Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 397/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_397/2012

Urteil vom 30. Oktober 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
Y.________,
vertreten durch AXA-ARAG Rechtsschutz AG, Rechtsdienst, Birmensdorferstrasse
108, 8003 Zürich,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 16. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Nachdem er ab 8. Juli 1998 krankgeschrieben worden war, meldete sich Y.________
im Januar 1999 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit
Verfügung vom 8. November 1999 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
eine ganze Invalidenrente - nebst Zusatzrenten für die Ehefrau und zwei Kinder
- ab 1. Juli 1999 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % zu. In den Jahren 2002
und 2005 bestätigte sie einen unveränderten Invaliditätsgrad und
Rentenanspruch. Die infolge Umzugs des Versicherten nunmehr zuständige
IV-Stelle des Kantons Zürich leitete im September 2009 ein weiteres
Revisionsverfahren ein. Nach Abklärungen und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens ermittelte die IV-Stelle unter Hinweis auf einen
verbesserten Gesundheitszustand einen Invaliditätsgrad von 25 % und hob die
Rente mit Verfügung vom 19. August 2010 auf das Ende des der Zustellung
folgenden Monats auf.

B.
Die Beschwerde des Y.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 16. März 2012 ab mit der substituierten Begründung,
die ursprüngliche Rentenzusprache sei zweifellos unrichtig gewesen.

C.
Y.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der Entscheid vom 16. März 2012 und die Verfügung vom 19.
August 2010 seien aufzuheben und es sei ihm weiterhin eine ganze Invalidenrente
auszurichten.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Frage nach einer seit der ursprünglichen
Rentenzusprache eingetretenen Verbesserung des Gesundheitszustandes
offengelassen. Es ist der Auffassung, die Verfügung vom 8. November 1999 sei im
Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG in Wiedererwägung zu ziehen. Weil die
Anspruchsberechtigung nach Lage der Akten auch pro futuro zu verneinen sei, hat
es die Rentenaufhebung bestätigt.

Streitig und zu prüfen ist einzig die Frage, ob die ursprüngliche
Rentenzusprache zweifellos unrichtig erfolgte.

3.
3.1
3.1.1 Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG (SR 830.1) in Verbindung mit Art. 2 ATSG und
Art. 1 Abs. 1 IVG kann die IV-Stelle jederzeit auf formell rechtskräftige
Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos
unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Mit
der gleichen Begründung kann die Beschwerdeinstanz die zunächst auf Art. 17
ATSG gestützte Rentenaufhebung schützen (SVR 2011 IV Nr. 20 S. 53, 9C_303/
2010).
3.1.2 Die Wiedererwägung im Sinne dieser Bestimmung dient der Korrektur einer
anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung
im Sinne der Würdigung des Sachverhalts (BGE 117 V 8 E. 2c S. 17 mit Hinweis;
Urteile 9C_290/2009 vom 25. September 2009 E. 3.1.3; 9C_215/2007 vom 2. Juli
2007 E. 3.1). Darunter fällt insbesondere eine unvollständige
Sachverhaltsabklärung aufgrund einer klaren Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG und Art. 61 lit. c ATSG;
Urteile 9C_877/2011 vom 22. Mai 2012 E. 3.1; 9C_466/2010 vom 23. August 2010 E.
3.2.2). Eine auf keiner nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung der
massgeblichen Arbeitsfähigkeit beruhende Invaliditätsbemessung ist nicht
rechtskonform und die entsprechende Verfügung zweifellos unrichtig im
wiedererwägungsrechtlichen Sinne (Urteil 9C_290/2009 vom 25. September 2009 E.
3.1.3 mit Hinweisen). Erscheint die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen
vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der
rechtskräftigen Leistungszusprechung darboten, als vertretbar, scheidet die
Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (Plädoyer 2011/1 S. 65, 9C_760/2010 E. 2
mit Hinweisen).

3.2 Ob die Verwaltung bei der Rentenzusprache den Untersuchungsgrundsatz (vgl.
Art. 43 Abs. 1 ATSG; BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f.; zur Rechtslage vor
Inkrafttreten des ATSG vgl. SVR 2006 IV Nr. 10 S. 38, I 457/04 E. 2.2 und 4.1)
und andere bundesrechtliche Vorschriften beachtet hat, ist frei überprüfbare
Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteile 9C_466/2010 vom 23.
August 2010 E. 3.2.2; 9C_941/2008 vom 18. Februar 2009 E. 3.2).
3.3
3.3.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, die IV-Stelle St. Gallen sei gestützt
auf die Beurteilung des Dr. med. E.________ (Berichte vom 8. Dezember 1998 und
30. April 1999) - der im Medizinalberuferegister des Bundesamtes für Gesundheit
ohne fachärztliche Qualifikation aufgeführt wird (http://www.medregom.admin.ch
/) - von einem chronischen Zervikovertebralsyndrom, einer reaktiven depressiven
Entwicklung sowie einem möglicherweise bestehenden leichten
Sulcus-ulnaris-Syndrom und einer darauf beruhenden vollständigen
Arbeitsunfähigkeit ausgegangen. Dr. med. E.________ habe die bescheinigte
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit nicht mit funktionellen Defiziten, sondern
(in erster Linie) mit den entsprechenden Angaben des Versicherten begründet.
Die im Rahmen eines vierwöchigen Aufenthaltes in der Klinik V.________
durchgeführte Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit habe indessen
eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit ergeben
(Bericht vom 3. März 1999). Der Beschwerdeführer habe Dr. med. E.________ nach
dem Klinikaustritt im Hinblick auf die Bescheinigung einer 100-prozentigen
Arbeitsunfähigkeit konsultiert. Die IV-Stelle habe auf die Einschätzung des Dr.
med. E.________ nicht deshalb abgestellt, weil sie materiell überzeugender
erschienen wäre, sondern weil der Arzt und der Versicherte gleicher
Muttersprache seien.
3.3.2 Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich
unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und
augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Eine offensichtlich
unrichtige Sachverhaltsfeststellung weist damit die Tragweite von Willkür auf
(Botschaft des Bundesrates vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der
Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4338; MARKUS SCHOTT, Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 9 f. zu Art. 97 BGG). Es liegt noch
keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls
in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (Urteile
9C_222/2012 vom 12. September 2012 E. 5.1.1; 9C_570/2007 vom 5. März 2008 E.
4.2).
3.3.3 Den Berichten des Dr. med. E.________ sind vorwiegend subjektive Angaben
zu entnehmen. Selbst unter dem Titel "Befunde" verwies er auf subjektive
Schmerzen, dadurch eingeschränkte Beweglichkeit und auf "umschriebene"
Hypalgesie und Hypästhesie. Auch wenn er objektivierbare Befunde erheben
konnte, legte er nicht nachvollziehbar dar, inwiefern diese eine vollständige
Arbeitsunfähigkeit hätten bewirken sollen. Dass in der Klinik V.________
gewisse Tests aufgrund subjektiver Schmerzangaben abgebrochen wurden, schliesst
nicht aus, dass die Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit lege artis
durchgeführt und die Arbeitsfähigkeit zuverlässig eingeschätzt werden konnte,
zumal sich der Versicherte dort während vier Wochen stationär aufhielt. In
einer kurzen Stellungnahme vom 11. Mai 1999 wies der IV-Arzt zwar in
allgemeiner Weise darauf hin, dass Schmerzen einen hindern könnten,
Konstanz-Tests korrekt zu absolvieren; daneben beschränkte er sich aber darauf,
auf die Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Klinik V.________ und jener
des Dr. med. E.________ zu verweisen. Dessen Auffassung folgte er schliesslich
unter zweimaligem Hinweis auf die türkische Sprache. Unter diesen Umständen
kann nicht von offensichtlicher Unrichtigkeit der vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen gesprochen werden.
3.3.4 Die vorinstanzlichen Feststellungen beruhen auch nicht auf einer
Rechtsverletzung. Sie bleiben daher für das Bundesgericht verbindlich (E. 1).

3.4 Zwar ist dem Beschwerdeführer - in Übereinstimmung mit Dr. med. A.________
(Bericht vom 16. April 2010) - beizupflichten, dass nach der Rechtspraxis im
Zeitpunkt der Rentenzusprache (vgl. E. 3.1.2) ein Schmerzleiden ohne
entsprechendes organisches Korrelat nicht, wie später mit dem Leitentscheid BGE
130 V 352 entschieden, nur ausnahmsweise einen Rentenanspruch begründen konnte.
Indessen war auch damals der Untersuchungsgrundsatz zu befolgen und demnach
aktenmässig eine genügende Grundlage erforderlich. Diese war im konkreten Fall
nicht gegeben: Der Versicherte hat zutreffend erkannt, dass im Wesentlichen die
beiden divergierenden Einschätzungen der Klinik V.________ einerseits und des
Dr. med. E.________ anderseits vorlagen. Diese ist nicht überzeugend und wurde
ohne sachliche Begründung übernommen (E. 3.3.1 und 3.3.4). Dessen Bericht vom
30. April 1999 fehlt zudem auch insofern die erforderliche Beweiskraft (vgl.
BGE 125 V 351 E. 3a S. 352), als er, der sich als "Arzt für Neurologie"
bezeichnet, darin eine reaktive depressive Entwicklung diagnostizierte. In
diesem Zusammenhang hielt er "stützende Gespräche in türkischer Sprache und
evtl. [...] eine medikamentöse antidepressive Therapie" für angezeigt und eine
Remission der "Symptome der Depression" für möglich; er wies explizit darauf
hin, dass diesfalls "evtl. eine 50%ige Arbeitsfähigkeit für leichtere
körperliche Tätigkeiten" bestünde. Der Bericht bildet demnach keine genügende
Grundlage für die Annahme einer lang andauernden (vgl. Art. 29 Abs. 1 lit. b
IVG in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung; heute Art. 28 Abs. 1 lit b
IVG), vollständigen Arbeitsunfähigkeit.

Der hier zu beurteilende Sachverhalt ist auch nicht vergleichbar mit jenem im
vom Beschwerdeführer zitierten Fall 9C_994/2010 vom 12. April 2011 (SVR 2011 IV
Nr. 71 S. 213 E. 3.2.2), wo ernsthafte Eingliederungsbemühungen fehlschlugen
und die Rentenzusprache insbesondere (auch) auf den Erkenntnissen aus einem
dreimonatigen stationären Aufenthalt zwecks kombinierter Abklärung von
Belastbarkeit, Eingliederbarkeit, Leistungsfähigkeit und Verhalten beruhte. Im
vorliegenden Fall konnte anlässlich eines zwar kürzeren, doch im Wesentlichen
vergleichbaren Aufenthalts gerade keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
festgestellt werden. Nach dem Gesagten ist die Verfügung vom 8. November 1999
zweifellos unrichtig und eine Rechtsverletzung bei der Anwendung von Art. 53
Abs. 2 ATSG nicht erkennbar. Die Beschwerde ist unbegründet.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. Oktober 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Dormann