inwiefern die Feststellungen betreffend den Status offensichtlich unrichtig
sein oder auf einer Rechtsverletzung beruhen sollen (E. 1). Ebenso ist nicht
nachvollziehbar, weshalb der Verzicht auf eine Haushaltabklärung nicht in
zulässiger antizipierender Beweiswürdigung (vgl. BGE 137 V 64 E. 5.2 S. 69; 136
I 229 E. 5.3 S. 236; Urteil 8C_682/2011 E. 3.2.4) erfolgt sein soll oder auch
nur für den Ausgang des Verfahrens entscheidend (E. 1) sein könnte.

4.3 Die Umschulung gemäss Art. 17 IVG ist eine Massnahme beruflicher Art. Für
die Beurteilung des Anspruchs, resp. die Beantwortung der Frage, ob der
Richtwert einer Einschränkung von rund 20 % (BGE 124 V 108 E. 3 S. 111; 130 V
488 E. 4.2 S. 490; Urteil 9C_762/2011 vom 7. Dezember 2011 E. 2) erreicht sei,
kann konsequenterweise nicht der insgesamt aus der gemischten Methode
resultierende Invaliditätsgrad, sondern nur jener des Erwerbsbereichs
herangezogen werden; die allfällige Durchführung einer Massnahme könnte sich
denn auch nur in diesem Bereich auswirken. Bei einem massgeblichen
Invaliditätsgrad von 17,2 % (ungewichtet) resp. 13,76 % (gewichtet) hat die
Vorinstanz zu Recht einen Umschulungsanspruch verneint.

4.4 Was den ebenfalls behaupteten Anspruch auf Arbeitsvermittlung anbelangt,
macht die Beschwerdeführerin keine Ausführungen. Darauf ist nicht einzugehen
(vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Die Beschwerde ist auch diesbezüglich
unbegründet.

5.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. September 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Dormann